Ani Abknallen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86358-837-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-86358-837-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Thriller über eine gnadenlose Jagd, über die geschundene Seele einer jungen Frau und über die Macht der Medien, die Menschen zu Bestien
machen können: ein literarischer Großstadt-Thriller, ein großartiger Ani.
Autoren/Hrsg.
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2 Niemand beachtete die Wildschweine. Im Rudel standen sie aneinandergedrückt zwischen den Sträuchern und zitterten so heftig, dass ihr graues, schmutziges, nasses Fell eigenartig raschelte, wie altes Lametta. Dabei standen sie so starr da, als wären sie ausgestopft. Vor noch nicht mal zwei Stunden hatten sie sich quietschvergnügt in der schlammigen Erde gesuhlt, sich immer tiefer in den aufgeweichten Boden gegraben und in den Mulden gebadet, die voller Regenwasser waren. Und dann erklang Hundegebell, aber es war nicht der Mischling des Försters, der gewöhnlich hier seine Runden drehte, sondern ein lauteres, aggressiveres Bellen. Und dann war Stille gewesen. Und dann kamen die Autos und mit den Autos die Männer, immer mehr Männer und mit den Männern die Scheinwerfer, die den Wald in gleißendes Licht tauchten, und der gesamte Forst war voll von Menschen, die sonst nie hier waren. Und keiner von ihnen beachtete die Wildschweine, die wie Urviecher in der Dunkelheit standen, während der Regen auf sie niederprasselte und sie bis zum Bauch im Morast versanken. »Leck mich am Arsch!«, rief Josef Braga aus, als der Strahl seiner Taschenlampe das Ding erfasste, das seine Kollegen soeben freigeschaufelt hatten. Es war ein menschlicher Schädel, bis zur Unkenntlichkeit verwest. Nachdem die drei Kommissare vom Bereitschaftsdienst der Mordkommission vor eineinhalb Stunden hier draußen, in der Nähe des Ortes Buchenhain, angekommen waren, hatte sich die Zahl der Kripobeamten auf zweiundvierzig erhöht. Alle arbeiteten im Dezernat 11 in der Münchner Bayerstraße, und etliche von ihnen hatten seit dem Nachmittag im Präsidium den Geburtstag ihres Chefs gefeiert. Als sie im Forstenrieder Park eintrafen, verging ihnen die gute Laune. Sturzbäche hatten mehrere Erdhügel untergraben und das Erdreich weggeschwemmt. Und zum Vorschein kamen die Gebeine von Leichen. Ein Ehepaar aus Uelzen, das in Buchenhain Urlaub machte, war mit seinem Collie auf dem Weg in seine Privatpension, als der Hund sich losriss, im Unterholz verschwand und mit einem Schuh im Maul zurückkehrte. Im Umkreis von einem Kilometer fanden die Polizisten bald darauf drei Frauenleichen, bei zweien fehlte der Kopf. Obwohl ihre Körper bereits stark verwest waren, entdeckte der Arzt Spuren extremer Misshandlungen. Dem Pathologen, wie auch den Beamten der drei Kommissariate, die sich an diesem verregneten Oktobertag gegen zwanzig Uhr dreißig im Wald versammelt hatten, war sofort klar, dass sie einem Verbrechen auf die Spur gekommen waren, dessen Ausmaße weit über das hinausgingen, was diese Stadt bisher erlebt hatte. »Wir können den zweiten Kopf nicht finden«, sagte ein Mann in einem langen Mantel zu Kriminaloberrat Karl Funkel, der den Einsatz koordinierte. Funkel leitete das Dezernat, und obwohl es nicht zu seinen Pflichten zählte, jeden Tatort persönlich in Augenschein zu nehmen, begleitete er seine Kollegen jedes Mal, wenn ein Leichenfund gemeldet wurde. Für einen Oberboss, der seine ganze Arbeit am Schreibtisch erledigte und seine Leute von da aus dirigierte, fühlte er sich mit seinen siebenundvierzig Jahren noch zu jung. Außerdem vereinfachte die genaue Kenntnis der Umstände die Arbeit mit den Journalisten; sie schätzten es, Details eines Verbrechens nicht nur von der Pressestelle zu erfahren, sondern mit jemandem sprechen zu können, der vor Ort gewesen war. Auf diese Weise ließen sich Informationen besser steuern, und beide Seiten waren zufrieden: Die Reporter freuten sich über exklusive Neuigkeiten direkt aus der Fahndungszentrale, und Funkel hatte die Gefahr von Ammenmärchen aufgrund geheimniskrämerischer Pressearbeit weitgehend gebannt. »Wir suchen weiter«, sagte er, und der Mann im Mantel nickte und ging zurück zu seinen Kollegen. Funkel schüttelte das Wasser von seinem riesigen schwarzen Schirm. »Entschuldigung, Herr Funkel.« Einer der beiden Polizeifotografen drängte sich an ihm vorbei und machte Aufnahmen von den Fundorten. Der zweite Fotograf benutzte außer seinem Apparat eine Videokamera, mit der er die Stellen, an denen die Leichen entdeckt worden waren, von allen Seiten filmte. »Sieht finster aus«, sagte Roland Felz, der Leiter der Vermisstenstelle. »Was denkst du?«, fragte Funkel. »Ich hab die Daten hier«, sagte Felz und zeigte auf die Mappe, die er bei sich trug. »Aber wir müssen noch warten. Bisher ist alles reiner Verdacht.« »Natürlich.