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E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Allert Knäckebrothelden
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-646-93882-1
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
oder: Wie man seine Familie rettet | Eine witzige und warmherzige Familiengeschichte für Jungen und Mädchen ab 10
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-646-93882-1
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Judith Allert lebt mit ihrem Mann und vielen Tieren auf einem alten Bauernhof in der oberfränkischen Pampa. Dort kann sie sich beim Unkrautzupfen kunterbunte Geschichten ausdenken.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Natürlich kamen wir nicht pünktlich an der Trauerhalle an.
Wir waren nicht die Ersten – wir waren die Letzten!
Erst hatte es Diskussionen gegeben, weil Lenchen unbedingt ihre übergroße, pinke, glitzerige Barbie-Jacke anziehen wollte (die sie nun auch trug). Und dann hatte sie noch, als wir schon in der Einfahrt warteten, Hasi, ihr Kuscheltier, beerdigt. Oder beerbsigt, wie Finny sagte.
Zehn Minuten bis zur Trauerfeier.
Wenn sich jemand auf dem Friedhof wunderte, warum Lenchen grüne Knie hatte und dreckige Fingernägel – keiner fragte danach. Weder unser bisschen Verwandtschaft noch Opas Fußballkumpels noch seine Ehrenamtbuddys Ich kam mir vor wie im Paralleluniversum. Oder wie in einem Kinofilm. All diese Gruselgeistermenschen, die einem betroffen zunickten. Oder noch schlimmer – die Hand gaben. Und jede fasste sich an wie ein kalter, toter Fisch. Und: Jede hielt uns davon ab, an Opas Urne zu kommen! Oma hatte ich längst aus dem Blick verloren. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um über die Trauerköpfe hinwegzuschauen. Wo steckte sie denn bitte? War sie schon bei diesem Schmidtlein, dem Bestatter?
Acht Minuten.
»Lena?«
Och nee.
Jetzt auch noch Leander. Opas und Omas Neffe. Neben ihm kam ich mir immer ein bisschen vor wie ein Gartenzwerg, so riesig war der Typ. Ich sah ihn ungefähr alle fünf Jahre bei seltsamen Familienfeiern. Und ganz offensichtlich hielt er mich gerade für meine Schwester. Dabei hatte ich nicht mal lange Haare! (Bitte für später merken: Dringend um Bartwuchs kümmern!) Ich verkniff mir, ihn zu verbessern. Und auf den Fuß trat ich dem Blödel auch nicht. Keine Zeit!
»Mein Beileid!«, sagte er und reichte mir seine Hand.
Ich zögerte. Aber dann drückte ich sie doch. Ging schneller als doofe Diskussionen.
»Wuah!«, rutschte es mir raus. Wieder kalter Fisch!
Schnell murmelte ich ein höfliches »selber«.
Sieben Minuten.
Und weiter! Leider wieder nur theoretisch: Jetzt kam Frau Spitzditerich, unsere Nachbarin, auf mich zu. Sie schniefte und schnaubte und schnäuzte sich prustend in ihr parfümiertes Stofftaschentuch.
»Ach, Kind. Ach, Kind«, stieß sie erbebend hervor, während ich ein bisschen vor mich hin grunzte, in der Hoffnung, das ging als Weinen durch. Und falls die jetzt erwartete, dass ich sie tröstete – nein, danke!
»’tschuldigung, muss dann mal ganz dringend …«, nuschelte ich und drückte mich an weiteren traurigen Mänteln, Jacken, Hüten und Schuhen vorbei. Ich war eine Computerspielfigur, die duckend und springend und hakenschlagend Hindernissen ausweichen musste. Nur durfte ich nicht springen und Haken schlagen, sondern musste gediegen schlurfen und betroffen gucken!
Endlich. Da war Oma! Sie wartete am Eingang der Halle.
