E-Book, Deutsch, Band 2, 461 Seiten
Reihe: Kater Serrano ermittelt
Anlauff Katzenmond: Kater Serrano ermittelt - Band 2
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96148-056-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2, 461 Seiten
Reihe: Kater Serrano ermittelt
ISBN: 978-3-96148-056-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin studierte C. M. Anlauff Archäologie, Geschichte und Literaturwissenschaft in Berlin und Potsdam. 2005 erschien ihr Debüt, seitdem veröffentlichte sie neben Romanen auch Hörspiele und ein Theaterstück. Für ihren ersten Krimi 'Katzengold' wurde sie 2010 mit dem Deutschen Katzenkrimipreis ausgezeichnet. C. M. Anlauff lebt in Potsdam.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Serrano vermisste den September.
Es war sein Lieblingsmonat, was möglicherweise daran lag, dass er im September geboren worden war. An jenem Montag vor sechs Jahren, um das morgendliche Sechsuhrläuten herum, war ihm die Welt erstmals und darum umso eindrucksvoller in Form einer milchharten Zitze begegnet. Diese Zitze wiederum lag, auf Moos und Gras gebettet und von zwei Schuppen und einem Brennnesselfeld geschützt, mitten im Paradies. In den sechs Wochen, die Serrano dort zugebracht hatte, hatte es kein einziger Mensch betreten und auch sonst kein anderes Wesen, abgesehen von ein paar Insekten und einer Maus, die Serranos Mutter sich sofort einverleibt hatte. Jeden Abend sirrte die Luft vom Gezwitscher der Fledermäuse, und morgens beugten die Quecken, die jeden Zentimeter seiner Heimstatt bedeckten, sich unter der Last des Taus bis auf den Boden.
Vielleicht lag es daran, dass Serrano all das seitdem Jahr um Jahr herbeisehnte, den Tau, die Fledermäuse und die wehmütig an Mauern zerfließende Sonne. Die Wehmut schätzte er besonders, denn sie gab dem September einen Rahmen, der ihn gleichermaßen mit seiner Jugend verband und von ihr trennte.
Davon abgesehen mochte Serrano den September, weil er sich mit Überraschungen zurückhielt. Die Gereiztheit des Frühlings war verflogen, die Rastlosigkeit des Sommers klang ab und ging gemächlich in vollkommene Erwartungslosigkeit über. Alles, was zählte, war der Augenblick, und selbst der blieb manchmal in Spinnennetzen hängen. Dann zählte nur noch die Seligkeit des Nichts.
In diesem Jahr jedoch fühlte er sich in seinem Frieden gestört. Und als er die erste seiner beiden Tagesrunden abging, fragte sich Serrano zum wiederholten Male, warum. Mit Ausnahme der Fledermäuse, die die Erneuerung der Häuser im Revier nicht vertragen hatten, war alles eingetroffen. Ein bisschen zu viel Regen vielleicht. Aber das konnte schon mal vorkommen und verstärkte höchstens die Wehmut, die im Unterschied zu den vorangegangenen Jahren einen bitteren Beigeschmack besaß, als hätte er aus Versehen auf eine Schneebeere gebissen. Aber auch diese Erklärung überzeugte Serrano nur halb. Die Wehmut begleitete ihn schon den ganzen Sommer über, genau genommen seit jenem Tag, als ein fliegendes Menschenweibchen seine Freundin Aurelia zu einer Briefmarke zerdrückt hatte. Um das Unglück perfekt zu machen, war auch noch sein alter Gefährte und Lehrmeister Bismarck mit schabenden Lungenflügeln aus dem Leben geschlichen, hatte der Kiezfleischer Serrano die Männlichkeit gestohlen, alles innerhalb einer einzigen Woche. Als blasser Verwandter der Verzweiflung war ihm die Wehmut über die Zeit hin ein treuer Freund geworden, lange bevor der September Einzug gehalten hatte. Großzügig teilte Serrano sich mit ihr Bismarcks ehemaligen Stammplatz unter dem Fliederbusch eines Vorgartens und einige seiner Gewohnheiten, die er als Reverenz an den Alten kurzerhand übernommen hatte. Nein, die Wehmut war unschuldig. Demnach musste es etwas anderes sein.
