Anyuru | Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Anyuru Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-22029-7
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-22029-7
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Winternacht in Göteborg. Ein Anschlag auf einen Comicshop. Unter den Attentätern: ein junges Mädchen, die das Ganze filmen und später ins Internet stellen soll. Mitten im Angriff kommen ihr Zweifel. Auf einmal ist sie sich sicher, dass falsch ist, was sie tut. Zwei Jahre später, inzwischen untergebracht in der Psychiatrie, bittet sie um ein Treffen mit einem Schriftsteller, dessen Bücher sie gelesen hat. Ihm überreicht sie ein Manuskript, in dem sie eine düstere Zukunftsvision zeichnet. Was aber will sie ihm sagen? Was ist wirklich passiert? Der Schriftsteller macht sich auf die Suche nach Antworten, spricht mit Zeugen und Opfern des Attentats. Es ist die Suche nach Wahrheit, aber auch die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob man als Muslim noch in Schweden leben kann.

Dieses Buch hallt lange nach, weil es ein Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart ist, der sich jeglicher Vereinfachung entzieht, der simplen Parolen die Komplexität des Menschen gegenüberstellt. Ein wichtiges Buch. Eindringlich und poetisch. Hochaktuell und originell. Traurig und tröstlich zugleich.

Johannes Anyuru, geboren 1979, gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Schwedens. Er debütierte 2003 mit einer viel beachteten und hoch gerühmten Gedichtsammlung (Det är bara gudarna som är nya/Nur die Götter sind neu). Für seinen Debütroman 'Ein Sturm wehte vom Paradiese her', eine autobiografisch geprägte Annäherung an das Schicksal seines Vaters, bekam er zahlreiche Preise, er wurde für den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den Augustpreis, nominiert sowie für den Preis des Nordischen Rates. Ausgezeichnet wurde er mit den Literaturpreisen von Svenska Dagbladet und Aftonbladet, er stand auf Platz 1 der Kritikerliste von Dagens Nyheter und wurde in sieben Sprachen übersetzt. Für seinen zweiten Roman 'Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken' bekam er schließlich den Augustpreis sowie den Per-Olov-Enquist-Preis verliehen, das Buch wird in vierzehn Ländern erscheinen. Es stand monatelang auf der schwedischen Bestsellerliste, die Filmrechte sind verkauft.

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Es ist ihre erste Erinnerung: der Schnee, der in willkürlichen Schleiern auf die Krankenhaustrakte, den Parkplatz und die Pappeln, der auf die Bremsschwellen herabwirbelte. Davor: eigentlich nichts.


Sie sitzt still, mit geschlossenen Augen, während Amin mehrmals den Namen wiederholt, den er ihr gegeben hat. Nour. Erst als sie in seiner Stimme einen Anflug von Hysterie vernimmt, öffnet sie die Augen.

»Erinnerst du dich an etwas Neues?« Sein Gesicht ist ausgemergelt, der Mund angespannt, er sitzt neben ihr in Hamads weißem Opel, auf der Rückbank, die Schaumgummikrümel verliert, die an ihren Kleidern hängenbleiben.

Sie schüttelt den Kopf.

Hamad sagt etwas vom Fahrersitz aus, ermahnt sie zur Eile, und Amin befeuchtet seine Lippen und tippt mit zitternden Händen auf dem Mobiltelefon herum, das mit Klebeband an den Metallrohren ihres Gürtels befestigt ist. Sie bleibt vollkommen regungslos sitzen. Hinter der Glasscheibe taumeln vor der gelben Backsteinwand einzelne Schneeflocken herab. Wenn sie den vierziffrigen Code auf den Tasten eingibt, werden die Metallrohre explodieren und etwa so viele Nägel und Schrotkörner hinausschleudern, wie in zwei gewölbten Händen Platz finden, und die Druckwelle wird im Umkreis von fünf oder vielleicht auch zehn Metern die Knochen von Menschen brechen und ihre inneren Organe zerstören. Gleiches gilt, wenn jemand den Code in einer SMS an das Telefon sendet.

Sie steigen aus dem Auto. Hamad hat in einer Seitenstraße geparkt, wo sie von einem Müllcontainer verdeckt werden. Er hievt die große, schwarze Sporttasche aus dem Kofferraum. Die Kälte brennt auf ihren Wangen und Händen; um sich aufzuwärmen tritt sie ein wenig auf der Stelle.

Gemeinsam biegen sie auf die Kungsgatan und teilen sich im Samstagsgewimmel auf. Als sie sich nach ein paar Schritten umdreht, verharrt Amin mit den Händen in den Taschen vor einem Schaufenster und tut so, als schaute er sich Anzüge an.

Sie fühlt, dass sie miteinander verflochten sind.

Sie wünscht sich ein anderes Leben für sie beide.

