E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Andersen Das geheime Turmzimmer
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99312-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-492-99312-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Kapitel 5
Willkommen auf Deeprath Castle, Miss Ryan.«
Nessa Gallagher machte keinerlei Anstalten, ihr die Hand zu reichen. Wäre sie dazu geneigt gewesen, hätte sie zweifellos erwartet, dass Carragh ihr den schweren Silberring küsste. Der Ring war Nessas einziger Schmuck. Gekleidet war sie in neutrales Tweed und trug einen blauvioletten Seidenschal um den Hals, der großartig zu ihrem weißen Haar passte.
Carragh bereute ihren ketzerischen Gedanken, als sie den Gehstock bemerkte, auf den sich die alte Dame mit der linken Hand stützte. Selbstverständlich gab sich Lady Nessa Gallagher nicht mit modernem Metall und Kunststoff ab. Der vergoldete Griff war aufwendig mit Schnörkeln verziert und verjüngte sich zu einem Perlmuttschaft, der wiederum auf einem wunderschönen Stock aus dunkel poliertem Holz aufsetzte. Der Gummifuß am Ende des Stockes war ein kleines Zugeständnis an die Zweckmäßigkeit, der Gehstock selbst aber war mindestens hundert Jahre alt.
Genau genommen wirkte Nessa gebrechlicher als an jenem Tag in der Hotelsuite, als sie der Bewerberin so überaus souverän gegenübergesessen hatte. Sie mochte allen Stolz der Welt in sich tragen, aber auch der stärkste Wille hatte keine Macht über das Alter. Carragh gelobte im Stillen, nicht zu rasch über andere zu urteilen.
Während Nessa dem Fahrer Anweisungen bezüglich des Koffers gab, nutzte Carragh die Gelegenheit, um die Eingangshalle aus der Tudorzeit näher zu betrachten. Sie erinnerte an die Miniaturausgabe eines königlichen Rittersaales – ein dunkler Holzboden und Wände, die bis in Schulterhöhe getäfelt waren, darüber weiß verputzte Wände, die sich bis zur eindrucksvollen hohen Stuckbalkendecke erstreckten. Aufgrund der Zwischenräume zwischen den antiken Balken wirkte der Raum ausgesprochen luftig. In den Stein des riesigen Tudorkamins waren das Familienwappen und das Motto der Gallaghers eingehauen: drei Bergspitzen (für Wicklow), ein irischer Rundturm (für Glendalough), und in der Mitte stach ein purpurroter Greif hervor, halb Adler, halb Löwe. Das lateinische Motto? Non Nobis Solum. Wir leben nicht allein für uns.
Carragh schüttelte den Kopf, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Vor zwei Stunden war sie im hektischen Dublin in den Zug gestiegen, und sogar Rathdrum, wo sie ausgestiegen war, ließ sich eindeutig dem einundzwanzigsten Jahrhundert zuordnen. Aber irgendwo auf der Fahrt musste sie in eine andere Zeit, an einen anderen Ort und in ein anderes Klima gelangt sein. In Dublin war es nasskalt gewesen, in Rathdrum hatte sie hier und da einige Sonnenstrahlen gesehen. Deeprath aber lag unter einem stahlgrauen Himmel und wirkte … nun ja, nicht gerade feindselig. Aber eindeutig zurückhaltend. Vorsichtig abwartend, bis der Gast als zu leicht oder zu schwer befunden worden wäre.
»Ich dachte, Sie möchten vielleicht einen Rundgang machen, bevor Sie Ihr Zimmer aufsuchen«, sagte Nessa höflich. »Falls Sie nicht zu erschöpft sind.«
Klar, weil eine Achtundzwanzigjährige einer Achtundachtzigjährigen gegenüber dann zugegeben hätte, dass sie müde war. »Vielen Dank, das ist sehr freundlich.«
Die Frau, die die Tür geöffnet hatte, trat einen Schritt auf sie zu, aber Nessa wehrte ab. »Das erledige ich selbst, Missis Bell.«
»Sind Sie sicher? Sie sollten sich wirklich mehr schonen, Lady Nessa.«
Carragh fand, dass Mrs Bell sympathisch aussah – vermutlich in etwa so alt wie ihre Mutter, wenn sie das allmählich verbleichende Naturblond ihres Haars und die feinen Fältchen um Mund und Augen in Betracht zog. Offenbar hatte sie Sinn für Humor. Sie sprach respektvoll mit Nessa Gallagher, aber in ihren Worten schwang auch eine gewisse Vertrautheit mit. Carragh schloss daraus, dass sie das Haus und die Familie gut kannte.
Nessa bestätigte ihre Vermutung. »Miss Ryan, wenn Sie irgendetwas brauchen, finden Sie Missis Bell gleich in dem Raum neben der Küche. Sie ist seit fünfundvierzig Jahren auf Deeprath, und außer der Familie kennt sich hier niemand besser aus als sie. Sie wird sich in allen Belangen um Ihr Wohl kümmern.«
Carragh lächelte sie an. »Ich will versuchen, Ihnen möglichst wenig Mühe zu machen, Missis Bell.«
»Das ist doch keine Mühe! Wie schön, wieder Leben im Haus zu haben! Hier in der Burg war es viel zu lange viel zu still.«
Vielleicht lag hierin auch der Grund, weshalb Nessa die Führung durch Deeprath Castle übernehmen wollte – weil Cillian und Lily Gallagher hier vor dreiundzwanzig Jahren eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Nach dem schrecklichen Ereignis hatte Nessa die zwei Kinder ihres Neffen mitgenommen und sie in ihrem Haus in Kilkenny großgezogen. Seitdem hatte Deeprath leer gestanden.
