Amir | Schwein und Zeit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

Amir Schwein und Zeit

Tiere, Politik, Revolte
2. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96054-275-9
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Tiere, Politik, Revolte

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

ISBN: 978-3-96054-275-9
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ausgezeichnet mit dem Karl-Marx-Preis 2018

"Bei Tieren wird die Linke rechts", postuliert Fahim Amir und holt zum Gegenschlag aus. Kritik an Umweltzerstörung oder industrieller Tierhaltung basiert meist auf konservativen Ideen einer "unberührten Natur" oder auf der ökokapitalistischen Sorge um nachhaltiges Ressourcenmanagement.
Gegen die Romantisierung der Natur setzt Amir Politik statt Ethik. Statt Tiere kulturpessimistisch zu bloßen Opfern zu erklären, wird ihre Geschichte aus einer Perspektive der Kämpfe erzählt: Wie renitente Schweine maßgeblich die Entwicklung der modernen Fabrik bestimmt haben. Wie unbeherrschte Ansammlungen von Menschen und Tieren sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Zähmung New Yorks widersetzten. Wie Singvögel in der Stadt sich dank hoher Östrogenspiegel im Abwasser dopen und das Nikotin von Zigarettenstummeln zur Parasitenabwehr in ihren Nestern nutzen. Die Geschichte malariöser Moskitos und der Versuche ihrer Bekämpfung wirft ein stroboskophaftes Licht auf neokoloniale Beziehungen zwischen medizinischen und politischen Fieberschüben.
Es gibt kein Zurück in die vermeintlich reine Natur – neue urbane Ökologien sind jedoch eine Chance für neue Konzepte des Miteinanders und Gegeneinanders. Nicht um moralische Selbsterhöhung oder marktförmige Imaginationen gesellschaftlicher Reform durch korrekten Konsum geht es hier, sondern um utopische Momente, die die Gegenwart zum Stottern bringen.

