E-Book, Deutsch, 183 Seiten
Alisch / Weidmann Wohnen als soziale Frage
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-038004-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sozialräumliche Ungleichheit als Herausforderung Sozialer Arbeit
E-Book, Deutsch, 183 Seiten
ISBN: 978-3-17-038004-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Menschen, die sozial und ökonomisch benachteiligt werden, bekommen kaum angemessenen Wohnraum. Ungleiche Zugänge zu Wohnraum und das Auseinanderdriften von Arm und Reich kennzeichnen nicht nur die Städte, sondern inzwischen auch ländliche Regionen. Das Buch skizziert diese Zusammenhänge und zeigt, welche Aufträge Soziale Arbeit für Fragen des Wohnens hat. Denn Soziale Arbeit ist nicht nur mit jenen befasst, die keine Wohnung haben, sondern tief mit dem Wohnalltag ihrer Klientel verbunden. Sozialraum- und Gemeinwesenarbeit, die Unterstützung Betroffener bei der Vertretung ihrer Interessen und die Gestaltung öffentlicher Räume sind wesentliche Handlungskonzepte Sozialer Arbeit, die sich auf das Wohnen beziehen, auch vor dem Hintergrund neuer Wohnformen, der Digitalisierung und dem Klimawandel.
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Einleitung
Wohnen ist ein fundamentales Menschenrecht, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III)) der Vereinten Nationen als Right to Housing festgehalten ist. Dort wird es zusammen mit dem Recht auf Nahrung und ärztliche Versorgung als Recht auf Unterkunft benannt (§ 25). Zu wohnen ist immer mit einem Schutzgedanken verbunden, insbesondere dem Schutz vor Kälte und Unwettern, aber auch dem Schutz der Privatsphäre. Auch das ist in der Erklärung der Menschenrechte erwähnt, wenn dort das »Recht auf ein Privatleben« (Art. 12) und das »Recht auf soziale Sicherheit« (Art. 22) benannt werden. Der Politikwissenschaftler Michael Krennerich (2019) hat für das Grund- und Menschenrecht auf Wohnen gefordert: 1. Es muss hinreichend Wohnraum, inklusive der notwendigen Infrastrukturen wie Strom und Wasser zur Verfügung stehen. 2. Allen Menschen – unabhängig von der Art und Form der Unterkunft – ist der »rechtliche wie faktische Schutz vor staatlichen und privaten Eingriffen in ihren Wohnraum« zu gewähren (ebd., S. 24). 3. Der Zugang zu Wohnraum muss »prinzipiell allen offenstehen und darf nicht bestimmten Gruppen in diskriminierender Weise vorenthalten werden« (ebd., S. 25). 4. Wohnraum sollte »Mindestbedingungen an Bewohnbarkeit, Gesundheit und Sicherheit erfüllen und der kulturell bedingten Vielfalt des Wohnens Rechnung tragen« (ebd., S. 25). Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist ein ausdrückliches Recht auf Wohnen nicht verankert, lediglich der Schutz der Unverletzbarkeit der Wohnung. In verschiedenen Landesverfassungen (Bremen, Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen) wird der jeweiligen Landesregierung die Aufgabe zugewiesen, für angemessenen Wohnraum zu sorgen, wenngleich dieses Recht nicht einklagbar ist (ebd., S. 22). Der Sozialarbeitswissenschaftler Günther Rausch sieht im Wohnen eine »elementare Seinsweise des Menschen« (Rausch 2013, S. 280) und erinnert daran, dass die Übersetzung für Wohnen im Englischen schlicht »to live«, also leben ist und folglich einleuchtet: »Mensch kann nicht Nichtwohnen« (Rausch 2011, S. 235). Tatsächlich ist beim Wohnen mehr zu bedenken als der Zugriff auf eine Wohnung – auch wenn die Schutzfunktion des Wohnens schnell den Zusammenhang zur Behausung und zur Wohnung herstellen und andere ebenso wichtige Bedeutungen des Wohnens wie Sicherheit, Geborgenheit, Kontakt, Kommunikation und Selbstdarstellung (Hannemann 2014, S. 3) in den Hintergrund treten lässt. Ein Mensch wohnt erst, »wenn er einen Raum – es muss nicht ein Ort sein – bewohnt, ihn als etwas ihm Zugehöriges empfindet, in das er eingelassen ist«, hat der Wohnforscher Jürgen Hasse versucht, Wohnen zu definieren (2009, S. 27). Wohnen bedeutet demnach auch »auf eine am Leben der Stadt teilhabende Weise zur Stadt« (ebd.) zu gehören. Der Philosoph Otto Friedrich Bollnow, dessen Ausführungen zur Bedeutung des Wohnens aus der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute oft zitiert werden, ging davon aus, dass der Mensch einen Wohnort als Mitte brauche, »in der er im Raum verwurzelt ist und auf die alle seine Verhältnisse im Raum bezogen sind« (Bollnow 1963, S. 125). Das Bild der »Verräumlichung des eigenen Lebens« greift auch die Sozialpädagogin Sylvia Beck auf und fasst zusammen, dass es im Wohnen darum gehe, »sich einen emotional sicheren, stabilen Ausgangpunkt zu schaffen, worüber sich der Mensch gelingend ins Verhältnis zur Welt setzt« (Beck 2017, S. 22). Dies unterstreicht zwar eindrücklich die grundlegende Bedeutung von Wohnen für