Kaum hatte Carragh die Zusage zu der Stelle bekommen, hatte sie alles recherchiert, was es außer zu Evan Chase und seiner viktorianischen Tragödie zu wissen gab. Der Mord an dem sechzehnten Viscount Gallagher und seiner reichen amerikanischen Frau Lily im Jahr 1992 hatte für ähnliches Aufsehen gesorgt wie Prinzessin Dianas Tod oder das Verschwinden von Lord Lucan in den Siebzigerjahren. Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin waren damals nicht öffentlich gemacht worden. Zwischen den Zeilen (und in den Boulevardblättern, für die dies ein gefundenes Fressen war) hatte Carragh herausgefunden, dass viele vermuteten, Lily habe erst ihren Mann und dann sich selbst getötet. Offiziell galt der Fall als ungelöst.
Kurz hatte Carragh gegen aufkeimende Panik zu kämpfen gehabt. Dieses Haus und seine Familie trugen tiefe Narben eines schrecklichen Traumas. Ihre eigenen Dämonen ließen sie seit Jahren endlich in Ruhe. Sie hatte nicht die Absicht, sie wieder aufzuscheuchen. Genau das hatte sie auch ihrer Mutter gesagt, als sie wieder mit diesem dummen, unerwünschten, ungelesenen Brief anfing.
Doch dann hatte sie einmal tief durchgeatmet und sich daran erinnert, dass ihr Aufenthalt der Bibliothek und ihrer Geschichte galt und nicht den heutigen Gallaghers. Wahrscheinlich bekam sie die meisten von ihnen nicht einmal zu Gesicht.
Kaum hatte Nessa mit ihr die Eingangshalle verlassen, erzählte sie ihr auch schon Geschichten von der Familie der Gallaghers und deren jeweiligen Vermächtnissen auf den Gebieten der Architektur und Innenarchitektur. Sie war eine kenntnisreiche Fremdenführerin, wenn auch etwas nüchtern. Carragh hätte sich gewünscht, mehr über die Bewohner der Burg und ihre Lebensgeschichten zu erfahren, bekam aber mehr oder weniger nur trockene Zahlen und Fakten.
Diese Damasttapete importierte die französische Frau des elften Viscounts … 1801 ließ Henry Gallagher sein Schlafzimmer schwarz streichen, weil der Act of Union in Kraft trat … William Gallagher ließ 1745 Steinmetze eigens aus Italien kommen, um die Zinnen wieder instand zu setzen …
Von der Eingangshalle im Tudorstil mit ihrem riesigen Kamin aus verziertem Naturstein und einer hoch aufragenden, kunstvollen Balkendecke ging es in den Regencyflügel. Auch hier gab es herrliche Stuckarbeiten und geschnitzte Holztäfelungen zu bewundern, obwohl Feuchtigkeit und der Zahn der Zeit deutliche Spuren hinterlassen hatten. Der 1920 renovierte Flügel beherbergte einen Frühstücksraum, einen Salon und ein vor Maskulinität nur so strotzendes Arbeitszimmer mit viktorianischem Schreibtisch und Bücherregalen.
»Dieses Zimmer wurde von Michael gestaltet, dem dreizehnten Viscount Gallagher«, erläuterte Nessa und weckte damit Carraghs Neugier. Michael Gallagher war Evan Chases Schwiegervater gewesen. In diesem Raum hatten beide bestimmt oft gesessen und sich unterhalten. Vielleicht hatte Evan Chase ja genau hier allen Mut zusammengenommen und bei dem Viscount um die Hand seiner Tochter angehalten.
Dann gingen sie zum zweiten, älteren Flügel hinüber. Hier hatte man das mittelalterliche Gemäuer nach und nach mit neuerer Architektur verbaut, also während der Epoche der Stuarts und des Elisabethanischen Zeitalters. In diesem Teil der Burg lag auch die Kapelle, in der seit zwei Jahrhunderten eine ganz andere Form der Verehrung praktiziert wurde: die Bibliothek.
Zu Carraghs großer Ernüchterung war die Bibliothek verschlossen. Offenbar bemerkte Nessa ihre Enttäuschung, denn sie hielt kurz inne.
»Das hat der Viscount so veranlasst«, bemerkte die alte Dame knapp und deutete auf das moderne Yale-Zylinderschloss, das als Fremdkörper förmlich in die Augen stach. »Seit neunzehnhundertzweiundneunzig. Es gibt zwei Schlüssel. Einer ist im Besitz meines Großneffen, den anderen hat Mister Bell, der Verwalter. Wir müssen warten, bis Aidan die Bibliothek aufschließt. Er wird für morgen erwartet.«
»Dies war früher die Familienkapelle, nicht wahr?«
»Ganz recht. Fünfzehnhundertzwölf erbaut als Ersatz für das Oratorium.«
Carragh wirkte wohl leicht verständnislos, und Nessa wurde etwas ausführlicher. »Sie haben zweifellos die alten Stallungen rechts von der Burg bemerkt. Heutzutage nutzen wir sie als Garage und für Gartengeräte. Gleich dahinter befindet sich das alte Oratorium, das aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt. Drei seiner Wände und Reste vom Altar stehen zum Teil noch. Mehr ist aber nicht übrig.«
Carraghs Enttäuschung angesichts der verschlossenen Bibliothek verflog sofort, als ihr Blick auf die Wände dahinter fiel. Sie bestanden aus grob behauenem Stein, und ihr ungeheuer hohes Alter ließ sich fast mit Händen greifen. Auch ohne einen Hinweis von Nessa wusste sie sofort, dass es sich um den alten normannischen Wehrturm handelte. Die Wände waren ursprünglich Außenmauern gewesen, die den später angebauten Gebäuden als Stütze dienten. In die massive...