»Wo bleibst du denn? Los, rein!«
»Und dieser Schmidtlein?«
»Hab ich nirgends gesehen. Wir müssen mit Opi fertig sein, bevor er auftaucht!«
Sechs Minuten.
Oma riss die Tür auf, mich hinter sich her, und schon hatte uns die Leichen-, äh, Aussegnungshalle verschluckt. Ach nein. Doch nicht.
»Wir wollen auch Krümel gucken!«
Lenchen und Finny. Waaaaaaah!
»Ihr solltet doch bei Papa und Mama …« Ich sah mich hektisch um. »Wo sind die denn?«
»Alle Leute wollen sie ständig beleidigen. Das nervt«, stöhnte Lenchen.
»Aber ihr könnt jetzt nicht … ihr müsst …«
»Opis Krümel laufen euch doch nicht davon. Habt ihr schon gesehen – da drüben wird gerade ein richtiges Grab geschaufelt. Ein großes!«, sagte Oma da.
»Echt? Wo!« Schon war Lenchen so gut wie weg und Finny mit ihr.
»Aber bloß nicht hineinfallen!«, rief ich hinterher. Obwohl, andererseits. Das würde uns etwas Zeit verschaffen. Zeit, die wir nicht hatten.
Fünf Minuten!
Die Urne stand auf einem steinernen Tresen mit einer weißen Rüschentischdecke.
Ein Gefäß voller Asche, früher besser bekannt als Opi. Ich sah schnell woandershin und mein Blick blieb an den Blumengestecken hängen.
In ewiger Erinnerung.
In Dankbarkeit.
Mit Gottes Segen.
Undsoweiterundsofort.
Omi berührte meinen Arm. Ich schreckte auf.
»Wir vermissen ihn später wieder, ja?«
Sie sah total gefasst aus. Gangster-Oma. Auch ohne verspiegelte Sonnenbrille, gegelte Haare und schwarze Lederkombi. Sie griff in ihre Tasche und zog den Löffel und den Trichter raus. Wie Mama es in die Familiencloud geschrieben hatte. Und dann das Behältnis, in dem hoffentlich gleich Opas Asche landete. Opas Knäckebrotdose.
»Passt doch perfekt, oder?«, fragte Oma.
Ich konnte nur nicken. Dann hob ich vorsichtig den Deckel von der Urne.
»Da ist noch was drin. So eine runde Kapsel!« Ich zog sie ein Stück heraus. »Wie geht die denn bitte auf?«
Beim Versuch, das Metallding zu öffnen, rutschte ich ab und schaffte es, mir an der Kante eine Schramme zu holen. Sie blutete sogar.
»Mist!«
Vier Minuten.
Schritte vor der Tür.
»Der Schmidtlein«, raunte Oma.
»Der kommt rein!«, quietschte ich, so leise man panisch quietschen konnte.
»In Deckung!«
Auf Omis Kommando packte ich die Urne, sie die Dose und dann krabbelten wir unter den Tisch.
Auf Knien hockend sahen wir die polierten Bestatterschuhe, die schwarze Bestatterhose fiel ordentlich drüber. Nur an einer Stelle war ein winziger weißer Klecks. Taubenkacke vielleicht. Ich war starr vor Panik, aber meine Gangster-Omi (deren Knie schon bessere Zeiten gesehen hatten, wie sie gerne sagt) schmunzelte und da zogen sich auch meine Mundwinkel ein bisschen nach oben. Die Schuhe vor uns liefen leise klackernd auf und ab. Zettel raschelten. Ein Räuspern.
Drei Minuten.
Mein Grinsen verdünnisierte sich.
Was, wenn der Typ gar nicht mehr rausging, bevor die Trauergäste reinkamen?
Omi hatte den gleichen Gedanken. Sie deutete mit einem Nicken auf die Urne, ich reichte sie ihr rüber. Dann zog sie mucksmäuschenstill die Metallkapsel heraus und holte einen Schraubenzieher aus der Tasche. Den setzte sie so an, dass sie den Deckel anheben konnte. Erst an einer Stelle. Dann an noch einer. Einmal komplett ringsherum – bis der Deckel offen war.
