E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Arendt Vom Leben des Geistes
24001. Auflage 2024
ISBN: 978-3-492-95880-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Denken - Das Wollen - Herausgegeben von Mary McCarthy
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-492-95880-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.
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1 Die Welt als Erscheinung
Die Welt, in die die Menschen hineingeboren werden, enthält viele Gegenstände, natürliche und künstliche, lebende und unbelebte, vergängliche und dauernde, und alle haben sie dies gemeinsam, daß sie erscheinen, daß sie also gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt, gerochen werden sollen von empfindenden Wesen mit den entsprechenden Sinnesorganen. Nichts könnte erscheinen, das Wort »Erscheinung« wäre sinnlos, wenn es keine Wesen gäbe, denen etwas erscheint – lebendige Wesen, die anerkennen, erkennen und reagieren können – mit Flucht oder Begehren, Zustimmung oder Ablehnung, Tadel oder Lob – auf das, was nicht nur da ist, sondern ihnen erscheint und von ihnen wahrgenommen werden soll. In dieser Welt, in die wir aus dem Nirgends eintreten und aus der wir wieder ins Nirgends verschwinden, ist Sein und Erscheinen dasselbe. Die tote Materie, sei sie natürlich oder künstlich, veränderlich oder unveränderlich, ist zu ihrem Sein, also ihrer Erscheinungshaftigkeit, auf die Existenz lebender Wesen angewiesen. Es gibt in dieser Welt nichts und niemanden, dessen bloßes Sein nicht einen Zuschauer voraussetzte. Mit anderen Worten, kein Seiendes, sofern es erscheint, existiert für sich allein; jedes Seiende soll von jemandem wahrgenommen werden. Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.
Da die empfindenden Wesen – Menschen und Tiere, denen die Dinge erscheinen und die als Wahrnehmende deren Wirklichkeit verbürgen – selbst ebenfalls Erscheinungen sind, darauf angelegt und befähigt, zu sehen und gesehen zu werden, zu hören und gehört zu werden, zu fühlen und gefühlt zu werden, so sind sie niemals bloße Subjekte und niemals als solche zu verstehen; sie sind nicht weniger »objektiv« als Steine und Brücken. Die Welthaftigkeit der Lebewesen bedeutet, daß kein Subjekt nicht auch Objekt ist und als solches einem anderen erscheint, das seine »objektive« Wirklichkeit gewährleistet. Was man gewöhnlich das »Bewußtsein« nennt – die Tatsache, daß ich meiner gewahr bin und daher in gewissem Sinne mir selbst erscheinen kann –, könnte nie Wirklichkeit gewährleisten. (Descartes’ »Cogito me cogitare, ergo sum« ist einfach deshalb nicht schlüssig, weil diese res cogitans überhaupt nicht erscheint, wenn sich ihre cogitationes nicht in gesprochener oder geschriebener Sprache äußern, die bereits auf Hörer und Leser hinorientiert ist und sie voraussetzt.) Von der Welt her gesehen, ist jedes Wesen, das in sie hineingeboren wird, von Anfang an wohlgerüstet für eine Welt, in der Sein und Erscheinen dasselbe ist; es ist für eine welthafte Existenz gerüstet. Die Lebewesen, die Menschen und Tiere, sind nicht bloß in der Welt, sie sind von dieser Welt, und zwar aus keinem anderen Grund, als daß sie Subjekte und Objekte – Wahrnehmende und Wahrgenommene – zugleich sind.
Nichts in dieser unserer Welt ist vielleicht eine größere Überraschung als die schier unendliche Vielfalt ihrer Erscheinungen, allein schon das Lustspendende ihrer Anblicke, Laute, Gerüche – und das wird von den Denkern und Philosophen kaum einmal erwähnt. (Nur Aristoteles zählte das Leben der passiven Hingabe an die von unseren Körperorganen vermittelten Freuden wenigstens am Rande zu den drei Lebensformen, zwischen denen wählen kann, wer nicht der Notwendigkeit unterworfen ist, sondern sich dem kalón widmen kann, dem Schönen im Gegensatz zum Notwendigen und Nützlichen[31].) Dieser Vielfalt entspricht eine ebenso erstaunliche Vielfalt der Sinnesorgane bei den Tierarten, so daß das, was den Lebewesen tatsächlich erscheint, nach Form und Gestalt äußerst verschiedenartig ist: jede Spezies lebt in ihrer eigenen Welt. Doch allen mit Sinnen begabten Geschöpfen ist die Erscheinung als solche gemeinsam: erstens eine erscheinende Welt, und zweitens die – womöglich noch wichtigere – Tatsache, daß sie selbst erscheinende und verschwindende Wesen sind, daß es vor ihrer Ankunft schon immer eine Welt gegeben hat und nach ihrem Abtreten immer eine geben wird.
