Eine Entdeckung
E-Book, Deutsch, 189 Seiten
ISBN: 978-3-7518-2049-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Wie die Sonne entdeckt wurde
»When we look at the twinkling light of the stars, we need all our powers of imagination to visualize what they really are.« Cecilia Payne-Gaposchkin, 19261 Die Sonne im Blick
Wenn wir Menschen heute in den Nachthimmel schauen, dann sehen wir dort die Planeten als besonders helle Punkte, und wir sehen unzählige Sterne. Wenn wir Glück haben (und gute Augen) auch unsere Nachbargalaxie Andromeda – und selbst bei schlechten Lichtverhältnissen sehen wir eine rasant wachsende Zahl über den Himmel eilender Satelliten und vielleicht auch ein paar blinkende Flugzeuge. Wir haben dabei zumindest eine grobe Vorstellung davon, was sich dort draußen im Kosmos abspielt, wissen vielleicht, dass die Erde der drittinnerste Planet in unserem Sonnensystem ist, dessen nächster Nachbarstern sich in der weiten Entfernung von 4,2 Lichtjahren befindet, und dass sich dieses System in 26 000 Lichtjahren Entfernung um das Zentrum einer Spiralgalaxie bewegt, die wir Milchstraße nennen. Deren Querschnitt sehen wir in dunklen Nächten als helles Band aus Sternen am Himmel, doch ist dieser Anblick angesichts verbreiteter Lichtverschmutzung selten geworden. Wir wissen heute zwar mehr über den Kosmos als je zuvor in der Menschheitsgeschichte, doch gleichzeitig ist dieses Wissen weniger denn je in unserem Alltag verankert. Diese kosmische Alltagsentkoppelung hat auch damit zu tun, dass wir heute, anders als unsere Vorfahren, dank unserer Technologien in einer Position sind, in der wir insbesondere den Lauf der Sonne, aber auch den aller anderen Himmelskörper weitgehend ignorieren können. Die Sonne, und mit ihr das Wetter, scheint höchstens noch praktische Relevanz zu besitzen, wenn es um die Wahl der Verkehrsmittel oder der Freizeitaktivitäten geht. Doch als Informationsquelle dient uns heute nicht mehr der Blick in den Himmel, sondern unser Smartphone, das uns Navigation, Uhrzeit, Kalender und Wettervorhersage bereitstellt. Damit hat sich unser In-der-Welt-Sein im Vergleich zu den Zehntausenden Jahren der Menschheitsgeschichte vor uns radikal verändert. Unsere Vorfahren lebten im Bewusstsein der Abhängigkeit von diesem mächtigen Himmelskörper, der ihren Alltagsrhythmus ebenso bestimmte wie den Gang der Jahreszeiten. Sie richteten Gräber und Tempel nach dem Lauf der Sonne aus und kamen nicht umhin, sie aufmerksam zu beobachten, wenn sie ein gutes Leben führen wollten. Heute laufen wir Gefahr, dieses praktische Wissen aus beobachtender Nähe zur Sonne zu verlieren – und damit unsere historisch so enge Beziehung zu unserem Heimatstern zusammen mit einem echten Gefühl für unsere Position im Kosmos. Nicht nur deshalb mag es aufschlussreich sein, mit der historisch ersten Entdeckung der Sonne zu beginnen und zu fragen: Was haben unsere Vorfahren aus der Beobachtung der Sonne über unseren Kosmos lernen können? Was sagt uns die Sonne als Bindeglied zwischen uns und dem All? Was können wir entdecken, wenn wir die Sonne ohne weitere Hilfsmittel einfach nur in ihrem jährlichen Lauf beobachten? Der Lauf der Sonne
Die augenfälligste Wirkung der Sonne auf unser Leben besteht in den Jahreszeiten, die sich nicht nur durch unterschiedliche Tageslängen und Temperaturen auszeichnen, sondern auch durch den sich verändernden Lauf der Sonne. Wer diesen über das Jahr hinweg aufmerksam beobachtet – wozu die Wenigsten heute noch in der Lage sind –, dem fällt natürlich auf, dass die Mittagssonne vom Frühjahr bis zum Sommer auf der Nordhalbkugel jeden Tag immer höher steigt, bis sie zur Sommersonnenwende ihren höchsten Stand erreicht. Anschließend sinkt ihr höchster Punkt wieder tiefer und erreicht im Winter seine minimale Höhe, zusammen mit der kürzesten Tageslänge. Der längste und der kürzeste Tag im Jahr, Sommer- und Wintersonnenwende am 20., 21. oder 22. Juni beziehungsweise am 21. oder 22. Dezember, sind daher bemerkenswerte Daten. An ihnen besitzen Schatten beim höchsten Sonnenstand maximale oder minimale Länge. Auffällig sind außerdem diejenigen Zeitpunkte, an denen Tag und Nacht jeweils gleich lang sind und die als »Equinox«, als Tagundnachtgleiche, den Beginn von Frühling und Herbst markieren. Nicht nur die Tageslängen und Höchststände der Sonne ändern sich über das Jahr hinweg. Der geduldige Beobachter bemerkt außerdem, dass die Orte des Sonnenauf- und untergangs am Horizont variieren – von Südost nach Nordost sowie von Südwest nach Nordwest und wieder zurück. Nur an den beiden Tagundnachtgleichen geht die Sonne genau im Osten auf und im Westen unter. Die Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs am Horizont hängt dabei nicht nur vom Datum ab, sondern auch von der Position des Beobachters auf der Erde – genauer: von der geografischen Breite seiner Position. Während oberhalb des Polarkreises die Sonne im Hochsommer nie unter- und im tiefsten Winter nie aufgeht, variiert die Tageslänge über das Jahr am Äquator nur wenig. Die ersten Bauern im Neolithikum ab etwa 10 000 v. Chr. waren bereits aufmerksame Sonnenbeobachter. Bei Aussaat und Ernte waren sie in deutlich stärkerem Maße von den Jahreszeiten abhängig als ihre wandernden und jagenden Vorfahren. Bauwerke der Jungsteinzeit wie etwa der irische Newgrange-Grabhügel oder das bekannte Stonehenge-Monument weisen Ausrichtungen auf, die offenbar so geplant wurden, dass sie zur Winter- oder auch Sommersonnenwende beziehungsweise zu den Tagundnachtgleichen bei Sonnenaufgang in besonderer Weise erleuchtet werden. Dadurch lieferten sie zeitliche Orientierung im Jahreslauf. Solche architektonischen Besonderheiten findet man auch später noch weltweit in Kultstätten von praktisch allen Kulturen. Im mexikanischen Chichén Itzá etwa wird die Pyramide des Kukulkán, gebaut vermutlich um das Jahr 1000 n. Chr., um die beiden Tagundnachtgleichen zum Sonnenuntergang so beleuchtet, dass eine Schlange die Pyramide hinabzugleiten scheint.2 Die Inkastadt Machu Picchu beherbergt verschiedene Bauwerke, die auf den Sonnenstand zu den Sonnenwenden Bezug nehmen.3 Im peruanischen Chanquillo wurden im 4. Jahrhundert v. Chr. 13 Türme so errichtet, dass sie als präzise Messskala für die sich über das Jahr hinweg am Horizont verschiebenden Sonnenaufgänge dienen konnten.4 Es gibt unzählige weitere Beispiele für solche astronomischen Bauten – auch wenn deren astroarchäologische Deutung im Rückblick nicht immer einfach und oft kontrovers ist. Doch sie verdeutlichen, wie wichtig es während des größten Teils der Menschheitsgeschichte war, anhand des Laufs der Sonne die richtigen Zeitpunkte für Saat und Ernte, aber auch für heilige Rituale zu ermitteln. Frühe Hochkulturen wie die chinesische, die ägyptische oder die babylonische berücksichtigten den Stand der Sonne nicht nur in ihren Bauwerken,5 sie erstellten auch umfangreiche Aufzeichnungen zu besonderen Himmelsereignissen und der Position der Himmelskörper. Zur Protokollierung des Sonnenstands im Jahreslauf existiert ein besonders einfaches Instrument: der Gnomon, ein senkrecht im Boden steckender Stab. Seine Verwendung ist in China und Babylonien bereits für die Zeit vor mehr als 2000 Jahren v. Chr. nachgewiesen.6 Wenn man die Schattenrichtungen zu Mittag (beziehungsweise die Winkelhalbierende zwischen zwei gleich langen Schatten, die vor und nach Mittag beobachtet wurden) markiert, kann man damit die Himmelsrichtung Norden bestimmen. Die Schattenlänge zu Mittag zeigt wiederum die Jahreszeit und in ihren Extremwerten die Sonnenwenden an – je höher die Sonne im Sommer steigt, desto kürzer der Schatten. Der Vergleich der Mittags-Schattenlängen an verschiedenen Standorten schließlich ermöglicht eine Schätzung der geografischen Breite. Sofern der Schatten noch zu anderen Tageszeiten als nur mittags protokolliert wird, wird aus dem Gnomon eine Sonnenuhr, eine Anwendung, die etwa für das Alte Ägypten dokumentiert ist.7 Dass ein Jahr, ein voller Durchlauf der vier Jahreszeiten, aus rund 365 Tagen besteht, beobachteten viele der frühen Hochkulturen. Für die Erstellung von verlässlichen Kalendern ergibt sich allerdings das Problem, dass die Jahreslänge – also die Zeit, bis Erde und Sonne nach einem Umlauf der Erde wieder die gleiche relative Position zueinander einnehmen – keinem ganzzahligen Vielfachen der Tageslänge entspricht, sondern sie beträgt 365 Tage und knapp 6 Stunden. Sofern ein Jahr als Zeitraum von 365 Sonnentagen definiert wird, also ohne Berücksichtigung der zusätzlichen sechs Stunden, verschieben sich Kalender und Jahreszeiten mit der Zeit relativ zueinander. Dass man diesen Effekt durch die Einführung eines Schalttages alle vier Jahre grob kompensieren kann, bemerkte bereits Erastosthenes von Kyrene im 3. Jahrhundert v. Chr. Im Jahr 238 v. Chr. ließ Pharao Ptolemaios III. einen solchen Schalttag einführen,8 später griff auch Julius Cäsar diese Lösung auf. Im gregorianischen...