E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Andersson Der gewöhnliche Mensch
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-24193-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman – Übersetzt von Antje Rávik Strubel
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-24193-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ragnar Johansson ist Möbeltischler und Werkstattlehrer. Ein kantiger und sehr korrekter Mensch, der stolz darauf ist, als Handwerker einer der Bausteine des schwedischen 'Volksheims' zu sein. Er glaubt an den Wohlfahrtsstaat und ist davon überzeugt, dass dieser die Menschheit aus dem finsteren Mittelalter in die Moderne geführt hat. Hatte Schweden nicht in den 1970er Jahren schon die meisten Kindertagesstätten, die geringsten Lohnunterschiede, den größten Filmregisseur, die vorderste Kinderbuchautorin, den besten Slalomläufer, Tennisspieler und die beste Popband? War dieses Leben nicht besser als das seiner Mutter Svea, die aus ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen stammt? Lange Zeit versucht Ragnars Tochter Elsa, den hohen Idealen ihres Vaters gerecht zu werden. Doch irgendwann schert auch sie aus. Die Zeit, so scheint es Ragnar, ist plötzlich nicht mehr seine.
Lena Andersson, 1970 in Stockholm geboren, gilt als eine der wichtigsten Autorinnen Schwedens. Für den Roman 'Widerrechtliche Inbesitznahme' wurde sie mit dem renommierten August-Literaturpreis ausgezeichnet. Ihre Bücher sind in Schweden allesamt Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Lena Andersson fuhr als Jugendliche jahrelang wettkampfmäßig Ski. Heute lebt sie als Journalistin und Autorin in Stockholm, wo sie sich einen Namen als streitbarste zeitgenössische Kritikerin des Landes gemacht hat.
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Gegen Ende des Jahres 1999 veröffentlichte eine Ethnologin der Universität Uppsala ein Inserat auf der Suche nach Personen, auf die sie ihre Forschung zur schwedischen Mentalitätsgeschichte der Moderne stützen könnte – und es wurde höchste Zeit, denn die Reihen lichteten sich.
Elsa Johansson war zum Zeitpunkt des Geschehens neunundzwanzig Jahre alt. Sie schrieb einen Brief an die Ethnologin und berichtete von ihrem Vater, einem pensionierten Handwerker, der der Tochter zufolge ein allzu ruhiges und zurückgezogenes Leben in Vällingby, nordwestlich von Stockholm, führte, wo keine seiner beträchtlichen Fähigkeiten mehr in Anspruch genommen wurde.
Der Vater sei für das Forschungsprojekt perfekt geeignet, schrieb sie, weil er von sich aus nie auf den Gedanken käme, sich dafür zu melden. »Ein solches Selbstverständnis würde ihn wahrscheinlich für das, was Sie vorhaben, disqualifizieren. Die Auswahl wäre verzerrt, wenn Sie nur Leute nehmen würden, die glauben, dass die Beschreibung auf sie passt.«
Elsa war Doktorandin der Linguistik, weshalb sie die methodischen Probleme der Forschung beschäftigten.
Nach drei Wochen kam eine Antwort der Ethnologin. Sie wollte Ragnar Johansson gern zu einem sondierenden Gespräch treffen. Erst da erzählte Elsa ihrem Vater davon. Er war unschlüssig und reagierte ablehnend, worauf Elsa jedoch gefasst war. Sie hatte sich bereits überlegt, wie sie sein Interesse wecken könnte, und erklärte, die Sache betreffe Schweden als ein ehemaliges Vorbild in der Welt. Es gehe um die heroische Vergangenheit des Landes, von der er ein kleiner, aber wichtiger Teil war.
»Wenn ich etwas dazu beitragen kann, ist das vielleicht eine gute Sache«, sagte der Vater. »Obwohl mir nicht klar ist, was ich sagen könnte, das eine Wissenschaftlerin nicht ohnehin schon weiß.«
Elsa schrieb der Ethnologin und schlug ein Treffen in der Konditorei Pallas in Vällingby vor. Die Konditorei gab es schon seit der Gründung von Vällingby 1954, als Menschen aus der ganzen Welt diesen Ort besucht hatten, um sich eine Vorstadt der Zukunft anzuschauen, die in der Gegenwart verwirklicht worden war, ausgedacht bis ins kleinste funktionale und elegante Detail samt der würdevollen Ausstrahlung, die das Gesamte auf den demokratischen Menschen hatte.