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EINLEITUNG
Nur ein Verrückter würde behaupten, Tiere seien politisch. Dieser Verrückte bin ich. Vielleicht erscheint die Idee politischer Tiere nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr ganz so verrückt. Aber selbst wenn, ist dies möglicherweise nicht ganz so schlimm, versicherte uns einst eine deutsch-amerikanische Diva: Wer nicht verrückt wird, der ist nicht normal. Damit sind wir schon bei einer der Gewissheiten, die dieses Buch in Zweifel zieht. Ist der sogenannte Vollbesitz menschlicher Fähigkeiten eine unbedingte Voraussetzung dafür, politisch zu sein, und wen schließt das aus? Diese Fragen lassen sich bis zu den Ursprüngen des Wortes »politisch« zurückverfolgen, das sich von der altgriechischen Polis ableitet: Dabei handelte es sich um die Bezeichnung für das religiöse und administrative Zentrum des antiken Stadtstaates sowie für die dort versammelten Bürger. Seit es das Wort überhaupt gibt, war der Ort des Politischen als ein Raum definiert, zu dem weder Pflanzen noch Tiere, weder Sklaven noch Frauen Zutritt hatten. Hier waren nur freie griechische Männer zugelassen. Alle anderen wurden an den Rand der Polis verbannt, wo sie entweder arbeiten mussten oder aufgefressen wurden. Im Gegensatz dazu argumentiert dieses Buch, dass es reicht, sich der eigenen Beherrschung zu widersetzen, um politisch aktiv zu sein. Der Raum des Widerständigen ist durch ein Kontinuum von Widerstandsformen gekennzeichnet, nicht von einer »the winner takes it all«-Situation, wo alles Menschliche politisch ist und alles Nichtmenschliche frei davon. Zwischen der Widerständigkeit eines Tierknochens gegen seine Bearbeitung und dem voll ausgewachsenen Widerstand einer revolutionär gesinnten Organisation, die ihre Feuertaufen in zahlreichen historischen Konflikten bestanden hat, gibt es ein Kontinuum von Widerstandsformen. Tiere sind Teil davon, so ein wesentlicher Gedanke dieses Buches. Das bedeutet keine Gleichmachung mit Menschen, sondern die Herausarbeitung »partieller Verbindungen«1. Kategorien haben ihren Sinn, denn sie ermöglichen Orientierung. Zugleich ist sowohl die Welt selbst in Veränderung als auch die Begriffe und Theorien, die versuchen, sich einen Reim auf diese Welt-in-Bewegung zu machen. Dies gilt besonders für die Moderne: Da Kapitalismus immer ein Neo-Kapitalismus ist, der seine Grundlagen und Mittel unaufhörlich revolutioniert, hinkt die Theorie meist der gesellschaftlich-konkreten Veränderung hinterher. Zugleich leben wir nach wie vor im Kapitalismus, nicht im Postkapitalismus, deshalb ist die Aufmerksamkeit gegenüber Neuem genauso wichtig wie strukturelle Kontinuitäten nicht aus dem Blick zu verlieren. Hinzu kommt das Erfordernis, die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Diskursen auf der Höhe der Zeit zu suchen, ohne sich die kritischen Haare vom Kopf wehen zu lassen. Angesichts des Gegenwinds neigt das kritische Denken dazu, sich zu verhärten, sich auf die Verteidigung des einmal Erkannten zu versteifen, aus Angst, dies auch noch zu verlieren – nachdem die gesellschaftliche Realität wenig Anlass zur Hoffnung auf einen Wetterwechsel gibt. Gerade in dieser Situation wäre es paradoxerweise noch wichtiger voranzuschreiten, die adäquatesten und ermächtigendsten Gedanken zur Funktionsweise der Gegenwart vorzulegen und die engagiertesten Kräfte der Gesellschaft um die konsequentesten Analysen herum zu sammeln. Zu den engagiertesten Kräften der Gesellschaft zählen zunehmend diejenigen, die sich auf Tiere beziehen. Die Reaktion des Staates auf tierpolitischen Aktivismus spricht Bände – wie im Fall des »Wiener Neustädter Tierschützerprozesses« und seiner beunruhigenden Umstände.2 Immer mehr Menschen politisieren sich über die Kritik an der gesellschaftlichen Behandlung von Tieren. Diese positive Entwicklung durch gesellschaftstheoretische und sozialhistorische Analysen zu reflektieren ist Ziel dieses Buches und ein Beitrag zu kritischer Philosophie – diese verstand Marx, wie er es in seinem Brief an Arnold Ruge 1843 selbst ausdrückte, als »Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche«3. Bei Tieren wird die Linke rechts
Der Umgang der DDR mit der Frage nach dem Tier, wie er von Anett Laue in ihrem Buch Das sozialistische Tier4 erforscht wurde, könnte exemplarisch für den bisher vorherrschenden Umgang mit der Frage nach dem Tier in der marxistischen Tradition stehen. Die vollständige Nutzbarmachung der Natur als Ziel sozialistischer Politik umfasste selbstverständlich Tiere als Teil ebendieser Natur: Die Entwicklung des Broilers, d. h. des industriellen »Brathähnchens«, wurde gefeiert; Tierschutzvereine wurden als unerwünschter Ausdruck eines bürgerlichen Individualismus von »Hundeonkeln und Katzentanten« aufgelöst. Das war nicht nur »sachgerecht« – wie der angemessene Umgang mit Tieren in staatssozialistischer Diktion lautete –, sondern konnte sich auch auf Marx berufen. Im Manifest der Kommunistischen Partei hatte dieser es sich nicht nehmen lassen, die »Abschaffer der Tierquälerei« zu desavouieren, die er zum »konservative[n] oder Bourgeoissozialismus« rechnete und die seines Erachtens danach strebten, »den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern«5. Das erste Tierschutzgesetz bekam die DDR im Oktober 1989, d. h. im letzten Monat ihres Bestehens. Dieses Gesetz ging zwar weit über die bundesdeutschen Bestimmungen hinaus, doch es war zu spät: Das BRD-Tierschutzgesetz hatte Vorrang im wiedervereinigten Deutschland. Anlass für den späten Sinneswandel in der DDR war das Erstarken der Ökologiebewegung; bis dahin hatte, bis auf zwei Änderungen, das nationalsozialistische Reichstierschutzgesetz von 1933 gegolten. Die beiden Änderungen betrafen zum einen die Abschaffung des antisemitisch motivierten Schächtverbots sowie zum anderen die Herabsetzung des Strafmaßes für Tierquälerei von bis zu zwei Jahren auf bis zu sechs Monate.6 Bruno Kiesler, Leiter der Abteilung Landwirtschaft beim ZK der SED, hatte schon 1962 gemahnt: »Wir können doch nicht bis in den Kommunismus mit einem Tierschutzgesetz von 1933 arbeiten.«7 Auf marxistischer Grundlage sind wir seitdem kaum weitergekommen: Bei Tieren wird die Linke rechts. Das soll heißen, es gibt kaum fortschrittliche Positionsbildung, die sich von der Hegemonie bürgerlich-liberaler Diskursbildung abhebt. Die Zeiten verlangen es jedoch: Hatte sich Marx in einer Rezension über die »gemüthlichen Vereine zur Abschaffung der Thierquälerei«8 lustig gemacht, war George W. Bush das Lachen wohl längst vergangen, als er am 27. November 2006 seine Unterschrift unter den Animal Enterprise Terrorism Act setzte. Dieses umstrittene Gesetz stellt alle Handlungen »mit der Absicht, die Tätigkeiten tiernutzender Unternehmen [›Animal Enterprises‹] zu beschädigen oder zu beeinflussen«, als »Terrorismus« unter Strafe.9 Bezeichnenderweise lautet der Titel eines Buches, das die Folgen dieses Gesetzes für tierpolitische Aktivist*innen beleuchtet, Green Is the New Red.10 Tiere als Täter
Dies ist eine Streitschrift für eine Politisierung der Tierfrage auf der Grundlage eines leicht »verwilderten« Marxismus. Dieses Anliegen ist dringlich, denn egal, ob es um Jagd, Zoos, Zirkusse oder Tierversuche geht, ob Pelz, Gänsestopfleber oder Massentierhaltung zum Problem werden, ob an Walfang, an Tiertransporten oder auch an ganz normaler Fleischproduktion Kritik geübt wird – Tiere erregen die Herzen so sehr wie sonst weniges. Doch anstatt den fortschrittlichsten Kräften sozialer Veränderung tiefergehende und weiterreichende Antworten zu liefern, die über bürgerlich-liberale Versprechungen hinausgehen, trotten marxistische Ansätze diesen hinterher. Sowohl bei der Analyse der Rolle von Tieren im Kapitalismus als auch bei der Kritik des Status quo von Tieren in konkreten Gesellschaften erinnert die Linke oft an eine traurig-ratlose Arrièregarde. Dies gilt umso mehr für den Marxismus, der sich bei Tieren nie von bürgerlich-liberalen Diskursen emanzipiert hat – wenn er überhaupt jemals etwas Fortschrittliches zu diesem Thema zu sagen hatte, das über naiv verhegelte oder idealistisch-humanistische Plattitüden hinausging. Was Paul B. Preciado über den Feminismus sagt, gilt auch für die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung. Stimmen aus dem Inneren dieser Bewegung wurden zuerst an den Rand gedrängt und dann vergessen, um heute »seltsam« zu erscheinen. Im Folgenden geht es darum, einige zentrale Grundlagen der politischen Auseinandersetzung um Tiere zu reflektieren. Wenn wir für einen Moment jene hoffnungslosen Murxist*innen, für die der Sozialismus in der restlos perfektionierten Beherrschung und Ausbeutung von...


