PROLOG
Meine Schwester Beni und ich wurden vom Knall zertrümmernden Geschirrs an der Küchenwand aus dem Schlaf gerissen. Wir hörten, wie die Porzellanscherben auf den blassgelben Linoleumboden fielen. Ich lag da, starrte in die Dunkelheit und hielt die Luft an. Beni setzte sich auf, um zu lauschen; dabei fiel ihr der Pony in die Augen, dass sie ihn teilen musste wie einen Perlenvorhang.
»Was war das?«, keuchte sie.
Ich hatte Angst, mich zu rühren, geschweige denn zu sprechen. Es war wie die Stille nach einem Blitz, und du weißt, ein Donner wird die Fensterscheiben erbeben lassen und dich bis ins Mark erschüttern. Und genau – wir hörten, wie Mama Ken mit tränenerfüllter Stimme etwas vorjammerte.
Solange ich mich erinnern kann, nennen Beni, Roy und ich ihn schon Ken statt Daddy oder Papa. Ihn beim Namen zu nennen kam uns immer besser über die Lippen. So wie er uns anschaute, besonders als wir jünger waren, verriet uns dreien, dass er nicht als irgendjemandes Vater gelten wollte, besonders nicht als unser.
»Na los«, hörten wir Mama schreien, »hau doch ab. Du bist sowieso nicht zu viel nutze. Das warst du noch nie.«
»Wenn du das so siehst, Weib, dann kann ich wirklich gehen«, brüllte er zurück.
»Geh, geh, geh«, intonierte sie wie eine Highschool-Cheerleaderin. Die Anspannung in ihrer Stimme sorgte dafür, dass meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren.
»Das werde ich«, drohte er. »Ich bleib doch nicht hier, wo man mich nicht zu schätzen weiß. Das ist mal sicher. Das ist verdammt sicher.«
»Schätzen?« Sie lachte schrill auf. »Was gibt es da zu schätzen? Dass du deinen ganzen Lohn fürs Trinken und andere Frauen ausgibst? Dass du nach Hause kommst und auf die Schnauze fällst? Du bist sowieso nie für mich und die Kinder da gewesen, Ken Arnold. Wir werden nicht einmal merken, dass du weg bist«, versicherte Mama ihm.
»Du undankbare Schlampe! Ich sollte …«
»Hand an mich legen. Nur zu. Ich warne dich. Ich rufe die Polizei. Nur zu«, forderte sie ihn heraus.
Ich setzte mich auf. Es fühlte sich so an, als ob kleine Trommeln der Angst in meiner Brust pochten. Schnell. Ich schlang die Arme um mich. Wir hatten früher schon erlebt, wie er sie geschlagen hatte. Es war hässlich; die Angst ballte sich zu Klumpen im Bauch zusammen. Beni stöhnte in böser Vorahnung. Sie erhob sich behutsam und zögernd von ihrem Bett wie jemand, der gezwungen wird, in ein brennendes Gebäude zu rennen.
»Geh nicht raus«, flüsterte ich ihr warnend zu. »Du machst es nur noch schlimmer für Mama.«
Sie hielt inne. Selbst im Dunkeln sah ich das abgrundtiefe Entsetzen in den Augen meiner jüngeren Schwester.
Unser älterer Bruder Roy kam an die Tür; er rieb sich mit der rechten Handfläche über die Stirn, als schmirgelte er einen Holzblock ab. Es gehörte viel mehr dazu, ihn zu wecken als uns. Mama sagte immer: »Dieser Junge beweist, dass jemand wirklich völlig weggetreten sein kann, wenn er schläft.«
Roy blieb an unserer offenen Tür stehen. »Was zum Teufel ist denn da los?«, murmelte er und zog eine Grimasse, als hätte er gerade saure Milch getrunken.
»Komm ihnen nicht in die Quere, Roy«, rief ich. Das hatte er schon einmal getan, und Ken hatte ihn so übel erwischt, dass er zu Boden ging. Roys Lippe blutete und schwoll an. Mama hielt ihn davon ab, wieder aufzustehen und die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens zu bekommen.
»Ach, du verdienst es doch, wenn ich dich verlasse«, murrte Ken.
Offensichtlich war Mama bei ihrer Aufforderung geblieben. Sie hatte ihre glühenden ebenholzschwarzen Augen auf ihn gerichtet und ihn dazu gebracht zurückzuweichen. Als Nächstes hörten wir, wie die Wohnungstür geöffnet und zugeknallt wurde. Die Wände der kleinen Wohnung bebten, dann war es einen Augenblick still, bis wir Mama schluchzen hörten.
Ich stand auf und ging zu Beni und Roy. Gemeinsam betraten wir die Küche und fanden Mama an dem angeschlagenen Resopaltisch, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, die Schultern bebend.
So hatten wir sie schon oft gesehen.
»Was ist diesmal passiert, Mama?«, fragte Roy mit wutblitzenden Augen.
Mama hob den Kopf langsam und mit großer Anstrengung, als wäre er aus Stein. Ihre Augen waren rot und glasig vom Weinen. Sie holte tief Luft, zog die schmalen Schultern hoch und ließ sie rasch wieder fallen. Dabei erinnerte sie an eine Marionette, deren Schnüre durchgeschnitten worden waren. Sie schien in dem Stuhl zu versinken. Als ich sie so niedergeschlagen sah, fühlte sich mein Herz wie eine ausgepresste Orange an. Die Brust wurde mir so eng, dass ich nicht mehr tief Luft holen konnte. Die Tränen, die über Mamas Wangen geströmt waren, hatten Linien bis zum Kinn hinterlassen.
