E-Book, Deutsch, 282 Seiten
Andersen Sein oder Nichtsein
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-0409-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 282 Seiten
ISBN: 978-3-8496-0409-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als kleiner Junge verliert Niels Bryde seine Eltern und kommt unter die Obhut eines Pfarrers auf Jütland. Die Geborgenheit und das einfache Landleben prägen seine Kindheit. Nach einem Zerwürfnis mit dem Pflegevater zieht Niels in den Deutsch-Dänischen Krieg. Die furchtbaren Erlebnisse dort und der Cholera-Tod seiner Geliebten führen Niels zurück in die Familie.
Weitere Infos & Material
III. Der Pfarrhof auf der Haide. Musikanten-Grethe.
Über Silkeborg, dessen schnelles Emporblühen damals noch niemand ahnte, führte die tiefe, nur ein langsames Fortkommen gestattende, sandige Straße nach Niels an der Westküste liegenden neuen Heimat, dem alten Pfarrhofe am Fuße der Windingedalhügel, die durch den »Langsee« von umfangreichen Waldungen abgeschnitten und von der einem Meere gleich sich weithin ausdehnenden Haide begrenzt werden. Es war schon spät am Abend und dunkles Wetter; müde waren die Reisenden, müde die Pferde, und langsam ging es durch die Einsamkeit in lautloser Stille vorwärts. Plötzlich vernahm man Hundegebell.
»Das ist unser Kettenhund.« sagte der Pfarrer; »jeder Laut ist weit vernehmbar.«
Der Gruß des Hundes war der erste in der neuen Heimat. Wie sah es hier aus? Ja, schon seit einigen Stunden ließ sich in der dichten Finsternis nichts wahrnehmen und erkennen. Bereits den Abend vorher waren Wagen und Pferde nach Aarhuus gesandt, damit sich letztere ausruhen und frische Kräfte für die Rückreise sammeln könnten; allein jetzt waren die Kräfte erlahmt, langsam schlichen die Pferde die Straße entlang; Gott behüte, daß jetzt keines der Räder bricht! Der Sand wurde tiefer, die Nacht finsterer. Lange unterschied man das Brausen des Wassers durch die Schleusen am Gudenaa; bald wieder ertönte ein seltsamer Vogelschrei, bei dem Niels in die Höhe fuhr; aber selbst an dieses Fremdartige gewöhnte er sich allmählich, und seine müden Augen schlossen sich. Die einförmig langsame Bewegung des Wagens, das Scharren des Sandes gegen die Räder wiegten ihn in Schlaf, und die vielen Sagen und Erscheinungen dieser Gegend kannte er damals noch nicht, sonst würde der dunkle Abend sowohl sie wie ihn belebt haben.
Niels erwachte erst, als der Wagen im Pfarrhofe anhielt. Alles war in Bewegung, alles auf den Beinen; sogar die Lichter schienen in den Stuben umherzulaufen und zu rufen: »Jetzt kommen sie! Jetzt kommen sie!« Der Kettenhund bellte, der Hahn auf seiner Stange krähte und die Hühner gackerten; die Holzschuhe der Mägde klapperten über den Hof, und Mutter stand mit lächelndem Antlitz da und bekam einen Kuß. Dicht neben ihr stand ein nicht mehr ganz junges Mädchen mit ernst sinnenden, aber sanften Zügen. Es war achtundzwanzig Jahre alt und das einzige Kind der Pfarrersleute, es war Bodil. Lichter waren in die Fenster gestellt, eine ganze Illumination, und in der Wohnstube war der Tisch wie zu einem Feste gedeckt. Vater konnte heute nichts Ordentliches gegessen haben, denn Wirthshausessen ist doch nur halbes Essen, und deshalb bekam er jetzt eine warme Suppe, Hasenbraten und Bohnen.
