E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Aldenhoff Mensch, Mann!
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82377-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ist los in Männerseelen?
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-451-82377-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kein Zweifel: Immer weniger Menschen haben etwas von der Dominanz der mächtigen Männer, nicht einmal die Männer selbst. Doch was ist die Ursache für (selbst)zerstörerisches Verhalten der Männer? Der renommierte Psychiater Josef Aldenhoff zeigt in seiner großen Analyse der männlichen Psyche, dass es einen Ausweg aus dem Wahnsinn gibt. Denn eigentlich haben sich die Männer nur für den falschen Aspekt ihrer Identität entschieden. Sie können auch anders! Auch Männer sind richtig gut in Empathie und Kooperation, also gerade "Skills", die zwischenzeitlich eher als unmännlich galten. Der Autor zeigt seinen Lesern konkrete Wege, wie sie solche Stereotype umgehen können.
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Warum ich ein Buch über Männer und ihre Seele schreibe
Der entscheidende Anstoß? Ich schäme mich nicht gerne. Es fühlt sich besser an, wenn ich mir in die Augen schauen kann. Aber jetzt schäme ich mich. Weil ich ein Mann bin. Absurd! Seit mehr als sieben Jahrzehnten bin ich ein Mann. Trotzdem habe ich ein Gefühl wie in der Kindheit, wenn etwas so richtig scheiße gelaufen ist. Tatsächlich läuft es immer noch scheiße: Wenn ich laufen will, ziehe ich meine Laufschuhe an, Jogginghose, T-Shirt, je nach Jahreszeit, und laufe los. Ich denke nicht nach; was ja gerade das Schöne ist. Ich überlege nicht, ob ich meine 72-jährigen körperlichen Reize vermummen soll; meine Vorsicht richtet sich allenfalls auf Unebenheiten des Bodens, vielleicht auch mal auf frei laufende Hunde. Auf Männer achte ich nicht. Wozu auch? Ich bin ja selbst einer. Wovor sollte ich Angst haben? Joggen ist für Männer, abgesehen von der gewollten Schinderei, ein entspannender, gesundheitsfördernder Vorgang. Pfefferspray? Ich besitze gar keines, und noch nie habe ich zum Joggen Pfefferspray mitgenommen. Abwegig. Ein wesentlicher Geschlechtsunterschied im Deutschland des Jahres 2021 besteht darin, dass dies alles bei Frauen anders ist. Vollkommen anders: Frauen, die joggen wollen, haben ihre Erlebnisse und ihre Ängste aufgeschrieben – wohlgemerkt: Das sind Berichte aus Deutschland.1 Frauen laufen nicht einfach los. Sie grübeln und treffen Vorkehrungen, viele haben Angst, andere versuchen, die Gefahr rational einzuschätzen. Die Gefahr, das sind wir, die Männer! Und selbst wenn uns das nicht passt, ist der Generalverdacht sehr angemessen; denn wenn eine Frau auf einer einsamen Straße einem einzelnen Man begegnet, ist es für ihr Wohlergehen, für ihr künftiges Sexualerleben und oft auch für ihr Leben sinnvoller, diesen Mann, auch Sie und mich, als Risiko anzusehen. Denn sie könnte vergewaltigt werden. Ein Autor, der das Beste aus dieser furchtbaren Situation machen wollte, schrieb, in so einem Augenblick sollte ich, der Mann, die Straßenseite wechseln.2 Ich! Und er hat, so deprimierend es sein mag, mit diesem Hinweis wohl recht. Eine Frau glaubt, vor dem Joggen mehreren Leuten Bescheid sagen zu müssen, wo sie läuft, damit man nach ihr suchen kann, wenn sie nicht zurückkommt; die andere weicht aus, wenn sie Stimmen von einer Männergruppe hört; hinter wieder einer anderen rannte ein Typ her und verlangte ein Wettrennen. Frauen werden beim Laufen angehupt und belästigt: Pfefferspray ist ein wichtiges Laufzubehör, wichtiger als das Stirnband. Aus meiner männlichen Sicht ist der absolute Tiefpunkt dieser »ältere Herr«, der ihr beim Vorbeigehen auf den Arsch haut und sagt: »Du bist bestimmt gut fickbar.