E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Ambler Nachruf auf einen Spion
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-455-17086-3
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-455-17086-3
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eric Ambler, geboren 1909, gehört zu den Begründern des klassischen Noir- und Spionagethrillers und wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Order of the British Empire, der ihm 1981 von Königin Elisabeth II. verliehen wurde. Eric Ambler starb 1998 in London.
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Cover
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Über Eric Ambler
Impressum
Skipper-Books
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Am 14. August, einem Dienstag, traf ich, aus Nizza kommend, in St. Gatien ein. Am Donnerstag, dem 16. August, um 11.45 Uhr wurde ich von einem Kriminalbeamten festgenommen und in Begleitung eines Polizisten auf das Kommissariat gebracht.
Diese beiden Sätze zu schreiben fiel mir nicht schwer. Ich starrte auf das Blatt Papier und überlegte, welche Wirkung diese Worte auf mich haben würden. Vor nicht allzu langer Zeit hätte mein Herz schon bei ihrem Anblick schneller geklopft, ich wäre hinausgelaufen, um unter Menschen zu sein, um den Staub der Straße einzuatmen und mich zu vergewissern, dass ich nicht allein war. Doch jetzt kann ich sie niederschreiben, ohne dass sie mich berühren. Man vergisst schnell. Oder liegt es daran, dass man die Realität immer nur bruchstückhaft, ausschnittweise wahrnimmt, dass eine Linie, die einem heute als kurzer Strich erscheint, sich tags darauf als Teil eines vollständigen Kreises herausstellt? Schimler würde dem zustimmen. Aber er ist nach Deutschland zurückgekehrt, und ich glaube nicht, dass ich ihn je wiedersehen werde. Die anderen vermutlich genauso wenig. Einer von ihnen schrieb mir vor ein paar Wochen einen Brief, der mir von der neuen Direktion des Hôtel de la Réserve nachgeschickt wurde. Er sprach von den »angenehmen Stunden«, die er in meiner Gesellschaft verbracht habe, und bat mich abschließend um ein Darlehen von ein paar hundert Francs. Der Brief steckt, noch immer unbeantwortet, in meiner Tasche. Wenn ich tatsächlich angenehme Stunden in der Gesellschaft dieses Mannes verbracht habe, so erinnere ich mich nicht daran. Ich habe auch kein Geld, das ich ihm leihen könnte. Das ist einer der Gründe, weshalb ich diese Geschichte schreibe. Der andere Grund … Aber urteilen Sie selbst.
Die Eisenbahnlinie von Toulon nach La Ciotat verläuft mehrere Kilometer lang dicht neben der Küste. Sooft der Zug aus einem der vielen Tunnels auftaucht, die sich auf dieser Strecke aneinanderreihen, sieht man für kurze Zeit das strahlendblaue Meer unterhalb der Gleise, die roten Felsen, die weißen Häuser in den Pinienwäldern. Es ist, als würden einem in großer Hast bunte Lichtbilder vorgeführt. Dem Auge bleibt keine Zeit, Einzelheiten wahrzunehmen. Selbst wenn man von St. Gatien weiß und nach dem Ort Ausschau hält, sieht man nur das leuchtendrote Dach und die blassgelben Mauern des Hôtel de la Réserve.
Von St. Gatien und seinem Hotel hatte mir ein Bekannter in Paris erzählt. Die Zimmer des Réserve seien komfortabel, es liege schön, die Küche sei und der Ort selbst noch nicht »entdeckt«. Für vierzig Francs pro Tag mit Vollpension könne man dort angenehm leben.
Vierzig Francs waren ziemlich viel Geld für mich, doch nach zwei Tagen im Réserve machte ich mir über diesen Luxus keine Gedanken mehr. Im Gegenteil, ich wünschte, ich hätte meinen dreiwöchigen Urlaub von vornherein dort verbracht, statt auf dem Rückweg nach Paris nur Zwischenstation zu machen. Das Réserve war eines von diesen kleinen Hotels.
