E-Book, Deutsch, Band 12, 100 Seiten
Reihe: Gaslicht - Neue Edition
Anderson ... denn der Hass trägt Schwarz
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7409-9418-1
Verlag: Blattwerk Handel GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gaslicht - Neue Edition 12 - Mystikroman
E-Book, Deutsch, Band 12, 100 Seiten
Reihe: Gaslicht - Neue Edition
ISBN: 978-3-7409-9418-1
Verlag: Blattwerk Handel GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Melissa Anderson kennt sich im Liebesroman mit Thrillercharakter aus wie kaum eine andere Schriftstellerin. Dabei fallen auch ihre großartigen atmosphärisch dichten Naturbeschreibungen ins Gewicht. Sie hat für Spannungsreihen wie Irrlicht und Gaslicht bahnbrechende Romane geschrieben, die unter die Haut gingen auch wegen ihrer Kompetenz in dramatischen Fragen. Der schriftstellerischen Entwicklung dieser begabten, begnadeten Autorin hat ihr Umzug in die kanadische Wildnis, wo sie seit vielen Jahren lebt, offensichtlich gut getan. In Kanada ließ sie sich noch einmal neu inspirieren.
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Die alte graugesichtige Frau wandte sich ihr zu, und Claudette merkte, wie sie schwach wurde. Mit grausamen Augen starrte die Hexe sie an. Lauf! Lauf weg! Schnell, bevor es zu spät ist! schrie es in Claudette. Die unheimliche Frau kam auf sie zu, ohne ein Wort zu sagen, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Mit hölzernen Bewegungen wich das blonde Mädchen zurück. Und wieder hörte sie die Stimme in ihr, die ihr zurief, sie solle fliehen. Aber es war unmöglich, sich von Agatha Bellhams Anblick loszureißen. Näher, immer näher kam die grauenerregende Alte, und immer zwingender wurde ihr Blick…
Ein grauer Schatten kroch über die Wand, verharrte kurz und schob sich langsam weiter. Da waren Hände mit langen, dürren Fingern, die zitternd gespreizt wurden, und ein unheimliches Atmen geisterte durch den Raum.
Claudette Crawford keuchte, während die Angst ihre Kehle zuschnürte.
Jetzt löste sich der Schatten von der Wand und schwebte langsam auf sie zu. Bleich und vor Entsetzen erstarrt, lag das blonde Mädchen in seinem Bett.
Der Tod, dachte sie bebend. Sieht er so aus? Kommt er, um mich zu holen? Aber, ich bin noch so jung…
Der graue Schemen stand reglos im Raum, während Claudette den Schweiß über ihr Gesicht rinnen spürte. Ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf. Sie hatte sich noch nie so schrecklich gefürchtet.
Ich werde sterben, hallte es in ihr. Die Angst wird mich umbringen. Ich halte das nicht mehr lange aus.
Wieder bewegte sich die unheimliche Erscheinung, und Claudette biß sich die Lippe blutig. Wenn es ihr doch nur möglich gewesen wäre, zu fliehen. Aber sie konnte sich nicht rühren, sie war wie gelähmt und diesem grauenerregenden Schattenwesen hilflos ausgeliefert.
Die Erscheinung erreichte das Fußende des Bettes.
O Gott, ich bin verloren! schrie es in Claudette.
»Bitte…«, flüsterte sie mit ersterbender Stimme. »Ich flehe dich an, laß mich in Ruhe… Geh… Bitte, geh!«
Doch der Schatten kam näher. Er berührte die Bettdecke, und Claudette zog entsetzt die Beine an. Dunkelgraue Klauen krallten sich in die Decke. Ein jäher Ruck, und das blonde Mädchen war nicht länger zugedeckt. Hochflatternd flog die Decke durch den Raum und breitete sich über den Schaukelstuhl, der beim Fenster stand.
Nur mit einem Nachthemd bekleidet, lag Claudette auf dem weißen Laken. Eine fürchterliche Kälte kroch durch ihren Körper.
»Nein…«, schluchzte das verzweifelte Mädchen.
Scharfe Krallen kratzten über das Laken, und Claudette sah die Gespensterklaue unaufhaltsam näher kommen.