Fahim Amir lebt als Philosoph und Autor in Wien. Amir lehrte an Universitäten und Kunsthochschulen in Europa und Lateinamerika; er beschäftigt sich mit den Übergängen von NaturKulturen und Urbanismus, Kunst und Utopie, kolonialer Historizität und Modernismus. Amir war u.a. Kurator des Live Art Festivals »Occupy Species« Hamburg, 2013), der Kunstausstellung »Salon Klimbim« Wien, 2014) und des Symposiums für Neue Musik »Excess. Forum for Philosophy and Art« (Internationale Ferienkurse Darmstadt, 2016). Er arbeitete mit Künstler*innen wie Chicks on Speed, Deichkind, Ted Gaier und Rocko Schamoni. Amir war u.a. Mitherausgeber von »Transcultural Modernisms« (Sternberg Press, 2013) und schrieb das Nachwort zur deutschen Übersetzung von Donna Haraways »Manifest für Gefährten« (Merve, 2016).

»Schwein und Zeit« wurde mit dem österreichischen Karl Marx Preis geehrt, stand auf der Sachbuch-Bestenliste von Deutschlandfunk Kultur, ZDF und Die Zeit und wurde von Goethe-Institut und Frankfurter Buchmesse zu einem des besten Bücher des Jahres 2019 gewählt. Es ist ins Englische (Between the Lines, 2020) und Persische (Elm, 2021) übersetzt worden und erscheint 2022 in französischer Übersetzung (Editions Divergences). Auszüge des Buches wurden 2021 am Wiener Burgtheater aufgeführt.



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