Die Pfarrerfrau hatte viel zu erzählen, viel mehr als Vater, der doch so weit her kam: der Marder hatte fünf Enten geraubt, und von den Bildern war eines herabgefallen und hatte sie erschreckt; sie hatte geglaubt, es wäre ein böses Vorzeichen. Der Amtsrichter hatte mit seiner jungen Frau schon in dem westlichen Theile seines Bezirks Besuche abgestattet. Ja, es hatte sich viel in den vierzehn Tagen zugetragen, während deren sich Japetus Mollerup, ihr Väterchen, in Kopenhagen aufgehalten hatte.
Bodil trug besonders für Niels Sorge; freundlich und herzlich hieß sie ihn willkommen; selbst Mutter, die gottesfürchtige, wackre Pfarrerfrau, hieß ihn mit wohlthuenden Worten im Hause willkommen; aber sie konnte sich doch nicht verhehlen, daß sie lieber ein etwas moralisch verdorbenes Kind aufgenommen hätte, welches sie zum Guten führen, anleiten und erziehen durfte, das ihr Freude auf Erden und Lohn im Himmel gewähren konnte; ein solches würde sie mit größerer Herzlichkeit aufgenommen haben. So sind wir armen Menschen in unseren guten Vorsätzen!
Bodil führte Niels in sein Kämmerlein hinauf; Mutter legte ihm sehr ans Herz, ja das Licht auszulöschen; später kam Bodil selbst und sah nach, ob es geschehen war. Weich und schön lag er im Bette in dem reinen frischen Leinen und betete sein Vaterunser; aber wie müde er auch war, fühlte er sich doch außer Stande, sofort einzuschlafen.
Noch waren kaum vierundzwanzig Stunden verflossen, seitdem er Kopenhagen und seine alte Heimat, den »Runden Thurm« verlassen hatte. In dieser kurzen Zeit hatte er so unendlich viel erlebt, wie sonst in Jahren nicht. Er war auf dem Dampfschiffe gewesen und auf diesem segellosen Schiffe in herrlichem Wetter an mehr als hundert Schiffen vorübergeflogen, die alle ihre Segel beisetzten und ihnen doch nicht zu folgen vermochten. Er hatte die ganze Küste Seelands, Helsingör nebst Kronburg gesehen, ja sie waren der schwedischen Küste so nahe gekommen, daß man auf ihr Menschen zu Fuß und zu Pferde gewahrte. In Jütland war er in einer ganz fremden Stadt an das Land gestiegen und von dort über bedeutende Anhöhen, von denen man eine weite Aussicht hatte, eine große Strecke gefahren. Er war an Sandhügeln, so hoch erhaben, wie er sich die Berge vorstellte, vorübergekommen und in große Wälder hinein- und wieder hinausgefahren, immer in stiller Einsamkeit. In dem Wirthshause, in dem sie Rast hielten, war ihm alles, sogar die Sprache, vollkommen fremd, und jetzt war dieses Land, diese Stätte hier, von der er nichts wußte, wo ihm alle Menschen fremd waren, seine Heimat. Diese Gedanken erfüllten sein Gemüth und hielten seine Augen offen.
Durch das Fenster schien ein großer Stern zu ihm hinein; er kannte ihn; gerade derselbe hatte, wie es ihm schien, von derselben Stelle aus und in gleicher Höhe, dort oben auf dem Thurme manchen Abend zu ihm hereingestrahlt; er war ihm hier herüber gefolgt. Er freute sich darüber wie über den Anblick eines alten Freundes, sprach sein Abendgebet noch einmal und schlief dann ein.
Als er am nächsten Morgen zum Thee gerufen wurde, klang ihm Musik entgegen, lange, getragene Töne, wie von einer Schalmei oder Harmonika; von letzterer rührten sie her. In der Wohnstube saß eine Bauerfrau, die dem Instrumente mit großem Ernste Melodien entlockte, die wie ein altes Bardenlied klangen. Aus wunderbar großen, blauen Augen blickte ihn die Alte an.