Sie seufzte tief und fuhr sich mit den dünnen Fingern durchs Haar, das früher einen gesunden Glanz hatte und jetzt stumpf wirkte und von grauen Strähnen wie eine Drohung des Alters durchzogen war. Ich hasste es zu sehen, wie Mama alterte. Kummer und Sorgen beschleunigten die Zeiger ihrer Lebensuhr. Ich wollte, dass sie immer jung blieb mit einem Gesicht voller Lächeln und Hoffnung und eine Stimme voller Lachen und Liedern. So lange ich denken konnte, musste Mama hart arbeiten. Sie hasste die Vorstellung, von der Fürsorge zu leben. Ganz gleich wie verschwenderisch und nachlässig Ken war, Mama gab nicht klein bei. Ihr Stolz hielt sie eisern aufrecht.
»Solange noch ein Gramm Kraft in diesen Armen und Beinen ist«, sagte sie uns, »werde ich mir nicht von den Behörden sagen lassen, dass ich ein Teil des Problems bin. No, Sir, no, Ma’am. Latisha Carrol hat noch einen weiten Weg vor sich, bis sie ganz unten angekommen ist.«
Im Augenblick sah es so aus, als sei sie fast so weit gekommen. Sie arbeitete in Krandels Supermarkt, füllte Regale auf und packte die Lebensmittel in Tüten, wie ein Highschool-Abbrecher. Aber sie beklagte sich nie.
Keiner von uns hatte einen Job, aber als Roy noch jünger war, ging er zum Supermarkt, um sich ein Trinkgeld zu verdienen, wenn er den Leuten die Einkäufe zum Auto trug. Einmal gab ihm eine ältere weiße Lady einen Zwanziger. Mama war sich sicher, dass sie ihm einen Dollar hatte geben wollen und sich geirrt hatte. Sie sagte Roy, er sollte auf die Lady warten und ihr das Geld wiedergeben, sobald er sie sah. Roy wollte nicht. Diese zwanzig Dollar brannten ihm fast ein Loch in die Tasche, aber er hatte Angst, sie auszugeben. Schließlich sah er die alte Lady wieder und erzählte ihr, was sie getan hatte. Sie schaute ihn an, als wäre er verrückt, und meinte, er müsse sich irren. Solche Fehler machte sie nicht. Er kam nach Hause gerannt, um es Mama zu erzählen, die sich zurücklehnte, nachdachte und sagte: »Also, Roy, wenn diese alte weiße Lady so arrogant ist, dass sie einen Fehler nicht zugeben kann, dann gehört es dir.«
Ken sagte ihm, er hätte sich überhaupt nicht die Mühe machen sollen, es zurückzugeben, aber Mama hatte immer einen größeren Einfluss auf uns als Ken. Ich erinnere mich nicht genau, wann Roy den Respekt vor unserem Daddy verlor, aber ich glaube, Ken wusste die ganze Zeit, dass sein Sohn keine Achtung vor ihm hatte. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er so häufig nicht nach Hause kam.
»Euer Daddy hat uns mal wieder verlassen«, sagte Mama.
»Gut, dass wir ihn los sind«, fauchte Roy.
»Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du so redest, Roy Arnold. Er ist immer noch dein Vater, und du weißt, dass in der Bibel steht, du solltest Vater und Mutter ehren.«
»Gott dachte nicht an ihn, als er das niederschrieb, Ma«, sagte Roy wütend.
»Wage es ja nicht zu behaupten, du wüsstest, was Gott meinte oder vorhatte, Roy Arnold«, schnauzte sie ihn an. Ihre Augen glühten leidenschaftlich. Mama hatte immer das Gefühl, sich an ihre Religion zu halten sei das Einzige, das uns zusammenhielt. Sie ging nicht regelmäßig zur Kirche, sie trieb uns auch nicht so pflichtbewusst zur Kirche wie manche anderen Mütter, aber sie ließ uns nie zu weit von Gebet und Bibel abkommen.
Roy schüttelte den Kopf und ließ ihn hängen, als sacke er vor Erschöpfung zusammen.
»Ich gehe wieder ins Bett«, murmelte er.
»Ihr geht alle zurück ins Bett. Ihr habt morgen früh Schule, und ich will euch Mädchen nicht wachrütteln, hört ihr?«
»Gehst du auch ins Bett, Mama?«, fragte ich sie.
»Bald«, antwortete sie.
Ich schaute Beni an. Wir wussten beide, dass sie fast die ganze Nacht wach bleiben und sich vor Sorgen hin- und herwälzen würde. Rechnungen waren die Gespenster, die unser Zuhause heimsuchten, ihre Zahlen an den Wänden von Mamas Zimmer aufblitzen ließen und auf ihren Schultern hockten. Ken machte sich nie Sorgen um unsere Rechnungen. Es war immer ein Kampf, ihn dazu zu bewegen, einige unserer Ausgaben zu bezahlen, bevor er seinen Lohn,...