E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Lenos Polar
Alioth Die entwendete Handschrift
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-85787-948-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Lenos Polar
ISBN: 978-3-85787-948-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman 'Der Narr'. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. www.gabriellealioth.com.
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Basel, 22.April 2015
Als sie den Rhein überqueren, blickt Laura unwillkürlich nach rechts. Die Türme des Basler Münsters sind kleiner als in ihrer Erinnerung. Sie musste dem Taxifahrer am Badischen Bahnhof den Weg erklären; er hat noch nie jemanden zum Wolfgottesacker gebracht. Nun fährt er Richtung Zürich.
»Beim Tramdepot Dreispitz«, wiederholt Laura, und er wechselt die Spur. An seinem Rückspiegel baumelt ein silbernes Kettchen mit einem Ring, einer Schlange, die sich in den Schwanz beisst. Laura schaut auf die Uhr, sie ist zu spät.
Die Abdankungskapelle ist leer, als Laura sie betritt. Nur die Ausdünstungen der Trauergemeinde hängen noch in der Luft, aus Mottenschränken hervorgeholte Anzüge, englische Rasierwässer, feuchte Taschentücher. Einen Augenblick erwägt sie, ob sie sich in das aufgeschlagene Kondolenzbuch eintragen soll: Laura Merak, Ehefrau des Verstorbenen. Sie lässt ihre Reisetasche im Vorraum der Kapelle, und während sie die Allee hinuntergeht, wirft sie einen Blick auf das fotokopierte Programm, das neben dem Kondolenzbuch auflag. Air aus der Suite Nr. 3 von Johann Sebastian Bach, Begrüssung, Lebenslauf, Würdigungen, noch mehr Bach, nach dem Schlussgebet Il n’y a pas d’amour heureux von Georges Brassens. Laura zerknüllt das Blatt.
Die schwarzgekleidete Schar steht um das Familiengrab, ein Monument aus rotem Sandstein, das einem flach gedrückten Tempel gleicht. Laura erkennt Thérèse in der vordersten Reihe an ihrem pelzbesetzten Beerdigungshut. Auch die anderen Köpfe sind ihr vertraut. Sie stellt sich neben eines der Grabmäler auf der gegenüberliegenden Wegseite, einen leichtgewandeten Engel mit einem Lorbeerzweig in der Hand. Es ist ein strahlend blauer Tag, und der Frühlingswind weht die Worte des Pfarrers von ihr weg. Der Bärlauch zu Füssen des Engels duftet in der Wärme der Sonne. Nach dem Schlusssegen kommt Bewegung in die Gruppe. Thérèse tritt vor, bückt sich und wirft etwas in die frisch ausgehobene Grube, die anderen tun es ihr gleich. Nach einer Weile kann Laura die Vase neben dem Grabmal sehen: Gerberas, Richards Lieblingsblumen. In der Familie Merak hatte jeder eine Lieblingsblume, eine Lieblingsmusik, ein Lieblingsessen.
Thérèse unterhält sich mit dem Pfarrer, einige Trauergäste verabschieden sich mit bedauernden Mienen von ihr, da sie nicht am Leichenmahl teilnehmen können. Laura tritt weiter in den Schatten des Engels zurück, als sie an ihr vorbeigehen. Es sind Richards Kollegen von der Universität, Professoren für neuere Geschichte, Schweizer Geschichte, osteuropäische Geschichte.
»Laura!« Bert Grünfeld hat sie entdeckt. »Ich habe mich schon gefragt, ob du auch hier sein wirst.«
Kurz darauf ist sie von Menschen umringt, manche kondolieren ihr, andere lächeln. Lauras Augen füllen sich mit Tränen. Auch in der Gruppe am Grab hat man sie bemerkt, Thérèse dreht ihr ostentativ den Rücken zu, die zwei alten Damen neben ihr tuscheln. Laura versucht, sich an ihre Namen zu erinnern, aber sie sind wie ausradiert.