Es ist der siebzehnte Februar, eine gute Stunde vor dem Terroranschlag auf den Comicladen Hondos.

Einmal ist sie kurz davor, auf die Straße zu treten und von einer Straßenbahn angefahren zu werden – eine Frau hält sie zurück, indem sie nach ihrem Mantel greift –, das Scheppern der Straßenbahn ist schrill und hohl, und sie bleibt im Schneematsch stehen, mit suchendem Blick in dem leichten Schneefall, der im dunkler werdenden Nachmittag hängt.

Wieder versucht sie, sich zu erinnern, wer sie ist, woher sie kommt, findet aber nur zu dem Zimmer im Krankenhaus zurück, als sie aufstand und sich auf den Infusionsständer gestützt an das Fenster stellte. Sie erinnert sich an die pfeifende Dünung der Pulsschläge hinter ihren Schläfen und die Kühle des Bodens unter den Fußsohlen.

Sie hat gelesen, dass der Schneeschauer, der an jenem Sommerabend über dem Krankenhausgelände aufzog, eine Folge der Umweltzerstörung war, oder von Wettermanipulationen des Militärs, oder auch, dass es gar kein Schnee war, was da fiel, sondern etwas, das aus einem Chemiewerk ausgetreten war.

Die Frau, die sie davon abgehalten hat, auf die Straße zu treten, berührt ihren Arm und sagt etwas, was sie nicht versteht, ihre Stimme ist flach und fern, und als sie nichts erwidert, geht die Frau davon. Noch eine Straßenbahn fährt vorbei, um sie herum überqueren Menschen den Zebrastreifen.

Immerhin glaubt sie zu wissen, dass sie hier herkommt. Aus Göteborg. Und ihre Mutter ist tot. Irgendwie gestorben. Wurde überfahren. Nein. Sie erinnert sich nicht. Ballt die Hände zu Fäusten, öffnet sie.

Eine einzige Handlung kann die Welt wecken.

Sie setzt sich erneut in Bewegung, verliert sich im Strom der Käufer und Jugendlichen in aufgeplusterten Winterjacken und der Paare mit Kinderwagen.

Vor den aufgestellten Türen des Comicladens flackert unruhig ein Festlicht in der Dämmerung, vor einem handgeschriebenen Schild:

Als sie unter die Lampen tritt, bricht ihr, wegen des Gedränges und des Wintermantels, der den Sprengstoffgürtel verbirgt, der Schweiß aus.

Und wegen dem, was nun näher rückt.

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, stöbert sie in einem Karton mit Comicheften, zieht eines heraus, blättert darin.

Eine einzige Handlung kann, wenn sie nur radikal genug, rein genug ist, mit den besitzlosen Massen der Welt kommunizieren, das Band zwischen dem Kalifat und fehlgeleiteten Muslimen erneuern, den Zustrom neuer Rekruten steigern und das Kriegsglück wenden.

Hamads Worte. Hamads Gedanken.

Sie blättert weiter.

In dem Comicheft ziehen nadelförmige Raumschiffe an Plantagen und Wolken aus brennendem Gas vorüber. Männer in unförmigen Raumanzügen wandeln in einer surrealistisch gefärbten Wüstenlandschaft. Sie wundert sich darüber, wie naiv die Bilder sind.

Es bringt sie, in sich gekehrt und grüblerisch, tatsächlich zum Lachen.

Sie fragt sich, ob die Rohrbomben durch ihre Körperwärme explodieren können.

Erstens. Sie weiß, dass sie Muslimin ist. Zweitens. Die Schweden haben Muslime in einer Art Lager getötet. Drittens. Ein Name, der nicht ihrer ist, aber irgendetwas bedeutet. Liat – jemand, den sie geliebt hat. Viertens. Die Schweden tun so, als herrschte Friede, als gäbe es die Todeslager gar nicht. Fünftens. Sie hat mit Amin über das alles geredet, hat versucht, Ordnung in das Ganze zu bringen.

Hamad kommt. Von der Straße wird durch die zufallende Tür ein wenig Schnee hereingeweht. Er und Amin haben sich am Vorabend die Bärte abrasiert, und wenn sie seine nackten Wangen sieht, muss sie unweigerlich an einen Vogelschädel denken – er sieht mager und brutal aus. Er trägt eine schwarze Steppjacke und eine blaue Kappe mit dem Emblem einer amerikanischen Eishockeymannschaft – ein Hai –, die er nun abzieht und in seine Tasche steckt. Er stellt sich in die Nähe der Kasse und legt die schwarze Sporttasche zu seinen Füßen ab.

Rund dreißig Personen halten sich zu diesem Zeitpunkt in dem Geschäft auf, sie stehen in Trauben zusammen oder sitzen auf Klappstühlen, die Jacken zu Bündeln gefaltet auf dem Schoß. Christian Hondo, dem das Geschäft gehört, ein langhaariger Mann in einem fadenscheinigen gelben T-Shirt, schaltet ein Mikrofon ein. Rückkoppelungswellen jaulen aus zwei aufgestellten Lautsprechern.

