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E-Book, Deutsch, 297 Seiten

Alt Exzellent!?

Zur Lage der deutschen Universität

E-Book, Deutsch, 297 Seiten

ISBN: 978-3-406-77691-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Universität ist eine schwierige Institution, zugleich anarchisch und von oben gesteuert und seit 60 Jahren permanent reformiert. Warum aber erweist sie sich trotzdem immer wieder als so vital? Peter-André Alt, Literaturwissenschaftler und Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, denkt jenseits der Rituale von Festreden und Streitschriften darüber nach, was die Universität heute leisten soll und was nur sie leisten kann.

Dafür blickt er zunächst zurück auf den Umbau der deutschen Universitäten seit 1960 – ihre Politisierung, ihre Ausweitung zum Massenbetrieb, den Einzug des Neoliberalismus, die Ausrichtung auf Exzellenz und Wettbewerb. Daraus und aus seiner profunden Kenntnis der deutschen Hochschullandschaft entwickelt er seine Gegenwartsdiagnose. Vor allem geht es ihm um die Risiken, denen die Universitäten ausgesetzt sind, aber auch um ihre versteckten Chancen. Können sie wirklich alle Exzellentes leisten? Wie weit können sie wachsen? Die Universität vereint in sich eine Vielfalt, durch die sie konkurrenzlos ist: die Vielfalt der Fächer und Denkhaltungen, das Nebeneinander von Grundlagenforschung, Anwendung und Lehre und nicht zuletzt die soziale Vielfalt derer, die hier zusammenwirken.
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II. Zwischen Anarchie und Steuerung.
Die Universität als schwierige Institution
1. Was von Humboldt bleibt
Die Behauptung, dass Humboldts Universitätsidee die jeweilige Gegenwart nicht mehr angemessen erfasse, ist topisch und hat Tradition. Schon im 19. Jahrhundert, als sich die naturwissenschaftlich-technischen Fakultäten vergrößerten, wurde die Geltungskraft dieser Idee kritisch geprüft.[1] Konnte man Humboldts Konzept im Zeitalter der szientifischen Welteroberungsphantasien noch gebrauchen? Folgte die Vorstellung einer Wissenschaft im Dienste nationaler Großmachtinteressen denselben Ansätzen, wie sie der preußische Reformer projektiert und verwirklicht hatte? Adolf von Harnack versicherte zwar im Jahr 1909, als er seine Denkschrift zur Errichtung naturwissenschaftlicher Forschungsinstitute in Berlin-Dahlem vorlegte, sein Entwurf stehe nicht in Widerspruch zu Humboldts Universitätskonzept. Faktisch aber vollzog er mit ihm einen Schritt in eine andere Richtung, indem er die Grundlagenforschung aus der von ihren Lehraufgaben erdrückten Hochschule zu lösen suchte.[2] Was im Wilhelminischen Zeitalter bisweilen nur zwischen den Zeilen anklang, wurde dann seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutlicher formuliert. Jetzt stellte man die Frage nach dem «Abschied» von einem bildungspolitischen Mythos mit wachsender Beharrlichkeit.[3] Autoren wie Karl Jaspers, Kurt Rossmann, Max Horkheimer, Helmut Schelsky, Jürgen Habermas, Hellmuth Plessner, Jürgen Mittelstraß, Peter Glotz, Richard Münch und Alfons Söllner haben seit 1950 immer wieder auf die Erosionen hingewiesen, die das Ideal Humboldts im Zuge des Hochschulausbaus erfuhr.[4] Schon 1961 erklärte der Jaspers-Schüler Kurt Rossmann: «Nicht nur ist die Universität als geistige Mitte der neuzeitlichen Wissenschafts- und Bildungsorganisation im ganzen, wie sie Wilhelm von Humboldt vorschwebte, in dieser Form aber niemals verwirklicht wurde, zur Fiktion geworden, sondern sie droht heute darüber hinaus auch funktionslos zu werden.»[5] Der damalige Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz diagnostizierte 1978 im Tagesspiegel, dass eine Rückkehr zur alten Universitätsidee unter den Bedingungen des Massenbetriebs unmöglich sei.[6] In ähnlichem Tenor behauptete der Bildungsjournalist Kurt Reumann 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: «Das Bekenntnis zu Humboldt ist die Lebenslüge unserer Universität.»[7] Noch grundsätzlicher dekretierte Jürgen Mittelstraß Anfang der neunziger Jahre: «Humboldt für Massenuniversitäten geht nicht mehr.»[8] Seine Analyse der ‹unzeitgemäßen Universität› blieb allerdings den Beweis schuldig, wie denn ein Weg aus der vermeintlichen Sackgasse des hochschulpolitischen Pragmatismus gefunden werden könne. Mittelstraß tadelte wortreich die Selbstvergessenheit der Administratoren und deren allein an quantitativen Zielen orientierte Politik des Studienplatzausbaus und der institutionellen Expansion. Er vermisste Geist und Forschungskreativität, erkannte stattdessen eine Vereinheitlichung der Lehre durch die Didaktik, die ihm unoriginell erschien, und beklagte die Vorherrschaft der Gremienarbeit. So richtig einige dieser Befunde waren, so unergiebig ist eine Analyse, die in der Klage über Werteverlust, Vermassung und Reflexionsarmut der heutigen Universität steckenbleibt. Mittelstraß’ Streitschrift liefert ein Beispiel für jene Feiertagskritik, die sich von der Sonntagsrhetorik in qualitativer Hinsicht nicht unterscheidet, weil sie nur Beschwörungsformeln, aber keine Lösungsvorschläge offeriert. Alles andere als Sonntagsrhetorik bietet Jacques Derridas kurze Programmschrift Die unbedingte Universität, die auf einem 1998 in Stanford gehaltenen Vortrag beruht. Derrida vertritt eine radikale Idee der Universität, deren Konzept sich mit dem Anspruch auf kompromisslose Wahrheitssuche der an ihr praktizierten Lehre und Forschung verbindet. Möglich scheint sie ihm vor allem in den Geisteswissenschaften, deren besonderes Ethos auf der Distanz zu gesellschaftlichen Zumutungen und Vereinfachungen beruhe.