« Ein Mann mit einem wuchtigen Oberkörper und einem Knopf im linken Ohr, bekleidet mit einem grünen Parka und einem Lederkäppi auf dem Kopf, gesellte sich zu ihnen. Er trug schwarze Gummistiefel und eine ausgeleierte Bluejeans. In seinem Mundwinkel hing eine erloschene Zigarette. Er war unrasiert und sah aus, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Er hätte ein Altachtundsechziger sein können, der als Türsteher geendet war. Aber Rolf Stern war ein Altachtundsechziger, der eine Mordkommission leitete, und sein momentanes Problem war, dass er in den vergangenen drei Tagen praktisch nur geschlafen hatte, weil er endlich damit anfangen wollte, seine zweihundertfünfunddreißig Überstunden abzubauen. Und jetzt stand er schon wieder an einem Tatort und wusste, dass er in den nächsten Tagen wenig Zeit zum Schlafen haben würde, enorm wenig Zeit. »Sind das eure Vermissten?«, fragte er und sah Felz an. Lange Umschweife zu machen, lehnte er schon aus stundenplantechnischen Gründen ab. »Keine Ahnung, Herr Kollege«, brummte Felz. »Ich weiß, dass sie es sind«, sagte Stern. »Dann weißt du mehr als wir alle«, sagte Felz. Sie hatten beide den gleichen Dienstgrad, Hauptkommissar, aber manchmal fragte sich Felz, wie so ein hemdsärmeliger, besserwisserischer Typ wie Stern überhaupt Leiter eines Kommissariats werden konnte. Nach seiner festen Überzeugung lief man bei der Kripo nicht in Parka und Bluejeans rum wie irgend so ein abgerissener Student; eine Krawatte war Pflicht, eine ordentliche Hose und vor allem anständige, gewaschene Haare. Und dann diese Mütze! Wie aus einer Bar im Gärtnerplatzviertel geklaut! Wenn es nach ihm, Felz, ginge, dann würden sie sich wieder siezen, das passte besser zu der Art ihrer Beziehung. »Okay, Kollegen«, sagte Stern, »ich fahr zurück ins Büro. Soll ich dich mitnehmen?« Er meinte seinen Vorgesetzten Funkel. »Nein, ich warte noch.« »Ich auch«, sagte Felz. Aber Stern hörte ihm nicht mehr zu; seinen mächtigen Körper nach vorn gebeugt, stapfte er durch die Wiese bis zur geteerten Straße, die quer durch den Forst führte und auf der sein Auto stand, ein dunkelblauer Lancia. Die ganze Straße war vollgeparkt mit Streifenwagen und Zivilfahrzeugen der Polizei, zwei Sanitäts- und zwei Leichenwagen. Der Regen fiel in dünnen, unaufhörlichen Fäden vom Himmel, und die Tropfen glitzerten im Scheinwerferlicht. »Wir wissen nichts«, sagte Funkel, als sie neunzig Minuten später im vierten Stock des Dezernats saßen, Kaffee tranken, rauchten und eine Unmenge an Protokollen, Fotos und Ermittlungsakten vor sich liegen hatten. In den engen Büroräumen gegenüber dem Hauptbahnhof war kein einziger Stuhl mehr frei, sämtliche Lampen brannten, und das einzige Geräusch kam von der Kaffeemaschine, die auf dem Fensterbrett verkalkt vor sich hinkrächzte. Für die Kripobeamten begann jetzt die Routine – eine Routine, an die sich auch nach zehn Dienstjahren und mehr kaum einer von ihnen gewöhnt hatte. Obwohl der Ablauf größtenteils immer der gleiche war – Auswertung der Spuren am Tatort, Telefonate mit Angehörigen und Freunden, akribische Auflistung aller Beobachtungen, Vermutungen und Fakten, die in direktem Zusammenhang mit dem Verbrechen standen –, obwohl jeder einzelne Kommissar genau wusste, was er zu tun hatte, gelang es ihnen nur selten, ihre Arbeit als einen normalen, alltäglichen Job zu betrachten. Zu unterschiedlich waren die Reaktionen der Menschen, die plötzlich mit der Tat konfrontiert wurden, und es kostete besonders die jüngeren Fahnder jedes Mal von Neuem Überwindung, den Hinterbliebenen nicht nur die Todesnachricht zu überbringen, sondern auch deren Schmerz, Wut und bohrende Fragen auszuhalten. »Wir haben eine Standleitung zu den Kollegen vom ED«, sagte Funkel und zog den Aschenbecher zu sich ran. Es war fünf Stunden her, seit er seine letzte Pfeife geraucht hatte, und er fing schon mal an, sie vorsorglich zu säubern, damit er sie anzünden konnte, sowie sie die erste Pause machten. Während der Dienstgespräche war rauchen verboten. Er warf einen schnellen Blick zu Freya Epp, der zweiunddreißgjährigen Oberkommissarin, die erst vor zwei Monaten in die Mordkommission gekommen war und bereits revolutionäre Neuerungen eingeführt hatte: zum Beispiel Rauchverbot während der Arbeit oder kollektives Yoga am Nachmittag, was besonders den Kollegen Stern zur Verzweiflung brachte, weil er nicht einsah, was ihm das bringen sollte, auf einem Bein zu stehen und unnatürlich zu atmen. Funkel klopfte seine Pfeife auf dem Rand des Aschenbechers aus und blickte in die Runde. »Ich berufe eine Sonderkommission ein, weil wir es unmöglich schaffen, die drei Morde zusätzlich zum derzeitigen normalen Betrieb zu bewältigen.« Diese Ankündigung kam für niemanden überraschend. »Drei Kollegen aus jeder Abteilung, drei vom Hundertelfer, drei vom Hundertzwölfer und drei vom Hundertvierzehner. Dazu mich als Leiter und Rolf als meinen Stellvertreter in der SoKo.« Rolf Stern, der Funkel gegenübersaß, nickte. Er hatte immer noch sein Lederkäppi auf und seinen Parka an, allerdings mit geöffnetem Reißverschluss; drunter trug er ein blau kariertes...