»Ich darf Sie ganz herzlich willkommen heißen.« Seine Stimme ist dumpf und polternd, als sie, verdoppelt, aus den Lautsprechern strömt.

Durch eine Tür hinter der Kasse tritt Göran Loberg ein. Das Publikum wendet sich ihm erwartungsvoll, nahezu andächtig zu.

Loberg ist älter als Hondo, etwa sechzig, schief und wettergegerbt. Sie meint, einen harten Zug um seinen Mund zu erkennen, Verachtung oder Wut. Wallendes, weißes Haar, kariertes Hemd. Er legt Notizblock und Stift auf die Tischplatte.

»Wir wollen heute über Ihr neuestes Projekt sprechen«, sagt Hondo, »bei dem es sich um ein Sammelalbum Ihres satirischen Comicstrips handelt, der wöchentlich im Internet erscheint und Karikaturen des Propheten Mohammed und andere, sagen wir … ketzerische Objekte enthält?«

Göran Loberg nickt und kratzt sich über die Bartstoppeln, seine ganze Erscheinung strahlt etwas Ungepflegtes aus, und ein wirres Desinteresse an sich selbst und seiner Umgebung. Sie steht am hinteren Ende des Geschäfts. Sie bekommt nicht alles mit, was die beiden sagen. Sie findet, dass es sich anhört, als befänden sie sich außerhalb des Raums, als gehörten ihre Stimmen und ihre Körper nicht zusammen. Umhertreibende Klänge.

Hondo steht auf und entrollt ein Plakat. Er hält es hoch, damit das Publikum es sehen kann.

Eine Gruppe von Männern mit Turbanen und krummen Nasen, die sich im Gebet vorneigen und denen Marschflugkörper in den After gesteckt werden.

Sie merkt, dass sie sich selbst von außen sieht wie in einem Traum.

Die Riemen des Sprengstoffgürtels spannen über dem Brustkorb.

Erstens. Sie erinnert sich nicht an ihren Namen. Zweitens. Sie erinnert sich nicht an ihre Eltern, hat aber Grund zu der Annahme, dass sie ermordet wurden. Drittens. Wenn sie sich im Spiegel sieht, hat sie das falsche Gesicht. Viertens. Es überkommt sie, genau jetzt, als sie hier steht und dieses Bild betrachtet, intensiv das Gefühl, dass sie hier schon einmal gewesen ist, dass dies eine Szene ist, in der ein wichtiges Ereignis, ein historisches Ereignis, wiedererschaffen wird.

Sie wirft einen Blick zur Seite und sieht, dass Amin hereingetreten ist und sich an die Eingangstür gestellt hat. Sein Gesicht ist schweißnass, obwohl er aus der Kälte kommt. Mehrere Besucher in dem Laden reagieren besorgt auf diesen vom Tode gezeichneten und elenden jungen Mann und flüstern sich etwas zu. Amin schaut verstohlen in ihre Richtung und tut so, als würde er sie nicht kennen.

Sie tritt zu ihm.

»Amin«, zischt sie. Er ignoriert sie und scheint nicht recht zu wissen, wie er reagieren soll: Der Plan lautete, sich in dem Geschäft zu verteilen und zu warten, bis möglichst viele Menschen beisammen sind. Unter gar keinen Umständen sollten sie miteinander sprechen.

»Amin. Amin.« Er sieht sie nicht einmal an. Sie greift nach seiner Hand, was er widerwillig zulässt. Sie flicht ihre Finger in seine, drückt sie. »Alles ist verkehrt.« Sie weiß nicht...


Berf, Paul
Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Anyuru, Johannes
Johannes Anyuru, geboren 1979, gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Schwedens. Er debütierte 2003 mit einer viel beachteten und hoch gerühmten Gedichtsammlung (Det är bara gudarna som är nya/Nur die Götter sind neu). Für seinen Debütroman "Ein Sturm wehte vom Paradiese her", eine autobiografisch geprägte Annäherung an das Schicksal seines Vaters, bekam er zahlreiche Preise, er wurde für den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den Augustpreis, nominiert sowie für den Preis des Nordischen Rates. Ausgezeichnet wurde er mit den Literaturpreisen von Svenska Dagbladet und Aftonbladet, er stand auf Platz 1 der Kritikerliste von Dagens Nyheter und wurde in sieben Sprachen übersetzt. Für seinen zweiten Roman "Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken" bekam er schließlich den Augustpreis sowie den Per-Olov-Enquist-Preis verliehen, das Buch wird in vierzehn Ländern erscheinen. Es stand monatelang auf der schwedischen Bestsellerliste, die Filmrechte sind verkauft.



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