In einiger Entfernung erblickte Serrano seinen Sohn Cäsar, der zwischen Spielplatz und Erlöserkirche über die Straße trabte. Er legte ein wenig an Tempo zu und erwischte ihn unterhalb der Kirchentreppe. Nach den tragischen Ereignissen im Frühling hatte er Cäsar die Verwaltungsgeschäfte des Viertels übergeben. Und als er ihn jetzt betrachtete, bereute er es nicht. Cäsar wirkte erschöpft. Über sein graues Fell zogen sich ausgedehnte Staubinseln und verdeckten die feine schwarze Maserung, die er von ihm geerbt hatte. An den Innenseiten seiner Beine entdeckte Serrano getrocknete Schlammklümpchen.
Cäsar blinzelte an ihm vorbei auf die Seitentür des Kirchhofs.
Derartige Respektbezeigungen von Seiten seines Sohnes irritierten Serrano noch immer. Früher hatte Cäsar seinen Blick trotzig gesucht. Er beschloss, das Gespräch zu eröffnen. »Wie laufen die Geschäfte?«
Sofort versteifte sich Cäsar.
»Ich frage ohne Hintergedanken«, fügte Serrano eilig hinzu. »Selbst der verflohteste Eckensitzer bestätigt, dass du deinem Amt gewachsen bist. Nicht, dass ich mich danach erkundigt hätte, sie bestätigen es ganz von …«
»An der südlichen Reviergrenze hat es einen Kampf gegeben«, unterbrach Cäsar ihn mit einer Stimme, die ebenso von Staub verklebt schien wie sein Fell. »Der Knöterich gegen einen Fremden. Die Regeln sind verletzt worden. Ich muss zum Knöterich und herausfinden, wer der Fremde war, ehe er die ganze Gegend auf den Kopf stellt.« Er seufzte. »Das Fatale ist, dass es nicht der erste Kampf dieser Art war. Vor einer Woche wurde einem Halbjährigen die Brust aufgerissen, noch bevor er überhaupt Zeit hatte, in Position zu gehen. Verfluchter September«, fügte er bitter hinzu. »Der letzte roch nach Laub, nicht nach Blut.« Er hob die Augen, und für eine Sekunde hatte Serrano das Gefühl, in sich selbst hineinzublicken. Er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Du hast es also auch gemerkt«, sagte er nur. »Und du denkst, das Übel dieses Septembers zeigt sich im Geruch von Blut?«
»Und dem nach Erregung«, sagte Cäsar. »Es dürfte wohl auch dir kaum entgangen sein, wie sie herumkriechen, wie sie sich belauern, sich Stöcke zwischen die Pfoten werfen. Am schlimmsten natürlich die, die noch zeugungsfähig sind, aber die anderen auch, um sie zu reizen. Und die Weibchen, weil sie die Konkurrenz fürchten.«
Serrano merkte, dass er langsam den Faden verlor. »Welche Konkurrenz?«
»Als ob jemand alle Gesetze außer Kraft gesetzt hat«, murmelte Cäsar, ohne seinen Einwurf zu beachten. »Ich erkenne das Revier nicht wieder.«
»Das legt sich, wenn es kühler wird«, sagte Serrano noch immer verwirrt.
Cäsar schüttelte den Kopf. »So redet einer, der nur seinen Fressnapf im Sinn hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es selbst im Schnee weitergehen wird.«
»Was?«, fragte Serrano, der tatsächlich gerade ein wenig Hunger verspürte. »Wovon, zum Milchbart, redest du?«
Um das Maul des neuen Princeps zuckte es leicht. »Sag mir eines: Es sind kaum dreieinhalb Monate vergangen, seit du dein Amt abgetreten hast, und du bist völlig raus. Wie kann das sein? Willst du mir etwa weismachen, dass du noch nichts von dem Haus gehört hast?«
»Welchem?«, fragte Serrano, schwankend, ob er Cäsar die Beleidigung heimzahlen oder um Informationen betteln sollte. Cäsar schien es zu merken, er ließ das Zucken seiner Barthaare sein und sagte schlicht: »Dem Katzenhaus.«
»Ach so.«
»Schön, du weißt also Bescheid. Ich muss los, der Knöterich wartet.« Mit einem Blick, aus dem eine Mischung aus Zweifel und Mitleid sprach, setzte sich Cäsar in Bewegung.
