E-Book, Deutsch, 219 Seiten
Aleksic / Aleksic Zwischen Nera und Karasch
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95757-042-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 219 Seiten
ISBN: 978-3-95757-042-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die beiden Flüsse Nera und Karasch grenzen ein Gebiet im südlichen Banat ein, das für Dragan Aleksic Heimat bedeutet. Es ist eine verlorene Heimat, und Aleksic beschwört sie mit betörenden Beschreibungen, die eine Welt von gestern sichtbar, hörbar, riechbar machen. Die Kindheit, das junge Erwachsenen leben und auch der Lebensalltag in der Familie ist durch Armut, Demütigung und Alkoholismus bedroht. Und doch wird klar: Nie wieder werden die Eindrücke so stark, so prägend, so unvergesslich sein. Das Erinnern ist ein Lebendig machen, das Aufschreiben ist ein Geschichte schreiben.
Dragan Aleksi? wurde 1958 in Bela Crkva in Jugoslawien (heute Serbien) geboren und studierte Kunstgeschichte in Belgrad. 1992 debütierte er mit dem Roman ?Helldunkel?. Seit 2006 lebt er in North Olmstedt, Ohio/USA. ?Vorvorgestern? ist sein erstes Buch in deutscher Übersetzung.
Weitere Infos & Material
I
Und die toten Nächte sinken herab
Ohne Geruch, ohne Farbe
Warum bellen die Hunde so traurig?
Was wissen sie?
Was fürchten sie?
Oskar Davico Dicke, pralle, schwarze Maulbeeren fallen in den warmen, knöcheltiefen Staub. Der Mond ist groß wie ein schwerer, runder Strohballen, die drei Flecken auf ihm sehen aus wie der Mund und die Augen im Gesicht eines traurigen Menschen. Die Sterne sind eingeschlafene Entchen. Alles sieht man wie am Tag: Von den Hügeln auf der einen und den flachen Äckern auf der anderen Seite der Straße bis hin zu dem hohen Damm des Donau-Theiß-Donau-Kanals, in den bei Pitonjs Mühle der leise, grüne Karasch mündet, ist alles hell, silbrig, tiefgolden. Der blassschwarze Schatten unter den Maulbeerbäumen auf beiden Seiten der weißen, langen und breiten Straße erinnert an ein verwaschenes Witwenkopftuch. Der Wind ist nicht stark genug, um Bewegung in den Schatten zu bringen, der sich wie ein Hirtenmantel um die dicken, knorrigen, gesunden oder auch morschen Baumstämme gelegt hat; er vermag gerade noch, die Blätter der Pappeln entlang des Kanals hin und her zu wenden, wie es Kinder tun, die ihre nassen Hände trocknen. Im Gras unter den Maulbeerbäumen leuchten Glühwürmchen wie goldene Knöpfe; vom Kanal her hört man die Frösche quaken und die Grillen scharf und rau an der Luft kratzen, ab und zu raschelt es im Maisfeld, für einen Augenblick sieht man die schwarzgrünen Blätter golden schimmern, die seidigen Bärte an den Kolben sich bewegen; man riecht die faulen Maulbeeren, die schwarzen und die weißen (die wie Sternschnuppen herunterfallen), den Staub und die Asche auf den Feldern, auf denen die Getreidestoppeln abgebrannt wurden. Auf den Hügeln die reglosen Weinstöcke, himmelblau vom Blaustein, die Weinbergpfirsiche und die um den Petrustag reifenden Äpfel. Dort dösen kleine Hütten: weißgekalkte Fensterrahmen, in der niedrigen Türöffnung anstelle einer Tür ein aufgeschlitzter Sack oder eine alte Wolldecke. Neben den Hütten kleine Becken, in denen der Blaustein zubereitet wird, daneben größere und tiefere, mit Mörtel glatt verputzte Becken, in denen sich auf der ruhigen Oberfläche des aufgefangenen