Mit Bert zusammen geht sie zur Kapelle zurück. Sie hätte gern noch einen Moment an Richards Grab verweilt, aber Thérèse rührte sich nicht von der Stelle. Das Sonnenlicht scheint durch die Frühlingszweige und wirft ein Geflecht von Schatten auf die Gräber. Hier bestatten die alteingesessenen Basler ihre Toten, und die Beschriftungen der Steine lesen sich wie eine Geschichte der Stadt.
Berts schwarzer Anzug knistert, in dem grauseidenen Schal, den er um den Hals trägt, steckt eine Perle. Er erzählt von Richards Projekten am Zentrum für Renaissanceforschung. »Es tut mir wirklich leid«, unterbricht er sich.
»Wir waren getrennt.«
Bert seufzt. »Ich dachte stets, ihr seid das ideale Paar.« Hinter dem exakten Baseldeutsch ist noch immer seine Innerschweizer Herkunft zu hören.
»Das dachten viele.«
Laura fährt mit dem Tram zum Bahnhof SBB. Warum ist sie nach Basel gekommen? Nachdem sie sich vor dem neobyzantinischen Portal des Wolfgottesackers von Bert Grünfeld verabschiedet hatte, ging sie mit ihrer Reisetasche über die Geleise am Tramdepot vorbei zur Haltestelle. Ein Lastwagen drängte sie zur Seite, Arbeiter winkten sie an einer Baustelle vorbei, es roch nach Abgas. Der Friedhof, auf dem Richard begraben worden ist, liegt in einer anderen Welt.
Nach der Trennung hatte sie eine Weile gehofft, sie könne nochmals mit ihm sprechen. Aber seine Mitteilungen zu dem, was es noch zu regeln gab, waren so schroff, dass sie den Mut nicht fand; und dann schien es nicht mehr wichtig. Der Zufall würde entscheiden, ob ihre Wege sich wieder kreuzen würden, und es war ein Zufall, dass sie sich letzte Woche an der Rezeption des Inselhotels in Konstanz trafen. Laura schliesst die Augen, und Franz Lindners Gesicht taucht vor ihr auf. Um seine braune Iris lagen grünliche Ringe.
Das Tram hält vor dem Bahnhof. Laura ist mit einem Mal müde und betrachtet die Hotels rings um den Platz. In der Bar des Euler haben Richard und sie nach Theaterbesuchen jeweils noch ein Glas Wein getrunken, auf die Terrasse des Schweizerhofes hat Richards Bankier sie im Sommer zum Mittagessen eingeladen. Das Hotel Victoria macht den unbefangensten Eindruck. Eine Schar von Reisenden ergiesst sich aus einem Tram und strömt kofferziehend auf den Bahnhof zu. Von seinem Dach starren die kupfergrünen Basilisken auf Laura hinunter, und für einen Moment sieht sie sich durch deren Augen zwischen den Tramschienen wie in einem Spinnennetz.
»Es sind alle gekommen«, hat Bert beim Abschied unter dem Friedhofsportal gesagt, und es klang wie ein Trost.
Laura dachte an die Schwarzgekleideten vor dem Grab. »Bis auf Hans Peterson.«
Bert betrachtete sie verwundert. »Peterson ist tot.«
»Tot?«
»Ja. Wusstest du das nicht?«
Laura schüttelte den Kopf.
»Er ist im letzten November gestorben. Richard hat einen Nachruf verfasst.« Bert begann aus dem Kopf zu zitieren, und Laura erkannte Richards knapp bemessenes Lob zwischen den Floskeln.