St. Gatien liegt malerisch auf der windgeschützten Seite der kleinen Landzunge, auf der das Hotel steht. Die Häuser sind, wie die meisten Fischerdörfer am Mittelmeer, weiß, hellblau oder rosarot getüncht. Felsige Anhöhen, deren pinienbestandene Hänge auf der anderen Seite der Bucht steil ins Wasser abfallen, schützen den kleinen Hafen vor dem Mistral, der manchmal heftig aus Nordwest weht. Der Ort hat 743 Einwohner, die zum größten Teil von der Fischerei leben. Es gibt zwei Cafés, drei Bistros, sieben Geschäfte und, etwas weiter außerhalb an der Bucht, eine Polizeistation.
Vom Ende der Terrasse, auf der ich an diesem Morgen saß, waren das Dorf und die Polizeiwache jedoch nicht zu sehen. Das Hotel steht auf dem höchsten Punkt der Landzunge, und die Terrasse erstreckt sich an der Südseite des Gebäudes. Hinter der Terrasse geht es etwa fünfzehn Meter steil hinunter. Die Zweige der Pinien, die weiter unterhalb wachsen, berühren die Balustrade. Aber weiter draußen, in Richtung Landspitze, steigt das Gelände wieder an. Zwischen den trockenen grünen Büschen schimmert rötliches Felsgestein. Ein paar windzerzauste Tamarisken mit ihren knorrigen Ästen heben sich vor dem Tiefblau des Meeres ab. Bisweilen spritzt unten bei den Felsen eine weiße Gischtwolke hoch. Es ist schön und friedlich.
Es war schon ziemlich heiß, und im Garten zirpten die Grillen. Wenn ich den Kopf etwas bewegte, sah ich durch das Terrassengeländer den kleinen Badestrand, der zum Hotel gehörte. Zwei große bunte Sonnenschirme waren im Sand aufgepflanzt. Unter einem schauten zwei junge, tiefbraune Beinpaare hervor, ein männliches und ein weibliches. Leises Gemurmel verriet mir, dass noch andere Gäste, für mich nicht zu erkennen, sich im schattigen Teil des Strands aufhielten. Der Gärtner, Kopf und Schultern durch einen breitkrempigen Strohhut vor der Sonne geschützt, malte gerade einen blauen Streifen auf ein kleines, kieloben aufgebocktes Boot. In diesem Moment bog ein Motorboot um die Landzunge und näherte sich dem Strand. Bald erkannte ich am Ruder die schmale, schlaksige Gestalt unseres Hoteldirektors. Der andere Mann trug eine grobe Segeltuchhose und war vermutlich ein Fischer aus dem Ort. Vermutlich waren sie seit Morgengrauen unterwegs. Vielleicht würde es Rote Meerbarbe zum Mittagessen geben. Draußen auf dem Meer sah ich einen Dampfer des Niederländischen Lloyd auf seinem Weg von Marseille nach Villefranche.
Ich dachte daran, dass ich am Abend des nächsten Tages meinen Koffer packen und am Samstag früh mit dem Bus nach Toulon fahren und dort in den Zug nach Paris einsteigen würde. In Arles war es sicher schon sehr heiß, auf den unbequemen Lederbänken des Dritte-Klasse-Abteils klebte man fest, und alles bedeckte eine Schicht von Staub und Ruß. In Dijon würde ich müde und hungrig sein. Ich durfte nicht vergessen, eine Flasche Wasser mitzunehmen, in die ich vielleicht einen Schuss Wein geben könnte. Ich würde mich auf die Ankunft in Paris freuen. Aber nur kurz. Ich dachte an den langen Fußweg vom Bahnsteig des Gare du Lyon bis zur Metro. Mit dem schweren Koffer. Richtung Neuilly bis zur Place de la Concorde, umsteigen, von dort weiter Richtung Mairie d’Issy bis Gare Montparnasse. Umsteigen, weiter Richtung Porte d’Orléans bis Alésia. Den Ausgang hoch. Montrouge. Avenue de Chatillon. Hôtel de Bordeaux. Und am Montagmorgen Frühstück am Tresen des Café de l’Orient, wieder zur Metro, Denfert-Rochereau bis Etoile, dann zu Fuß die Avenue Marceau hinunter. Monsieur Mathis würde mich schon erwarten. »Guten Morgen, Monsieur Vadassy! Gut schauen Sie aus! In diesem Semester übernehmen Sie den Grundkurs Englisch, Deutsch für Fortgeschrittene und den Grundkurs Italienisch. Ich selbst werde Englisch für Fortgeschrittene unterrichten. Wir haben zwölf neue Studenten. Drei Geschäftsleute und neun Restaurantiers (er sagte nie Kellner). Alle haben sich für Englisch eingeschrieben. Für Ungarisch gibt es keine Interessenten.« Wieder ein Jahr.