Der Pfarrer saß im Lehnstuhle und sagte, als der letzte Ton verhallt war, mit freundlichem Lächeln: »Besten Dank, Grethe! Das war also der Gruß zum Willkommen! Ich wußte wohl, daß Euch euer Herz treiben würde, ihn mir zu bringen.«
»Ja,« erwiederte sie, »ich wußte, daß Ihr gestern Abend heimkehren würdet, und blieb lange über meine Schlafzeit auf, um Euch mein Willkommen bei der Rückkehr von der Königsstadt Kopenhagen, dieser langen, langen Reise zu bringen. Ich stand in meiner Thür und wartete; aber als es sich allzu lange über die Zeit hinauszog, kroch ich in das Bett und bin deshalb erst heute Morgen hierher gekommen.« Dabei küßte sie die Hand des Pfarrers.
Es war »Musikanten-Grethe«, wie sie genannt wurde. Sie wohnte in einem aus Torf gebauten Hause am Fuße des Hügels. Sie hatte sich hier mit dem Besten, was sie hatte, mit ihrem Schatze in dieser Welt eingefunden, und noch dazu mit einem Schatze, der sich gut verzinste. Viele Jahre besaß sie bereits diese Harmonika, und in Folge ihres merkwürdig guten Gehörs hatte sie sie spielen gelernt, ohne eine Note zu kennen. Jede alte Melodie, die sie singen konnte, jedes neue Lied, das sie hörte, konnte sie, einzig und allein von ihrem musikalischen Gehör geleitet, gar bald auf dem Instrumente spielen. Es wurde ihr zu einer kleinen Erwerbsquelle, indem sie bei Bauernhochzeiten bisweilen zum Tanze aufspielte. Dafür liebte sie diese Harmonika auch so innig, als wäre sie ein lebendes Wesen und freute sich über ihre Töne. Musik war nun einmal ihres Lebens Seligkeit. Eine aufrichtige Freude war es für sie, wenn sie einmal nach dem etwas entfernteren Kirchspiele kam, wo die jungen Pfarrerleute ein Klavier besaßen, welches die Frau wunderbar schön spielte. Oft hatte Musikanten-Grethe draußen auf dem Gange gestanden und der himmlischen Musik zugelauscht. Einige Male war sie hereingerufen worden, und als sie einmal mit der Pfarrerfrau allein gewesen und ihre Schüchternheit besiegt hatte, war es ihr zuletzt nach einigen Versuchen gelungen, die Melodie nachzuspielen. Wäre Musikanten-Grethe in anderen Lebensverhältnissen und in einer anderen Umgebung geboren, so wäre sie bei ihrem musikalischen Genie vielleicht eine europäische Größe in der Welt der Töne geworden; jetzt war sie nur die Musikanten-Grethe.
Sie war Niels erste Bekanntschaft in seiner neuen Heimat; bald kamen aber noch andere Persönlichkeiten zum Vorschein, Knechte und Mägde, Geflügel und Vierfüßler, kurz alles, was zum Hause gehörte, und alles war lustig anzusehen und bildete den vollkommenen Gegensatz zu dem, was Kopenhagen und die Stube auf dem »Runden Thurme« darbot. Einen Hund gab es zwar hier im Pfarrhofe ebenfalls, aber er lag an der Kette, bellte allerdings, kannte jedoch das Haus und wußte folglich, wer dazu gehörte. Die Schweine grunzten, die Enten schnatterten, Tauben und Sperlinge gingen friedlich umher, die Mägde nickten, die Knechte sangen; aber die Sprache war für Niels nicht leicht zu verstehen, sie schien ihm der Kopenhagener Sprechweise gar nicht zu ähneln.
Es war ein wahrhaft christliches Haus, in welches Niels eingetreten; es waren gute Menschen, mit dem besten Willen zum Guten beseelt. Hier herrschte viel Herzlichkeit und nur ein wenig zu viel Tabaksrauch. Daran war Vater Schuld, und trotzdem gönnten ihm alle das Vergnügen, welches er dabei empfand. Mutter und Bodil hatten sich ja...