Regenwassers schwarzgolden die Sterne spiegeln. Nur unter der dichten Krone eines mächtigen Walnussbaums, der von weitem, von jeder Gemarkung, von überall zu sehen ist, herrscht tiefe Nacht, schwarz wie ein Keller, wie Rabenflügel, wie Schuhcreme, wie Gummiopanken, wie verkohlte Brotrinde. In dieser Dunkelheit versteckte sich nach langer Flucht meine irre gewordene Seele: so ist es, wirklich … Ein schwarzer Vorhang schob sich zwischen mich und den Rest der Welt, ich überquerte leicht und behände den blutigen Acker: Der warme Staub wusch meine Füße wie laues Wasser, aber das Blut an meinen Händen blieb und befleckte mein Gesicht und mein Hirn. Unter dem Nussbaum ist die Erde nackt, unter dem Nussbaum wächst nie etwas, gedeiht nichts, dort ist ein runder, unfruchtbarer Pferch: Ich liege tot unter dem Nussbaum auf der nackten Erde, ohne einen einzigen Grashalm, hart und festgestampft von den Schafen und Hütehunden in der Mittagsruhe: Mir ist, als spürte ich im Nacken das Hecheln eines Hundes in der Hitze. Ich bin tot und atme dennoch, mache die Augen auf und zu, warte, dass der Schmerz mich durchbohrt, dass er durch meinen Mund zu mir kommt und mich verschlingt, und dass auch ich ihn verschlinge, ohne dass mein Adamsapfel sich bewegt, ohne dass ich etwas herunterschlucke: ein kurzes Aufblitzen der Sünde, und ich bin nicht mehr, der ich war … Mir, dem Sonderbaren, mir, dem Einfältigen, mir, dem Trinker, mir, der keinen bestimmten Weg kennt, der den Kopf senkt und vor sich hin pfeift, mir, dem Hoffnungslosen, mir, dem ständig der Vergangenheit Zugewandten, mir, dem einsamen Jäger, der selten etwas aufs Korn nimmt, mir, der nie weiß, woher er kommt und wohin er geht und ob das Brot, das er aß, dasselbe war, das andere aßen, mir stehen jetzt nur Jahre der Reue bevor, nur die, nur die: Hundertzwanzig Jahre für die Buße und in jedem feurigen und eisigen Jahr Monate, Tage, Stunden, Minuten: in diesen Minuten mein Ein- und Ausatmen, mein Wehklagen und Bereuen, mein Jammern und Weinen im Suff, die Niederlage und der Fall, die Berührung der Ohnmacht. Ich bin eine brennende Kerze in nieselndem Herbstregen. – Komm, wir gehen uns ein Fenster anschauen – sagte ich zu dem Nachbarjungen Joca, er war dreizehn und ich vierzehn; er hörte immer auf mich und begleitete mich überall hin, ich war einen Kopf größer als er, auf meiner Oberlippe lag ein dunkler Schatten – der Vorbote eines jugendlichen Schnurrbartes. – Am Pfarrhaus? – Ja, dort hatte das Mädchen gewohnt, das ich liebte. Der Pope Nikola war ihr Vater. – Sie hatte ein etwas kürzeres Bein. – Sie hatte ein bleiches Gesicht und zwei schwarze Zöpfe, sie hatte grüne Augen und weiße Zähne. Im Winter wurde ihr Gesicht rosig, fast durchsichtig; ihre Hände waren rot vor Kälte. Ich sehe auch jetzt noch ihre gerötete kleine Nase vor mir, ihre Oberlippe, etwas hochgezogen, als trotze sie jemandem, ich sehe ihre Augen, die mich betrachten: sie konnte mir ohne mit der Wimper zu zucken länger in die Augen schauen, als ich ihr: Ich begann nach einer Weile zu zwinkern und wandte meinen Blick ab, obwohl ich ein Jahr älter war als sie. Sie starb an einem Wintertag, in den Ferien, sie war nicht zum Kaiserinnenhügel gekommen, um mit ihren Freundinnen Schlitten zu fahren. Als ich zu ihrem Grab kam, war es schon von weichem