Lauras Schritte werden langsamer. Fünfzig Meter von der dichtbefahrenen Kreuzung entfernt ist es vollkommen still. In den Erdgeschossen der Patrizierhäuser haben sich Galerien und Goldschmiede eingenistet, die in ihren Schaufenstern gekonnt ausgeleuchtete Einzelstücke präsentieren. Geöffnet nach Vereinbarung. Auf den Messingschildern neben den Türglocken stehen nie mehr als Initialen. Trotz ihrer Müdigkeit hat Laura im Hotel Victoria keinen Schlaf gefunden, und nach einer Weile ist sie aufgestanden und hierhergekommen. Sie erinnert sich, wie Richard sie durch diese Strasse zum Haus seiner Grossmutter führte. Vierzig Zimmer auf drei Etagen, das Personal wohnte im Dachgeschoss. Laura bestaunte den Bau mit der cremefarbenen Fassade, der Eichentür und dem schmiedeeisernen Gitter vor dem Oberlicht, in dessen Schnörkeln sich ein diskretes M verbarg. Richard erzählte von den Weihnachtsfeiern, die er als kleiner Junge hier erlebt hatte, dem riesigen Tannenbaum, der Weihnachtstorte, auf der stets ein Stern aus Marzipan war, und den mit Seidenbändern verschnürten Geschenken. Jedes Enkelkind bekam gleich viel, und wenn ein Geschenk etwas billiger war, erhielt es die Differenz auf den Rappen genau in einem Briefumschlag. Seit dem Tod der Grossmutter stritt die Familie sich um den Verkauf des Hauses. Dass Richard plötzlich einen Schlüssel aus der Tasche zog und das Hoftor neben dem Haus aufschloss, gehörte zu den Überraschungen, mit denen er Laura in jener Zeit überhäufte; sie kannten sich erst ein paar Wochen. Hinter dem Tor lag ein von mächtigen Bäumen überschatteter Park. Laura sieht sich auf einer Schaukel in einem weissen Sommerkleid – ein Bild aus einer Verfilmung von Effi Briest.
Vor einem der schmaleren Häuser bleibt sie stehen. Die Farbe blättert von der dunkelgrünen Tür. Laura sucht nach der Klingel, bis sie den eisernen Griff in der Mauer entdeckt. Eine Glocke scheppert im Innern. Henriette Peterson öffnet selbst.
»Du bist in Basel!« Ein Lächeln huscht über Henriettes Gesicht, und Laura fragt sich, ob das Wiedersehen oder die Tatsache, dass sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, es verursacht.
»Wegen Richards Beerdigung.«
Henriette zögert einen Moment. »Willst du reinkommen?«
»Hast du Zeit?« Aus dem Flur weht der Hauch eines bitteren Geruchs, und Laura überlegt, woher sie ihn kennt.
Henriette schaut auf ihre Armbanduhr, die an einer schweren Goldkette um ihr Handgelenk baumelt, so wie vor dreissig Jahren. »Ich habe um fünf eine Sitzung der Waisenhauskommission.« Es ist Viertel nach drei. Henriette ist eine grosse, knochige Frau mit kurzem weissem Haar, ein beiger Herrenpullover hängt von ihren Schultern.
Laura folgt ihr durch den bitter riechenden Flur in die Küche und dann in den Salon, von dem man auf einen gepflegten, von hohen Mauern umgebenen Garten schaut.
»Man könnte draussen sitzen«, meint Henriette mit einem Blick auf den sonnenbeschienenen Sitzplatz zwischen den Rosenbeeten und stellt das Tablett mit den zwei Gläsern Apfelsaft auf den Rauchtisch.
Laura setzt sich in einen der Gobelinsessel. Es ist kühl in dem Raum, und ihr Blick gleitet von den Ölgemälden an den Wänden über den halbblinden Spiegel über dem Kamin, die Bücherregale, die Stehlampe mit dem Faltenschirm aus den fünfziger Jahren bis zu den gerahmten Familienfotos auf dem Flügel. »Wie geht es Daniels Familie?«, erkundigt sie sich. Henriettes jüngerer Bruder ist vor zehn Jahren auf einem Flug mit einer Propellermaschine abgestürzt.
»Ich treffe Claire und ihren Mann manchmal im Konzert.« Daniels Frau hatte kurz nach dessen Tod wieder geheiratet.
»Ich glaube,...