E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Arendt / Ludz Menschen in finsteren Zeiten
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-96921-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-96921-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
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Die große Philosophin Hannah Arendt porträtiert Persönlichkeiten wie Rosa Luxemburg, Karl Jaspers, Bertolt Brecht, Walter Benjamin und Tania Blixen: »Gemeinsam ist allen das Zeitalter, in das ihre Lebenszeit fiel, die Welt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren politischen Katastrophen, moralischen Desastern und einer erstaunlichen Entwicklung von Kunst und Wissenschaft.«
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.
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Gedanken zu Lessing
Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten I
Die Auszeichnung, die eine freie Stadt verleiht, und ein Preis, der sich auf den Namen Lessings beruft, sind eine große Ehrung. Ich gebe zu, daß ich nicht weiß, wie ich dazu gekommen bin, und auch, daß es mir nicht ganz leicht gefallen ist, damit zu Rande zu kommen. Dabei darf ich von der heiklen Frage des Verdienstes ganz absehen. Gerade in dieser Hinsicht erteilt uns die Ehrung ja eine sehr eindringliche Lektion in Bescheidenheit, indem sie uns einfach die Kompetenz abspricht, über uns selbst und unsere eigenen Verdienste so urteilen zu können, wie wir über die Verdienste und Leistungen anderer Menschen urteilen. In der Ehrung meldet sich die Welt zu Wort, und wenn wir sie annehmen und für sie danken, so können wir es nur ohne alle Selbstreflexion im Rahmen unserer Haltung zur Welt, zu einer Welt und Öffentlichkeit nämlich, welcher wir den Raum verdanken, in den wir sprechen und in dem wir gehört werden. Aber die Ehrung mahnt uns nicht nur auf besondere, unüberhörbare Weise an die Dankbarkeit, die wir der Welt schulden; sie ist darüber hinaus in einem sehr hohen Maße weltverpflichtend, weil sie uns, da wir sie ja auch immer ablehnen können, in unserer Stellung zur Welt nicht nur bestärkt, sondern uns auch auf sie festlegt. Daß ein Mensch in der Öffentlichkeit überhaupt erscheint, daß die Öffentlichkeit ihn akzeptiert und bestätigt, ist keineswegs selbstverständlich. Nur das Genie wird von seiner Begabung selbst in die Öffentlichkeit gedrängt und braucht sich zu ihr nicht erst zu entschließen. In diesem einzigen Fall setzt die Ehrung dann den Einklang mit der Welt nur fort, läßt den Grundakkord nochmals in aller Öffentlichkeit erklingen, der unabhängig von Überlegungen und Entschlüssen, unabhängig auch von allen Verpflichtungen, gleichsam wie ein Naturphänomen bereits in die Menschengesellschaft geklungen ist. Hier gilt in der Tat, was Lessing einmal in zwei seiner schönsten Verszeilen über den genialen Mann gesagt hat:[1] Was ihn bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt. Sein glücklicher Geschmack ist der Geschmack der Welt. Nichts, scheint mir, ist in unserer Zeit fragwürdiger als unsere Haltung zur Welt, nichts weniger selbstverständlich als der Einklang mit der Öffentlichkeit, zu dem die Ehrung verpflichtet und den sie bestätigt. In unserem Jahrhundert hat selbst das Geniale sich nur im Widerspruch und Streit mit der Welt und ihrer Öffentlichkeit entfalten können, wiewohl es natürlich wie eh und je den ihm eigenen Einklang in die Menschengesellschaft findet. Aber die Welt und die Menschen, welche sie bewohnen, sind nicht dasselbe. Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahe-zu allen Ländern der Erde. Selbst wo die Welt noch halbwegs in Ordnung ist oder halbwegs in Ordnung gehalten wird, hat die Öffentlichkeit doch die Leuchtkraft verloren, die ursprünglich zu ihrem eigensten Wesen gehört. Mehr und mehr Menschen in den Ländern der westlichen Welt, die seit dem Untergang der Antike die Freiheit von Politik als eine der Grundfreiheiten begreift, machen von dieser Freiheit Gebrauch und haben sich von der Welt und den Verpflichtungen in ihr zurückgezogen. Dieser Rückzug aus der Welt braucht den Menschen nicht zu schaden, er kann sogar große Begabungen bis ins Genialische steigern und so auf Umwegen wieder der Welt zugute kommen. Nur tritt mit einem jeden solchen Rückzug ein beinahe nachweisbarer Weltverlust ein; was verlorengeht, ist der spezifische und meist unersetzliche Zwischenraum, der sich gerade zwischen diesem Menschen und seinen Mitmenschen gebildet hätte. Wenn man sich so überlegt, wie es denn eigentlich um Ehrungen und Preise der Öffentlichkeit unter den gegenwärtigen Weltumständen bestellt sei, kann man wohl auf den Gedanken kommen, der Hamburger Senat habe eine dem Ei des Kolumbus nicht unähnliche Lösung