[9] Derridas Argumentation folgt, ohne Humboldt explizit zu erwähnen, einem theoretischen Optimismus, der in der Universität eine programmatische Idee bezeichnet findet. Dass diese Idee von der Realität der Institution in keiner Phase ihrer Geschichte erfüllt worden sei, betont Derrida freilich mehrfach. Obgleich sein Entwurf mit dem energischen Plädoyer für widerständiges Denken einnehmend wirkt, leidet er am Ende darunter, dass er die Konzeption der Universität als Ort der vielen Fächer nirgends berücksichtigt.[10] Derridas theoretische Universität ist eine Einrichtung allein für die Geisteswissenschaften und daher Ausdruck einer merkwürdig idiosynkratischen Borniertheit, die anderen Disziplinen jenseits von Philosophie und Philologie echte intellektuelle Kraft abspricht. Mittelstraß und Derrida beschwören auf unterschiedliche Weise eine regulative Idee der Universität. Während Mittelstraß vor allem kritisiert, dass die aktuelle Massenuniversität keine Institution für eine Verwirklichung der Humboldtschen Konzeption sei, legt Derrida ein radikales Programm zugrunde, das keine eigene institutionelle Realität hat. Prinzipiell ist daran zu erinnern, dass die hier einander gegenüberstehenden Bereiche von Idee und Realität systematisch geschieden sind.[11] Eine Idee ist gerade nicht Realität, sondern ein Entwurf ihrer Möglichkeit. Für unser Thema bedeutet das, dass jede Idee der Universität immer nur einen Annäherungswert bildet, den man der herrschenden Realität gegenüberstellen kann. Die verbreitete Klage über die fehlende Deckungsgleichheit von Idee und Wirklichkeit der Universität, in der rituell ein Krisensymptom wahrgenommen wird, führt also in die Irre, weil sie die fundamentale Differenz beider Begriffe übersieht.[12] Sinnvoll ist es daher, die normative Dimension der Idee im Licht des gegenwärtig Gegebenen zu prüfen.[13] Dazu gehört, dass man ihren Anspruch ernstnimmt, indem man sie als ein Näherungskonzept versteht. Die Idee der Universität zeichnet die Reise von einem schlechteren Heute in ein besseres Morgen. Die Institution soll sich weiterentwickeln, höheren Erwartungen genügen, ihre Kräfte bestmöglich ausbauen. Es existiert dabei kein festes Ziel, sondern primär ein Weg, den die Universität als ständig sich verändernde Einrichtung zu durchlaufen hat. Humboldts Entwurf, der aus den Denkfiguren des Idealismus resultierte, beschrieb einen Prozess der Transformation von einer akademischen Schuleinrichtung in eine Bildungsanstalt, in der Lehre und Forschung aufeinander bezogen waren. Ihm ging es weniger um die materielle Realität als um die Spannung auf eine Idee hin, die für die Institution orientierende Bedeutung hatte. Die Frage ist, ob diese Idee auch heute noch als Richtschnur taugt und inwiefern ihre Kraft ausreicht, unter den veränderten Bedingungen der gegenwärtigen Universitätslandschaft tragfähige Entwicklungsgelegenheiten zu bieten.[14] Wer eine Antwort darauf finden möchte, muss zunächst die Grundlagen klären. Humboldts Universitätskonzept wird gern in allgemeinen Zügen wiedergegeben, aber nicht immer exakt erfasst.[15] Manche der Formeln, die seine Verteidiger wie seine Kritiker zitieren, haben mit seinen ursprünglichen Gedanken nur wenig zu tun.[16] Der Humboldt der Sonntagsreden ist ein Popanz, der es Verfechtern und Verächtern gleichermaßen leicht machen soll, ihre Thesen zu schärfen. Nicht selten sind diese dann so geschichtsvergessen, dass auch ihre Gegenwartsdiagnostik nicht mehr stimmt. Blickt man auf Humboldts Programmschrift Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1809/10), so erkennt man, dass es vier zentrale Punkte sind, die sein Denkgebäude konstituieren: die forschende Haltung als Grundsatz, der zugleich die Lehre bedingen muss (1); die Bedeutung von «Einsamkeit», «Freiheit» und «Zusammenwirken» für die wissenschaftliche Tätigkeit (2); die Unabhängigkeit der als frei gedachten Forschung und Lehre von staatlicher Steuerung (3); die Bestimmung der universitären Qualifizierung als Persönlichkeitsbildung mit nicht vorrangig fachlichem Schwerpunkt (4).[17] Diese vier Prinzipien sind in sich streng durchdacht und kunstvoll aufeinander bezogen. Schon der erste Punkt, die forschende Einstellung als Grundlage der Lehre, erweist sich als substantielles Programm. Die zur Floskel geronnene Formel «Einheit von Lehre und Forschung» ist weitaus...


Peter-André Alt lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, die er von 2010 bis 2018 als Präsident leitete. Seit 2018 ist er Präsident der Hochschulrektorenkonferenz.


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