Prolog
»Ich habe nicht darum gebeten, auf die Welt zu kommen«, schleuderte ich meiner Mutter entgegen, als sie sich darüber beklagte, wie viel Ärger ich ihr schon bereitet hatte seit dem Tage, als ich auf die Welt kam. Die Schule hatte angerufen und gedroht, Mama vor Gericht zu bringen, wenn ich noch einmal den Unterricht schwänzte. Ich hasste die Schule. Ein Haufen eingebildeter Angeber kreiste um diese oder jene Bienenkönigin und drohte, mich zu stechen, wenn ich auch nur versuchte, in ihre kostbaren kleinen Zirkel einzudringen. Meine Klassen waren so groß, dass die meisten Lehrer mich sowieso nicht kannten. Wenn wir nicht dieses neue Stechuhrsystem gehabt hätten, um die Anwesenheit zu überprüfen, wäre es niemandem aufgefallen, dass ich nicht zur Schule gegangen war.
Mama stieß die Kühlschranktür mit dem nackten Fuß zu und knallte eine Bierflasche so heftig auf die Arbeitsplatte, dass sie fast zersprang. Mit dem Öffner riss sie den Kronenkorken herunter und starrte mich mit blutunterlaufenen Augen an. Der Anruf aus der Schule hatte sie aus dem Tiefschlaf gerissen. Sie setzte die Flasche an und trank, dass die Muskeln ihres dünnen Halses bei dem Versuch, so viel wie möglich in einem Schluck herunterzubringen, pochten. Ich sah, dass sie sich einen Ellenbogen aufgeschürft hatte und am rechten Unterarm ein blauer Fleck prangte.
Wir hatten einen dieser wunderschönen Altweibersommer. Es war 32 Grad warm, und das am 20. Oktober. Mama hing das Haar, das genauso schwarz war wie meines, strähnig über die Wangen. Der Pony war fransig und zu lang.
Sie schob die Unterlippe vor und blies sich die Strähnen aus den Augen. Sie war einmal eine Schönheit gewesen mit Augen, die wie Jetperlen funkelten, einem dunklen Teint, markanten hohen Wangenknochen und vollkommenen Gesichtszügen. Andere Frauen ließen sich mit Silikon behandeln, um so üppige, schön geschwungene Lippen zu bekommen, wie Mama sie von Natur aus besaß. Als ich klein war, fühlte ich mich immer sehr geschmeichelt, wenn Leute mich mit ihr verglichen. Es war mein Traum, so hübsch zu werden wie meine Mutter.
Jetzt wäre ich am liebsten gar nicht mit ihr verwandt. Manchmal tat ich sogar so, als sei sie überhaupt nicht vorhanden.
»Wie soll ich denn mühsam meinen Lebensunterhalt verdienen und dabei auch noch auf eine Zwölfjährige aufpassen? Sie sollten mir lieber eine Medaille verleihen, statt mich zu bedrohen.«
Mamas mühsam verdienten Lebensunterhalt bekam sie als Barfrau in einer Kaschemme namens Charlie Boy’s in Newburg, New York. Manchmal kehrte sie erst um vier Uhr morgens nach Hause zurück, lange nachdem die Bar geschlossen hatte. Wenn sie nicht betrunken war, war sie high von irgendetwas, stolperte durch unser Ein-Zimmer-Apartment, stieß gegen die Möbel und ließ Sachen fallen.
Ich schlief auf der ausgezogenen Couch, daher wachte ich normalerweise auf oder hörte sie, tat aber so, als schliefe ich weiter. Ich hasste es, mit ihr zu reden, wenn sie in diesem Zustand war. Manchmal konnte ich sie riechen, bevor ich sie hörte. Als wäre ihre Kleidung in Whisky und Bier getränkt.
Mama sah jetzt viel älter aus als einunddreißig. Unter den Augen hatte sie dunkle Ränder, in den Augenwinkeln Falten, die wie mit einem Augenbrauenstift nachgezogen wirkten. Ihr Teint war zu einem kalkigen Gelb verblasst, das einst so seidige Haar erinnerte an einen Mopp aus Klaviersaiten. Es war durchzogen von vorzeitig ergrauten Strähnen und wirkte immer dreckig und struppig.
Mama rauchte und trank; ihr schien es völlig gleichgültig zu sein, mit welchem Mann sie ausging, solange er nur bereit war für das zu zahlen, was sie haben wollte. Ich hatte aufgehört, über ihre Namen Buch zu führen. Ihre Gesichter verschwammen ineinander, ihre roten Augen starrten mich mit vagem Interesse an. Normalerweise bedeutete ich für sie genau so eine Überraschung wie sie für mich.
»Du hast mir überhaupt nicht gesagt, dass du eine Tochter hast«, meinten die meisten.
Mama zuckte dann die Achseln und erwiderte: »Tatsächlich nicht? Nun, so ist es aber. Ist das für dich ein Problem?«
Manche antworteten darauf überhaupt nicht, andere sagten Nein oder schüttelten den Kopf und lachten.
»Das Problem hast du«, erwiderte ihr ein Mann. Daraufhin brach sie in eine Tirade über meinen Vater aus.
Wir sprachen kaum über ihn. Mama erzählte nur, dass er ein gut aussehender Latino war, aber eine Enttäuschung, als es darum ging, Verantwortung zu übernehmen.