»Himmel, hilf…«
Aber der Himmel hatte kein Erbarmen. Wenige Zentimeter befand sich die Geisterhand noch von dem Mädchen entfernt.
Jetzt berührten die dürren Schattenfinger Claudettes Beine. Sie sehnte sich nach einer barmherzigen Ohnmacht, damit dieser Schrecken endlich aufhörte, aber sie verlor nicht das Bewußtsein.
Das unheimliche Wesen beugte sich über sie, und in diesem tiefen schattigen Grau wurde ein Gesicht sichtbar. Böse, gemein und haßverzerrt waren die Züge, und in den Augen glomm ein grausames Feuer.
Das überlebe ich nicht, dachte Claudette von Grauen geschüttelt und schluchzte.
Erst jetzt kamen ihr die Züge bekannt vor. Es war eine Frau, die sich über sie beugte. Keine Fremde, nein, dieses Gesicht war ihr sehr vertraut. Es gehörte Virginia, ihrer Schwester.
Aber wieso erschien ihr Virginia als Geist? Sie war nicht tot. Virginia lebte!
»Claudette!« flüsterte die unheimliche Erscheinung. »Liebste Schwester!«
Böse klang Virginias Stimme, als würde sie ihre um sieben Jahre jüngere Schwester abgrundtief hassen.
»Was… was willst du von mir?« fragte Claudette stockend vor Angst.
Virginias kalte Totenhand streichelte ihre fahle Wange. »Wie schön du bist. Du warst immer schöner als ich. Ich kann das nicht mehr ertragen.«
»Um Gottes willen, Virginia, was hast du vor?«
»Es soll vorbei sein mit deiner Schönheit, liebste Schwester. Niemandem sollst du mehr gefallen. Oder hast du schon gehört, daß die Menschen Tote hübsch finden?«
Der Schatten beugte sich tiefer herab, und im nächsten Augenblick legten sich die furchtbaren Klauen um Claudettes Hals.
»Stirb, schöne Claudette«, flüsterte die Spukgestalt. Dann drückte sie erbarmungslos zu.
Claudette schlug wie von Sinnen um sich, doch ihre Fäuste trafen die unheimliche Schwester nicht. Jeder Schlag ging durch die graue Schattengestalt.
Claudette rang verzweifelt nach Luft. Heiße Tränen rannen ihr über die zuckenden Wangen, während die Todesangst ihr Herz zum Bersten bringen wollte.
Plötzlich aber löste sich der furcht-erregende Schatten auf. Claudette merkte, daß sie wieder zugedeckt war.
*
Alles war wieder wie vorher. Der Geist war verschwunden.
Es dauerte sehr lange, bis Claudette begriff, daß sie nur geträumt hatte.
Zitternd schlug sie die Hände vors Gesicht und versuchte sich zu beruhigen. Kein quälender Traum war jemals so realistisch gewesen wie dieser. Sie hatte tatsächlich geglaubt, ihre letzte Stunde hätte geschlagen. Ihr Herz schlug immer noch heftig.
Claudette warf die Decke zur Seite und stand auf. Ihre Knie waren weich und gaben nach. Das blonde Mädchen mußte sich wieder auf das Bett setzen. Nach einer Weile versuchte Claudette es noch einmal. Sie stemmte sich hoch, machte Licht und wankte ins Bad.
Sie wusch sich das Gesicht mit kristallklarem, eiskaltem Wasser und fand allmählich ihr geistiges Gleichgewicht wieder.
Dennoch kehrte sie besorgt ins Bett zurück. Sie hatte Angst vor einer Fortsetzung des schrecklichen Traums.
Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Zu Virginia und deren Mann Steve, zu Anthony Howard, mit dem Claudette befreundet war…
Irgendwann fielen ihr die Augen zu. Sie wehrte sich vergeblich gegen den Schlaf. Er übermannte sie, aber der Alptraum fand keine Fortsetzung.