Aber noch lagen die Pinien und das Meer vor mir, die roten Felsen und der Sand. Ich streckte mich. Eine Eidechse huschte über die Terrasse. Jenseits des Schattens, den mein Stuhl warf, hielt sie plötzlich inne, um sich zu wärmen. Ich sah ihre pulsierende Kehle. Ihr Schwanz bildete einen eleganten Halbkreis, dem sich die diagonale Fuge zwischen den Fliesen wie eine Tangente anschmiegte. Eidechsen haben einen erstaunlichen Sinn für geometrische Formen.
Beim Anblick dieser Eidechse fielen mir meine Fotos wieder ein.
Ich besitze nur zwei Wertgegenstände auf dieser Welt: einen Fotoapparat sowie einen vom 10. Februar 1867 datierten Brief Ferenc Deáks an den Grafen von Beust. Wenn mir jemand Geld für den Brief böte, würde ich es dankbar annehmen. Aber meinen Fotoapparat liebe ich, und hergeben würde ich ihn nur, wenn ich kurz vor dem Verhungern stünde. Dabei bin ich kein besonders guter Fotograf. Zwar wurde eines meiner Bilder in Paris bei der Ausstellung ›Fotografien des Jahres‹ gezeigt, aber wie alle Fotografen wissen, kann jeder Amateur, der über eine gute Kleinbildkamera, etliche Filme und etwas Erfahrung verfügt, früher oder später eine gute Aufnahme machen. Wie bei all diesen Geschicklichkeitsspielen, die auf englischen Jahrmärkten so beliebt sind, ist es vor allem eine Frage des Zufalls.
Ich hatte im Réserve ein wenig fotografiert und den belichteten Film tags zuvor zum Entwickeln in die Dorfdrogerie gebracht. Nun würde es mir normalerweise nicht im Traum einfallen, meine Filme von einem anderen Menschen entwickeln zu lassen. Das Vergnügen des Amateurfotografen liegt ja nicht zuletzt darin, dass er seine Filme selber entwickelt. Aber ich hatte ein wenig herumexperimentiert, und wenn ich die Ergebnisse nicht vor meiner Abreise aus St. Gatien sah, würde es mir nichts nützen. Also hatte ich den Film dem Drogisten anvertraut. Er schien sich auszukennen und hatte meine Angaben sorgfältig notiert. Um elf Uhr sollte mein Film fertig entwickelt sein.
Ich sah auf meine Uhr. Es war halb zwölf. Wenn ich ihn jetzt abholte, blieb mir noch genügend Zeit, um vor dem Essen schwimmen zu gehen und anschließend einen Aperitif zu nehmen.
Ich stand auf und ging über die Terrasse in den Garten und über das kleine Steintreppchen hoch zur Straße. Die Sonne brannte schon so stark, dass die Luft über dem Asphalt flimmerte. Ich hatte keinen Hut auf, und meine Haare fühlten sich ganz warm an, als ich sie berührte. Ich legte mir ein Taschentuch über den Kopf und ging, erst bergan, dann bergab, die Straße...