»So sind die meisten Männer«, warnte sie mich.
Sie erweckte in mir den Eindruck, dass die Versprechungen meines leiblichen Vaters Regenbögen glichen – schön anzusehen, aber sie verblassten schnell und zurück blieben nur vage Erinnerungen. Er kam nie zurück, und er schickte uns auch nie irgendetwas.
So lange ich mich erinnern konnte, wohnten wir in diesem kleinen Apartment in einem Haus, das aussah, als könnte ein starker Sturm es über den Haufen blasen. Die Wände in den Korridoren waren stellenweise abgebröckelt und ausgehöhlt, als hätte ein Verrückter versucht, einen Weg nach draußen zu graben. Die Außenwände waren mit Graffitis beschmiert, der Bürgersteig voller Löcher – wo einst Zement gewesen war, starrte jetzt nur noch Dreck. Der kleine Rasenfleck zwischen Gebäude und Straße war schon vor Jahren sauer geworden. Das Gras hatte eine ungesund hellgrüne Farbe, und es türmte sich so viel Abfall darauf, dass niemand einem Rasenmäher darüber schieben konnte.
Die Becken in unserer Wohnung machten ständig Ärger: Entweder tropften sie oder waren verstopft. Wie oft die Toilette übergelaufen war, konnte ich nicht einmal annähernd abschätzen. Der Ablauf der Badewanne war völlig verrostet, die Dusche tropfte und spendete normalerweise kein heißes Wasser mehr, bevor ich fertig war oder meine Haare gewaschen hatte. Es wimmelte auch von Mäusen, ständig fand ich ihren Kot in Schubladen, unter Kommoden oder Tischen. Manchmal hörte ich, wie sie umherhuschten, und ein paar Mal sah ich auch eine, bevor sie unter einem Möbelstück verschwand. Wir stellten Fallen auf und fingen einige, aber für jede gefangene Maus kamen zehn neue.
Mama versprach stets, uns hier herauszuholen. Direkt um die Ecke lockte eine schöne neue Wohnung, sie musste nur noch weitere hundert Dollar für die Kaution sparen. Aber ich wusste, wenn sie tatsächlich Geld übrig hatte, gab sie es für Whisky, Bier oder Hasch aus. Durch einen ihrer neuen Freunde lernte sie auch Kokain kennen. Hin und wieder schnupfte sie auch das, aber normalerweise war es ihr zu teuer.
Wir hatten einen Fernseher, bei dem oft das Bild verschwand. Manchmal kam es wieder, wenn ich hart auf die Seite schlug. Manchmal bekam Mama Sozialhilfe. Ich verstand nie, warum sie sie bekam oder warum nicht. Sie verfluchte das System und beklagte sich darüber, wenn sie kein Geld bekam. Wenn ich es als erste in die Finger kriegte, kaufte ich etwas Vernünftiges zu essen und Kleidung für mich. Wenn nicht, versteckte sie es oder gab es mir in homöopathischen Dosen, und ich musste damit zurechtkommen.
Ich wusste, dass andere Kinder meines Alters stahlen, was sie sich nicht leisten konnten, aber für mich war das nichts. Im Haus lebte ein Mädchen, Lila Thomas, die zusammen mit anderen Mädchen am Wochenende die Einkaufscenter heimsuchte. Sie war einmal beim Ladendiebstahl ertappt worden, schien aber keine Angst davor zu haben, wieder erwischt zu werden. Die ganze Zeit machte sie sich über mich lustig, weil ich nicht mitgehen wollte. Sie nannte mich die Pfadfinderin und erzählte allen, ich würde noch als Keksverkäuferin enden.
Es machte mir gar nichts aus, dass sie nicht meine Freundin war. Meistens war ich mit mir allein glücklich und zufrieden, las eine Zeitschrift oder schaute mir eine Seifenoper im Fernseher an, wenn ich ihn in Gang setzen konnte. Ich versuchte nicht an Mama zu denken, die in ihrem Zimmer lange schlief, vielleicht mit irgendeinem neuen Mann. Ich war so weit, dass ich durch Leute hindurchsehen und so tun konnte, als seien sie gar nicht vorhanden.
»Du gehst morgen besser zur Schule, verdammt noch mal. Ich brauche keine Leute vom Jugendamt, die hierher kommen und herumschnüffeln«, maulte sie und wischte sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Hörst du mir eigentlich zu?«
»Ja«, erwiderte ich.
Sie starrte mich eindringlich an und trank wieder von ihrem Bier. Es war erst Viertel nach neun morgens. Ich konnte den Geschmack von Bier sowieso nicht ausstehen, aber beim Gedanken, es so früh zu trinken, drehte sich mir der Magen um. Mama wurde plötzlich klar, welcher Wochentag war und dass ich auch jetzt in der Schule sein sollte. Ihre Augen traten hervor.
»Was machst du eigentlich zu Hause?«, schrie sie.
»Ich hatte Bauchweh«, erklärte ich. »Ich kriege meine Periode. Das hat mir auch die Krankenschwester in der Schule gesagt, als ich Krämpfe bekam und die Klasse verlassen musste.«
Sie schaute mich mit einem kalten Glitzern ihrer dunklen Augen an und nickte.
»Willkommen in der Hölle«, sagte sie. »Bald wirst du...