den*die Einzelne*n und für das soziale Zusammenleben, steht jedoch in einem unauflöslichen Widerspruch zur Funktion des Wohnens und einer Wohnung als Ware, die auf Wohnungsmärkten angeboten und nachgefragt wird, die Spekulationsobjekt ist, mit dem jemand Gewinne erwirtschaften möchte. Dieses permanente Spannungsverhältnis zwischen dem Wohnen als Grundrecht und Zuhause auf der einen sowie der Wohnung als Ware und Immobilie auf der anderen Seite wird als Kern der Wohnungsfrage beschrieben. Diese hatte bereits Friedrich Engels angesichts der katastrophalen Wohnverhältnisse der durch die Industrialisierung neu entstehenden Arbeiterklasse insbesondere in England um 1872 problematisiert (Engels 2020): »Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise, eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Und diese Wohnungsnot macht nur so viel von sich Reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat« (Engels 2020, S. 197?f.; zuerst 1872, S. 213?f.). Spätestens seit den 2010er Jahren wird vielfach die »Rückkehr der Wohnungsfrage« (insb. Holm 2014; 2019) als Ergebnis wohnungspolitischer und gesellschaftlicher Prozesse skandalisiert: Der Soziologe Christoph Butterwegge sieht den »Mietenwahnsinn« und Wohnungsnot in Deutschland als Resultat einer neoliberalen Politik, die zu mehr sozialer und sozialräumlicher Ungleichheit geführt hat (2023, S. 3). Der Mangel an Wohnraum durch zu geringe Bautätigkeit, steigende Mieten und Bodenpreise, aber insbesondere der Mangel an für weite und wachsende Teile der Bevölkerung noch bezahlbarem Wohnraum markieren die Wohnraumkrise, die in kritischen politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Aufwerfen von »alten und neuen Wohnungsfragen« (Bundeszentrale für politische Bildung 2019) oder auch »Wohnungsfrage?(n) ohne Ende und überall?« (Schönig und Vollmer 2020, S. 7) geführt haben und für die Antworten gesucht werden. Die Wohnungsnot oder besser die Wohnungsnöte, die sich ins Zentrum des Alltags von immer mehr Menschen drängen, entstehen durch übermäßige Belastungen durch Wohnkosten – nicht nur, aber insbesondere in den großen Städten und solchen Wohnlagen, die begehrt sind. Dies betrifft die über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage entstehenden Mietpreise sowie die Kosten für Immobilien, aber längst auch die Nebenkosten, vor allem die Energieversorgung. Zwangsräumungen aufgrund von Mietrückständen, Mieterverhalten oder Eigenbedarf haben ebenso zugenommen wie Stromsperrungen aufgrund von Zahlungsrückständen bei den Energieversorgungsunternehmen (Krennerich 2019). Insbesondere Haushalte, die von Transferleistungen leben müssen, haben Schwierigkeiten, die Rechnungen für Strom und Heizung zu begleichen, weil die Transferleistungen nicht ausreichen. Dies ist kein Phänomen, das erst mit der Energiekrise und steigenden Preisen seit den Jahren 2022/2023 aufgekommen ist, wie eine Untersuchung der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen 2018 gezeigt hat (ebd., S. 30). Der Stadtsoziologe Andrej Holm sieht in der zunehmend repressiven Auslegung der Sozialpolitik – gerade im Bereich der Kosten für die Unterkunft und der Bemessungsgrenzen für Leistungsbeziehende – »einen regelrechten Segregationsmotor« (Holm 2019, S. 104). In den gerade noch finanzierbaren Wohnungen an den groß- und kleinstädtischen Rändern sieht Holm sich etablierende Zonen eines »Discountwohnens«, mit dem sich Entmischungstendenzen nach dem Einkommen in den Städten beschleunigen. Allerdings ist die Gefahr von Wohnungsnot eben nicht allein ein Problem von marginalisierten Bevölkerungsgruppen, sondern betrifft alle Haushalte, deren Wohnkosten 30 Prozent ihres Einkommens übersteigen. Krennerich (2019, S. 28) weist darauf hin, dass die Hälfte der als arm definierten Haushalte in Deutschland mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen aufbringen müssen. Eine »Überlastung durch Wohnkosten und Wohnungsnot treffen vor allem jene, die nicht (mehr) in Arbeitsprozesse eingebunden sind oder im Niedriglohnsektor tätig sind – und zugleich in Ballungsgebieten leben« (ebd., S. 29). Es ist außerdem davon auszugehen, dass die Wohnungsfrage?(n) räumlich differenziert betrachtet werden müssen. Auch wenn es so scheint, als ob sich die Diskurse zur Krise der Wohnraumversorgung, des Wohnungsbaus, der Mietpreise allein um das Wohnen in Großstädten drehen, stellt sich, so Schönig und Vollmer, die Wohnungsfrage überall »in Mittel- und Kleinstädten und im ländlichen Raum genauso wie in den Großstädten« (2020, S. 19). Dennoch stellt sie sich jeweils anders, wenn von schrumpfenden Städten und Regionen oder wachsenden Groß- und Mittelstädten die Rede ist. Es geht in unterschiedlicher Weise um den Umgang mit Leerständen, fehlenden...