des Problems gefunden, als er beschloß, den Preis der Stadt gerade mit dem Namen Lessings zu verbinden. Denn Lessing hat den Einklang in die Welt und die Öffentlichkeit nie gefunden, wohl auch nie finden wollen, und hat sich doch auf seine Weise ihr immer verpflichtet gefühlt. Dabei waren besondere, einmalige Umstände mit im Spiel. Die deutsche Öffentlichkeit war auf ihn nicht vorbereitet und hat ihn, wohl auch zu Lebzeiten, nie geehrt. Ihm selbst fehlte, seinem eigenen Urteil zufolge, der glücklich-natürliche Einklang mit der Welt, die Verkettung von Verdienst und Glück, die er wie Goethe für das Zeichen des Genies hielt. Lessing glaubte, der Kritik etwas zu schulden, was »dem Genie sehr nahekommt«, was aber dennoch das natürliche Eingespieltsein mit der Welt, wo Fortuna lächelt, wenn Virtù sich zeigt, niemals erreicht. All das mag wichtig genug gewesen sein, war aber nicht ausschlaggebend. Man möchte meinen, er habe irgendwann einmal sich entschlossen, das Genie, den Mann des »glücklichen Geschmacks«, zwar zu bewundern, selbst aber denen nachzugehen, die er einmal halb ironisch die »Weltweisen« genannt hat, die »überall, wo sie ihre Augen hinfallen lassen, … die Stützen der bekanntesten Wahrheiten (erzittern)«[2] machen. Seine Haltung zur Welt war weder positiv noch negativ, sondern radikal kritisch und, was die Öffentlichkeit anlangte, durchaus revolutionär; aber sie blieb der Welt verpflichtet, verließ ihren Boden niemals und übersteigerte nichts in die Schwärmerei einer Utopie. Das Revolutionäre paarte sich bei Lessing mit einer eigentümlichen Parteiischkeit, die ihn mit einer manchmal fast übertrieben anmutenden Genauigkeit an das konkrete Detail band und die vielen Mißverständnissen ausgesetzt gewesen ist. Lessings Größe nämlich bestand unter anderem darin, daß er sich niemals von einer sogenannten Objektivität oder Sachlichkeit dazu verführen ließ, das eigentliche Weltverhältnis und den Weltstand der von ihm angegriffenen oder gepriesenen Sachen und Männer aus den Augen zu verlieren. Das ist ihm gerade in Deutschland schlecht genug bekommen, wo man noch weniger als anderswo begreifen mag, was Kritik ist, und daß Gerechtigkeit mit Objektivität im gewöhnlichen Verstande wenig zu tun hat. Lessing hat mit der Welt, in der er lebte, seinen Frieden nie gemacht. Sein Vergnügen war, »den Vorurteilen die Stirne zu bieten« und dem »vornehmen Hofpöbel … die Wahrheit zu sagen«; und wie teuer er für diese Vergnügungen bezahlt haben mag, es waren Vergnügungen im wörtlichen Sinne. Er selbst hat einmal – als er sich darüber Rechenschaft zu geben suchte, worin eigentlich die »tragische Lust« bestände – gesagt, daß »alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm« sind, weil »wir uns bei … (ihnen) eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind«[3]. Dieser Satz mahnt auf auffällige Weise an die griechische Affektenlehre, die den Zorn zum Beispiel unter die angenehmen Gemütsempfindungen rechnete, dafür aber die Hoffnung zusammen mit der Furcht als Übel verbuchte. Genau wie bei Lessing ist diese Unterscheidung an dem Grad der Realität orientiert, allerdings nicht in dem Sinne, daß die Realität an der Stärke gemessen würde, mit der der Affekt die Seele erschüttert, sondern daran, wie viel Wirklichkeit die Leidenschaft der Seele vermittelt. In der Hoffnung überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie in der Furcht sich vor ihr zurückzieht. Aber der Zorn, und vor allem der Lessingsche Zorn, stellt die Welt bloß, so wie das Lessingsche Lachen in der Minna von Barnhelm dazu anlocken will, sich mit der Welt zu versöhnen, in ihr einen Platz zu finden, aber lachend-ironisch, das heißt ohne sich ihr zu verschreiben. Das gesteigerte Realitätsbewußtsein, das als solches Lust ist, entstammt einer leidenschaftlichen Weltoffenheit und Weltliebe, die sich in der »tragischen Lust« nicht einmal dadurch beirren läßt, daß der Mensch an der Welt zugrunde geht. Wenn die Lessingsche Ästhetik im Gegensatz zu der des Aristoteles selbst die Furcht noch als eine Abart des Mitleids erkennen möchte, als das Mitleid, das wir mit uns selbst empfinden, so ist es, als sollte hier die Weltflucht der Furcht rückgängig gemacht werden, um auch sie noch als Leidenschaft zumindest zu retten, als einen Affekt nämlich, in dem wir von uns selbst so affiziert sind wie sonst von anderen Menschen in der Welt. Damit hängt aufs engste zusammen, daß für Lessing das Wesen der Poesie Handlung war (wie Haym richtig erkannte) und nicht, wie für Herder, eine Kraft – »die Zauberkraft, die auf meine Seele … wirkt« –, oder wie für Goethe eine gestaltete Natur. Ihm ging es gerade nicht um »die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst«, die Goethe für...