»Du siehst krank aus«, sagte An-thony Howard tags darauf zu Claudette. »Geht es dir nicht gut?«
Sie aßen in einem eleganten Restaurant in Mayfair. Anthony hatte angerufen und sie gebeten, mit ihm essen zu gehen. Er hatte ein lukratives Geschäft unter Dach und Fach gebracht und meinte, das müsse unbedingt gefeiert werden. Claudette wollte ihm die Freude nicht verderben, deshalb sagte sie zu, obwohl sie lieber zu Hause geblieben wäre.
Das blonde Mädchen seufzte. »Ich habe eine Nacht hinter mir, die wünsche ich nicht einmal meinem größten Feind.«
»Ein so bezauberndes, hübsches Mädchen wie du hat keine Feinde«, entgegnete Anthony.
Während sie nach dem langstieligen Weinglas griff, das vor ihr stand, fragte sie: »Hattest du schon mal einen Alptraum?«
Anthony lächelte. »Ich glaube, es gibt keinen Menschen, der davon verschont bleibt. Manche werden davon mehr, manche weniger heimgesucht. Du warst heute nacht an der Reihe, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Erzähl mir davon.«
»Meine Schwester Virginia erschien als unheimliches Schattengespenst in meinem Schlafzimmer und wollte mich umbringen.« Sie schwieg einen Moment, da ihr die Erinnerung daran eisige Schauern über den Rücken jagte. Dann fuhr sie fort: »Du hättest sie sehen müssen. Spinnendürre Finger hatte sie und messerscharfe Krallen. Und ihre Hände waren so kalt wie die einer Toten. Sie war voller Haß auf mich.«
»Manchmal leben wir in Träumen unsere Gefühle und Befürchtungen aus. Was wir bei Tag ins Unterbewußtsein verdrängen, kann nachts wieder hochkommen und zum Alptraum werden. Hattest du jemals Angst vor deiner Schwester?«
Claudette schüttelte den Kopf, ohne nachzudenken. »Nein, noch nie. Wir liebten uns manchmal nicht gerade besonders, aber das kommt bei allen Geschwistern vor. Meinungsverschiedenheiten gibt es überall. Doch wenn es darauf ankommt, halten Virginia und ich wie Pech und Schwefel zusammen, obwohl wir nicht immer einer Meinung sind.«
Anthony Howard nahm einen Schluck Wein. Seit sechs Monaten kannten sie sich. Claudette war mit ihm auf dem Trafalgar Square zusammengestoßen. Sie war mit einer randvollen Einkaufstüte unterwegs gewesen, über die sie kaum hatte sehen können.
Nach dem Zusammenstoß rollten Apfelsinen und Konservendosen davon. Zerbrochenes Knabbergebäck lag auf dem Boden, und aus einem aufgeplatzten Becher rann träge goldbrauner Bienenhonig.
Anthony Howard hatte sich mehrfach entschuldigt. Ihren Einwand, sie wäre doch die Schuldige, ließ er nicht gelten, und er bestand darauf, wiedergutmachen zu dürfen, was er angestellt hatte.
Er sah hervorragend aus, jung und sportlich, hatte eine ungemein männliche Ausstrahlung, und sein Lächeln genügte, um das Herz einer Frau im Sturm zu erobern.
Ein Funke war damals auf dem Trafalgar Square von ihm auf sie übergesprungen. Ein Funke, der immer noch nicht erloschen war.
Er brachte sie mit dem Wagen nach Hause und ließ sie wissen, daß sie ihn sehr glücklich machen würde, wenn sie sich verabreden würden.
Und so wurde aus einem zufälligen Zusammenstoß eine Freundschaft, aus der noch viel mehr zu werden versprach.
Anthony kannte auch Claudettes Schwester und deren Mann. Die beiden hatten bis vor kurzem in London gewohnt. Jetzt lebten sie auf dem Land. Stokewich hieß der kleine Ort.
»Ich mache mir Sorgen um Virginia«, gestand Claudette. »Sie ist ein Stadtmensch. Sie kann sich auf dem Land unmöglich wohl fühlen.«
»Sie und ihr Mann könnten jederzeit nach London zurückkehren. Nichts hindert sie daran«, sagte An-thony. »Anscheinend gefällt es ihnen in dieser Abgeschiedenheit doch.«
»Eben das...