Elsa und Ragnar hatten in einer dunklen Ecke Platz genommen, als die Ethnologin drei Minuten nach der vereinbarten Zeit eintraf und sich suchend im Lokal umsah. Elsa hob den Arm, um auf sich aufmerksam zu machen.
»Vielleicht hatte die U-Bahn Verspätung«, sagte Ragnar und sah auf die Uhr. »Um diese Jahreszeit liegt Laub auf den Schienen.«
Die Ethnologin stand am Tresen und bestellte Café au Lait und eine Hefeschnecke, die sie nach einem flüchtigen Blick auf die Backwaren willkürlich auszuwählen schien. Als sie endlich mit ihrem Tablett an den Tisch gehetzt kam, schwappte der Kaffee über, durchtränkte die Hefeschnecke und machte sie ungenießbar.
Ragnar erhob sich, hochgewachsen, aber mit krummem Rücken, und streckte die Hand zur Begrüßung aus.
»Ragnar Johansson.«
Elsa hoffte, die Ethnologin wäre aufmerksam genug, um die kleinen, aber wesentlichen Dinge zu bemerken; dass etwas außerordentlich Bestimmtes und Zupackendes in der Art lag, wie er seinen Namen aussprach, die Bekundung von etwas Unbestreitbarem, das dennoch verteidigt werden musste, aber auch, wie er sie per Handschlag begrüßte. Er hatte Hände, wie sie nur die handwerklich Geschickten besaßen, der Daumen so weit vom Ansatz des Zeigefingers entfernt, dass die Handfläche eine perfekte runde Schale bildete.
Elsa war nicht ganz sicher, ob die Ethnologin sah, was sie sehen sollte. Sie wirkte unvorbereitet und kramte in ihrer Umhängetasche auf der Suche nach Notizbuch und Stift.
Vor Ragnar lag ein Baiser. Zu jenem kehrte er, kaum hatte er sich wieder gesetzt, zurück, und zwar mit einer Konzentration und einem Eifer, wie man sie selten an einem Erwachsenen einem Gebäck gegenüber sieht.
»Ich hätte pünktlicher sein müssen«, sagte die Ethnologin mit unglücklicher Miene. »Sie hätten doch nicht selbst für Kaffee und Kuchen bezahlen sollen.«
Zum zweiten Mal begegnete sie Ragnar Johanssons Blick, den nicht die kleinste Berechnung trübte.
»Würde das die Universität Stockholm in so einem Fall bezahlen?«
»Die Universität Uppsala.«
»Dann sind das also Steuergelder.«
Das war eher eine dankbare Feststellung als eine Frage.
»Warum sollten die Steuerzahler gerade heute für meinen Kuchen aufkommen?«
Er klang ernsthaft verwundert, als sei er mit einem Problem konfrontiert, zu dessen Lösung er Hilfe benötigte.
Die Ethnologin wirkte ratlos.
»Kommen Sie jeden Tag hierher?«, fragte sie.
»Nein.«
Ragnar befand sich jetzt im letzten Drittel des Baisers, das er ebenso sorgfältig aß wie die beiden anderen Teile.
»Kaffee trinke ich allerdings schon jeden Tag.«
Er sprach zögernd, in einem Tonfall, der zugleich völliges Desinteresse auszudrücken schien. Die Ethnologin, dachte Elsa, während sie dort saß, konnte unmöglich wissen, dass die Langsamkeit daher rührte, dass Ragnar Johansson die ganze Zeit das, was er sagte, einer inneren Wahrheitskontrolle unterzog, damit ihm ja nichts schlecht Durchdachtes, Falsches oder Unlogisches über die Lippen kam.
Als er das Gebäck in kleinen Bissen aufaß, hielt er die linke hohle Hand unter den Teelöffel, den die rechte Hand zum Mund führte. Nach jedem Bissen trank er einen Schluck vom schwarzen Filterkaffee. Nichts Ungefähres war an seinem Kuchenessen und Kaffeetrinken, nur Systematik und Genuss in sonderbarer Eintracht.
Die Ethnologin hatte bislang erst einmal achtlos von ihrer aufgeweichten Hefeschnecke abgebissen.