»YouTube«, antwortete sie tonlos auf meinen völlig verdatterten Blick.
Ich setzte den Trichter auf die Kapsel, Omi kümmerte sich um den Umzug. Ein Löffelchen für Opi. Und noch eins. Und noch so einige … Alle fast ohne Zittern. Als sie die letzten Krümel rausschütteln wollte, legte ich meine Hand auf ihre. Sie verstand sofort. Ein bisschen was von Opi durfte hierbleiben. Und der Rest … die Welt sehen. Omi drückte den Deckel, so gut es ging, zurück auf die Kapsel. Dann zurück damit in die Urne. Zugeschraubt. Fertig! Allerdings war der Schmidtlein immer noch da!
Zwei Minuten.
Glockenläuten. Der Typ hatte eindeutig nicht vor, noch mal rauszugehen. Der lief vor sich hin murmelnd auf und ab. Keinen halben Meter von unserem Versteck entfernt. Wenn ich die Urne rauskullern ließ? So, dass er stolperte? Und während er sich fluchend aufrappelte, konnten Omi und ich … Nee. Coole Geschichte, aber unfair dem Schmidtlein gegenüber.
Schritte. Mehrstimmiges Flüstern vor der Tür.
Eine Minute!!!
Ich hob die Urne kurz an. Das Ding war auch ohne Asche schwer genug. Da checkte niemand, dass was Entscheidendes fehlte. Oma berührte mich an der Schulter, sah mir in die Augen und nickte mir zu.
Eins.
Zwei.
Und los!
»Verzeihung, Herr Schmidtlein«, sagte Oma höflich, als sie sich hinter dem Tisch aufrappelte und ihren Rücken dehnte und streckte. Herr Schmidtlein schrie trotzdem einmal laut auf. So erschrocken, dass ihm die Strähne, die er sich quer über seine Glatze gekämmt hatte, davonrutschte. Ich huschte zur anderen Seite raus, die Knäckebrotdose unter meiner Jacke, die Urne hinter dem Rücken.
Herr Schmidtlein starrte Omi an und ich näherte mich, auf Zehenspitzen, tief geduckt und so schnell und unsichtbar wie möglich, dem weißen Rüschendeckchen.
»Frau Fischer! Was machen Sie denn hier?«
»Ach, ganz dumme Geschichte«, erwiderte Omi. »Ich wollte noch mal in Ruhe Abschied nehmen. Aber von der vielen Heulerei ist mir eine Kontaktlinse rausgerutscht. Und dann ist sie da unter den Tisch gefallen.« Während Oma redete und Herr Schmidtlein sie ziemlich verdattert anstarrte, stellte ich die Urne zurück.
Dann krabbelte ich über den Boden, Richtung Ausgang.
»Oh«, sagte Herr Schmidtlein und ich zuckte zusammen. Ach was. Ich bekam so einen Schreck, ich hätte fast in die Hose gemacht! Aber der Ausruf hatte nicht mir gegolten.
»Die Kontaktlinse ist nun kaputt oder wie? Wie unglücklich!«, kommentierte der Herr Bestatter, noch immer nur Omi im Blick.
»Äh, warum?«, fragte die und sah für ungefähr eine Zehntelsekunde zu mir.
Großer Fehler. Der Schmidtlein schaute auch in meine Richtung! Genau in dem Moment, als ich hinter einem ziemlich riesigen Blumentopf in Deckung ging. Ich biss mir auf die Lippen und hielt die Luft an. Hatte er mich entdeckt oder nicht? Zwischen den grünen Blättern sah ich die beiden nicht mehr. Konnte nur die Luft anhalten, abwarten und hoffen.
Scheiße. Scheiße. Riesenscheiße!
»Na, Sie haben doch Ihre Brille auf...