Leben heißt in einer Welt leben, die schon vor einem da war und nachher weiter da sein wird. Auf dieser Ebene des simplen Lebendigseins sind Entstehen und Vergehen in ihrer Abfolge die Urereignisse, die als solche die Zeit, die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod abstecken. Die endliche Lebensspanne, die jedem Geschöpf gegeben ist, bestimmt nicht nur seine Lebenserwartung, sondern auch seine Zeiterfahrung; sie ist das geheime Urbild aller Zeitmessungen, wie weit diese auch in Vergangenheit und Zukunft über die verliehene Lebensspanne hinausreichen mögen. So verändert sich die erlebte Länge eines Jahres im Laufe unseres Lebens grundlegend. Dem Fünfjährigen, für den ein Jahr ein volles Fünftel seines Daseins ausmacht, muß es viel länger erscheinen, als wenn es nur ein Zwanzigstel oder Dreißigstel des Erdenlebens bildet. Wir alle wissen, wie die Jahre rascher und rascher dahineilen, wenn wir älter werden, bis sie schließlich im Alter wieder langsamer dahinziehen, weil wir sie vor dem psychisch und physisch sich abzeichnenden Zeitpunkt unseres Hingangs zu sehen beginnen. Dieser inneren Uhr der Lebewesen, die Geburt und Tod unterliegen, steht die »objektive« Zeit gegenüber, nach der die Länge eines Jahres immer die gleiche ist. Dies ist die Weltzeit, und ihr liegt die – von allen religiösen und wissenschaftlichen Vorstellungen unabhängige – Anschauung zugrunde, die Welt habe weder Anfang noch Ende – eine Anschauung, die nur natürlich sein dürfte für Wesen, die stets in eine Welt eintreten, die schon vor ihnen da war und nach ihnen weiter da sein wird.
Im Gegensatz zu dem anorganischen Dasein der unbelebten Materie sind die Lebewesen keine bloßen Erscheinungen. Leben heißt von einem Drang zur Selbstdarstellung beherrscht sein, der Reaktion auf die eigene Erscheinungshaftigkeit. Lebewesen haben ihren Auftritt wie Schauspieler auf einer für sie aufgebauten Bühne. Die Bühne ist für alle Lebenden dieselbe, doch sie scheint jeder Spezies anders zu sein, und auch jedem Individuum. Das So-Scheinen – dokei moi, es scheint mir so – ist die Art – vielleicht die einzig mögliche –, wie eine erscheinende Welt anerkannt und wahrgenommen wird. Erscheinen heißt stets: anderen so und so scheinen, und dieses Scheinen verändert sich mit dem Standpunkt und der Perspektive der Schauenden. Mit anderen Worten, jedes Erscheinende erhält kraft seiner Erscheinungshaftigkeit eine Art Schleier, der es durchaus verbergen oder entstellen kann, aber nicht muß. Das Scheinen gehört zu der Tatsache, daß jede Erscheinung unbeschadet ihrer Identität von vielen Schauenden wahrgenommen wird.
Der Drang zur Selbstdarstellung – man reagiert mit Zeigen auf die übermächtige Wirkung des Gezeigtwerdens – scheint Menschen und Tieren gemeinsam zu sein. Und genau wie der Schauspieler für seinen Auftritt auf die Bühne, seine Kollegen und die Zuschauer angewiesen ist, so ist jedes Lebewesen auf eine Welt angewiesen, die verläßlich als der Ort seines Auftretens erscheint, auf andere Lebewesen als Spielgefährten und auf Zuschauer, die seine Existenz anerkennen und erkennen. Von den Zuschauern her gesehen, vor denen jedes einzelne Leben auftritt und aus deren Augen es schließlich wieder verschwindet, ist es mit seinem Aufstieg und Abstieg ein Entwicklungsvorgang, in dem sich ein Wesen in einer Aufwärtsbewegung entfaltet, bis alle seine Eigenschaften zur Gänze sichtbar geworden sind; darauf folgt eine Periode des Stillstands – die Blütezeit oder Epiphanie, wenn man so will –, die wiederum abgelöst wird von Abstieg und Auflösung, die in der völligen Auslöschung endet. Diesen Vorgang kann man unter vielen Gesichtspunkten sehen, untersuchen und verstehen, doch unser Kriterium dafür, was ein Lebewesen im Grunde ist, bleibt dasselbe: Im Alltagsleben wie in der Wissenschaft ist es bestimmt durch die verhältnismäßig kurze Spanne seiner vollständigen Erscheinung, seiner Epiphanie. Diese Entscheidung, die allein von den Kriterien der Vollständigkeit und der Vollkommenheit in der Erscheinung geleitet ist, wäre völlig willkürlich, wenn die Wirklichkeit nicht zuallererst erscheinungshaft wäre.
Der Primat der Erscheinung für alle Lebewesen, denen die Welt in der Weise des Es-scheint-mir erscheint, ist von großer Bedeutung für den Gegenstand, mit dem wir uns beschäftigen wollen – die Geistestätigkeiten, durch die wir uns von anderen Arten unterscheiden. Sie weisen zwar große Unterschiede auf, doch allen gemeinsam...