»Haben Sie die Mürbeteigschnecke genommen?«, fragte Elsa.
Die Ethnologin schaute auf ihr Gebäck und drehte es herum, als stünde der Name dort geschrieben.
»Ja, vielleicht, ich weiß nicht. Ich habe genommen, was gut aussah.«
»Ja«, sagte Ragnar Johansson zu sich selbst. »Das ist das Gute an Mürbeteigschnecken. Sie haben quasi eine krümelige Konsistenz.«
»Eigentlich mehr Plunder als Schnecke«, sagte Elsa. »Oder wie ein Zwischending zwischen Plunder und normaler Hefeschnecke.«
Ragnar nickte und fügte hinzu: »Plunder hat allerdings viel Fett. Das ist nicht gut.«
»Muss man das so stark klassifizieren?«, fragte die Ethnologin erstaunt und machte sich eine Notiz.
»Man muss wissen, was man isst«, erwiderte Ragnar.
»Die Fähigkeit zu unterscheiden, abzugrenzen, zu ordnen und zu differenzieren ist das, was alle Expertise verbindet«, warf Elsa mit einem kleinen, vielsagenden und leicht ironischen Lachen ein, wohl wissend, dass diese Auffassung in den akademischen Kreisen umstritten war, denen sowohl sie als auch die Ethnologin angehörten.
Dann trug die Wissenschaftlerin ihr Anliegen vor. Sie wollte über das schwedische Volksheim des 20. Jahrhunderts schreiben als Feld von Mentalisierungsprozessen und sozialer Mobilität. Bislang handelte es sich noch um eine Pilotstudie, Forschungsmittel waren nicht garantiert.
Ragnar warf einen arglosen Blick hinaus zum Marktplatz von Vällingby.
»Das scheint kompliziert«, sagte er und klang, als ob er mit diesem Leben abgeschlossen hätte.
Die Wissenschaftlerin erklärte, dass das, wonach sie suchte, noch vage war, aber in ihrem Inneren scharf umrissen. Als Wissenschaftlerin dürfe sie keine Metaphysikerin sein, sagte sie, die harte Empirie sei das einzig Taugliche, gleichzeitig müsse sie sich jedoch auf ihre Intuition verlassen, um etwas zu haben, worauf sie ihre Empirie bauen konnte, und sie wusste, dass das, was sie suchte, in irgendeinem relevanten Sinne des Wortes existierte und dass es wichtig war.
Ragnar sah sie an und sagte höflich, aber reserviert, dass er bei solch schwierigen Dingen leider bestimmt nicht aushelfen könne.
»Wie oft am Tag trinken Sie Kaffee?«
Die Frage wurde wie ein Angelhaken ausgeworfen, aufs Geratewohl und ohne Hoffnung auf einen besonderen Fang, aber Ragnar machte exakte Angaben:
»Dreimal. Um zehn Uhr morgens, um zwei Uhr mittags und abends, bevor ich ins Bett gehe.«
»Jeden Tag?«
»Mit Gebäck«, sagte Elsa, »immer mit Gebäck.«
»Na ja, ein bisschen Kuchen darf es schon sein.«
»Können Sie schlafen, wenn Sie direkt vor dem Zubettgehen Kaffee trinken?«
»Mit dem Schlafen hatte ich noch nie Probleme.«
»Er kann nicht ohne Kaffee schlafen«, sagte Elsa. »Bitterer Filterkaffee, der den ganzen Tag warm gehalten wurde.«
»An meinem Kaffee ist nichts auszusetzen. Heutzutage werden so furchtbar viele seltsame Sachen mit Kaffee gemacht. Es spritzt und zischt und braust und dröhnt, dass man gar nicht mehr hört, was die Leute sagen. Er schmeckt auch nicht besser, und man hat immer zu wenig in der Tasse.«
Elsa erwähnte der Ethnologin gegenüber, dass sie, wenn sie über dieses Thema schreiben wolle, nicht übersehen dürfe, welche Bedeutung das Nüchternsein für die bäuerlich geprägte schwedische Kaffeekultur habe.
»Dort, wo Angst vor den Auswirkungen starker alkoholischer Getränke auf die Arbeitsleistung herrscht, müssen Entspannung und Glück aus anderen Quellen kommen. So entstand die Tradition des Kaffeetrinkens mit...