Serrano sah ihm nach, bis der Dämmer des Kirchhofes ihn geschluckt hatte. Zu seinen Pfoten platzte mit leisem Knallen eine Buchecker. Wütend schlug Serrano sie beiseite. Katzenhaus! War es wirklich schon so lange her, dass er die Geschicke des Viertels gelenkt hatte?
Seit zehn Minuten stand Hauptkommissar Hendrik Liebermann in T-Shirt und Unterhosen vor dem Türspiegel seines Kleiderschranks und versuchte, ein Zeichen von Freude an sich zu entdecken. Außer einem blauen Fleck oberhalb seiner Hüfte fand er keins. Und auch der Fleck stammte genau genommen nicht von ihm, sondern von seiner Freundin Nico. An dem Tag, als der Brief gekommen war, hatte sie ihn so heftig umarmt, dass er rücklings gegen das Treppengeländer geprallt war.
Ihr Überschwang hatte ihn deprimiert, genauso wie ihn jetzt dieser Fleck deprimierte, der immerhin beinahe exakt die Umrisse von Irland wiedergab. Einige bräunliche Verfärbungen in seiner Mitte ließen sogar topografische Strukturen ahnen. Nico hatte ihn fotografiert, »als Erinnerung an den Tag, an dem aus dem Leiter der Vermisstenstelle der Leiter der Mordkommission wurde«.
Der neue Leiter der Potsdamer Mordkommission sah sich dabei zu, wie er in eine dunkle Jeans stieg und die Knöpfe schloss. Einer fehlte, aber das fiel nicht weiter auf, sobald die Blende über der Knopfleiste lag. Für seinen Antritt nächste Woche würde er sich eine neue Hose kaufen, vorausgesetzt, dass er seine Starre bis dahin überwunden hatte. Vielleicht war einfach alles zu schnell gegangen. Ja, das war’s wohl, er hatte zu viele Geschenke hintereinander bekommen.
Nico hätte ihm völlig ausgereicht. Aber nein, kaum war seine Benommenheit darüber, dass eine Frau seine Liebe erwiderte, abgeklungen, hatte Liebermanns Exfrau ihre Wohnung mit einem Großteil des Mobiliars an ihn abgetreten, um in eine buddhistische Landkommune überzusiedeln. Da sie dort nur ein Zimmer hatte, brauchte sie keine Möbel. Und da die nächste Schule von dort eine halbe Tagesreise entfernt war, hatte sie am Ende sogar eingewilligt, ihre gemeinsame Tochter Miri in seiner zweifelhaften Obhut zurückzulassen. Innerhalb von drei Monaten war Liebermann zu einer Geliebten, einer doppelten Vaterschaft – wenn man Nicos Tochter Zyra mitzählte – und einer Vierraumwohnung am Rande des Parks Sanssouci gekommen.
Miri und Zyra waren vor sechs Wochen eingeschult worden. An diesem Tag hatte der in Harmoniebewältigung unerfahrene Liebermann zum ersten Mal gemerkt, dass sein Maß voll war. Aber da war die Bewerbung bereits unterwegs gewesen: Hauptkommissar des LKA Berlin, Dezernat 124, sucht ab sofort in Potsdam …
Eine Blindbewerbung, geschrieben, vergessen und vor einer Woche beantwortet.
Neben seinem Spiegelbild tauchte ein weiteres auf, das ihm knapp bis zur Schulter reichte und ein schmutziges Männerhemd trug. »He!«
Liebermann lächelte. Von Nicos Nasenwurzel zog sich ein schwarzer Streifen abwärts bis zum Mund, wo er in Richtung der Ohren abbog. »He!«, antwortete er.
In der Tür erschienen die Mädchen, beide...