Neuschnee bedeckt wie von Engelsflügeln: Eine Stunde zuvor hatte ihr Vater sie beerdigt. Ich roch den Schnee, den Rauch, der vom Haus des Totengräbers schräg in den grauen Himmel aufstieg, ganz schwach spürte ich auch den Duft der frisch ausgehobenen Erde und des Weihrauchs. Während einige unsichtbare Krähen im nahegelegenen schwarzen, starren Akazienhain krächzten, summte ich leise vor mich hin: Kalter Wind weht über das Feld, Dunkelheit senkt sich auf die Erde, meine Augen füllen sich mit Tränen … ach, geh nicht, geh nicht fort … – Und ich wette, du hast dich am Ende des Lieds auf das Grab geworfen und geheult? – Nein. Ich küsste das Kreuz, nahm eine Handvoll Schnee vom Grab, ballte ihn zusammen und zielte damit, als ich am Kruzifix vorbeikam, auf den blechernen Christus (der nackt mitten auf dem Friedhof fror). Ich traf ihn am Kopf, am Dornenkranz. Man hörte das Blech scheppern und die Eiszapfen zerbrechen: der Schnee zerstob in alle Richtungen und bildete einen weißen Schein um den heiligen Kopf wie auf unserem Bild in der guten Stube an der Straßenseite. Auf der Stirn, neben einem Dorn klebte ein weißes Hügelchen wie eine Beule, wie ein Zeichen, dass ich da war. Wenn ich jetzt zu ihrem Fenster gehe, bin ich wieder der von vor zwei Jahren, der immer nachts kam, das gelbe Viereck mit dem schwarzen Kreuz in der Mitte fixierte und darauf wartete, dass sie am Fenster vorbeiging oder ans Fenster kam und in die Nacht schaute, ohne mich unter dem Lindenbaum zu bemerken. Dann raste mein Herz, ich vergaß beinahe zu atmen. Ich achtete darauf, dass niemand mich sah, versteckte mich hinter einem Baumstamm oder einem Akaziengebüsch, kein zufälliger Passant sollte mich bemerken: Es wäre mir peinlich gewesen, hätte jemand gesehen, wie ich die Fenster des Popen anstarrte. Niemand durfte von meinem Geheimnis wissen, vor niemandem habe ich je ihren Namen erwähnt. Er gefiel mir, ich denke immer noch, dass er der schönste Mädchenname ist. Ich sprach ihn aus für mich, für meine Seele, berührte ihn mit den Lippen und der Zunge. Nachts träumte ich oft von ihr, sah sie im Traum ganz deutlich: Einige Male gingen wir über das Feld hinter Boboronis Ziegelwerk zur Mühle am Karasch. Wir schwiegen immer und waren ernst. In einem dieser Träume setzte sie sich auf die abgewetzte, glänzende Steinplatte in der Nähe des Wehrs, tauchte die Füße in den grünen, schnellen Karasch und sagte: Sieh mal, im Wasser merkt man nicht, dass ein Bein etwas kürzer ist. Einmal träumte ich, wir sind am Bahnhof: Sie ist im Zug, steht am Fenster, schaut mich an, winkt aber nicht; der Zug fährt langsam an, es klirren die Kupplung und die Puffer, ich winke ihr, laufe unter ihrem Fenster mit, beginne schon zu rennen, sie winkt immer noch nicht, schaut mich nur an. Bevor ich ganz außer Atem stehen bleibe, sehe ich ihre Lippen sich bewegen: Ich höre nicht, was sie sagt, begreife aber, dass sie meint: Ich hab meine Uhr verloren, ich hab meine Uhr verloren. Auf meinem Gesicht und auf den Händen spüre ich einen kühlen Wind, eine eisige Liebkosung … Wenn ich jetzt zu ihrem Fenster komme, bin ich derselbe, der wartet und wartet, der liebt und liebt … Ach, geh nicht, geh nicht fort, bleib bei mir … Während ich mit dem Fahrrad in Schlangenlinien in Richtung »Triglav« fuhr, mal schneller, mal langsamer, die...