« Ich bin selbst ein »älterer Herr« und fühle mich in einer Weise sichtbar gemacht, wie ich absolut nicht gesehen werden will. Ich Mann, stigmatisiert durch das Verhalten von Männern. Ich würde so was nie sagen, aber wer weiß das schon? Ich schäme mich. Weil Männer die Welt der Frauen, der anderen versauen und ich ein Mann bin. Die Geschichten sind nicht neu: Rebecca Solnit schreibt über ihre Wünsche, allein durch die Wildnis zu wandern, im Freien zu schlafen.3 Sie schreibt auch über Sylvia Plath, die ihre Wünsche als Frau selbstbestimmt in dieser Welt verwirklichen wollte und sich angesichts des Unmöglichen schließlich umbrachte. Was all das angeht, bin auch ich typisch männlich ignorant; so wusste ich nicht, was catcalling ist: »eine Art der Belästigung durch Fremde im öffentlichen Raum in Form von unerwünschten Äußerungen gegenüber Personen, die als Objekt der Begierde wahrgenommen und auserkoren werden. Oft begleitet von provokativen Gesten, Hupen, Pfiffen, unsittlichen Entblößungen, Stalking, hartnäckigen sexuellen Annäherungsversuchen und Berührungen.«4 Ich gestehe Ihnen an dieser Stelle mal zu, dass Sie noch nie Joggerinnen behelligt haben, geschweige denn vergewaltigt. Ich gehe mal davon aus, dass Sie ein »Netter« sind. Kostet mich nix, ich bin ja ein Mann. Wenn ich Freunde und Kollegen frage, ob sie schon mal catcalling gemacht haben oder ob sie jemanden kennen, der das und noch mehr macht, so ein klitzekleines bisschen Gewalt beim Sex, ab und zu: Fehlanzeige. Es ist wie in der Nachkriegszeit, wenn man fragte, wer Nazi gewesen war. Gab’s nicht. Nun sind die Ermittlungs- und Verurteilungszahlen bei der Vergewaltigung von Frauen im Allgemeinen und Joggerinnen im Besonderen ein statistisches Desaster, dominiert durch den Begriff »Dunkelziffer«. Und trotzdem so häufig, dass Frauen ihr Alltagsverhalten ändern. Ein Wahrnehmungsproblem? Oder eine Schande für unser Rechtssystem? Bei der in Corona-Zeiten sehr prominent gewordenen »häuslichen Gewalt« ist das nicht anders. Aber was geht Sie als Mann das an? Betrachten Sie es doch einmal so: Wenn Sie als selbst definiert netter Mann dies alles nicht tun, kann es sich in Ihrer Weltsicht nicht um ein Problem von allgemeiner Bedeutung handeln – selbst wenn vielleicht einige wenige Männer so etwas tun. Beim Kindesmissbrauch gibt es übrigens belastbare Zahlen: In der Bundesrepublik ist jeder siebte Mann ein Täter. Einige wenige? Trotzdem setzen Sie in einer Art männlicher Solidarität voraus: Männer tun so etwas nicht. In dieser Aussage lassen Sie ein entscheidendes Wort weg: Männer sollten so etwas nicht tun. Interessanterweise ist die Dunkelziffer beim Mord ganz anders. 93,5 Prozent der Morde werden aufgeklärt.5 Liegt das vielleicht daran, dass 80 Prozent der Opfer Männer sind?6 Sie finden das unsachlich? Dann nennen Sie doch mal einen anderen Grund. Ich fände es gut, wenn Sie dieses Buch lesen würden. Als Mann. Ganz bewusst als Mann. Mann sein gleich Täter sein?
»Auch heute noch kommt man am leichtesten durchs Leben, wenn man ein weißer, heterosexueller Cis-Mann ist, mindestens aus der Mittelklasse. Diese Gruppe ist es, die nach wie vor das gesellschaftliche Narrativ dominiert und definiert, was normal ist. Was eigentlich paradox ist, schließlich machen weiße, heterosexuelle Cis-Männer keineswegs die Mehrheit der Bevölkerung aus. Auch wenn sie selbst das nicht wahrzunehmen scheinen.«7 Mann, weiß, hetero, cis – ja. In meinem Fall auch noch: alt. Mittelklasse trifft es auch. Und damit bin ich nicht so schlecht durchs Leben gekommen. Liegt das an meiner Gruppenzugehörigkeit oder an meiner Individualität? Obwohl ich mich nicht in einer homogenen Männergruppe erlebe, bevorzuge ich die Kommunikation mit anderen Männern, die meine Merkmale teilen. Netzwerken nennt man das wohl, sich die Bälle zuspielen. Bälle passt: In der Fußballbundesliga liegt die Zahl der männlichen Zuschauer bei durchschnittlich 40 000 Männern und 1000 Frauen pro Spiel.8 Wir alten weißen Männer sollen uns nun ändern. Ausgerechnet die dominanten Netzwerker sollen sich ändern! Wie genau, ist nicht ganz klar, aber ändern auf jeden Fall. Natürlich mobilisiert sich gegen diese Forderung jede Menge Widerstand. Die meisten Männer halten die Frage ihrer Verstrickung in die »Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Welt«9 für abwegig, da sie sich nie als Täter gesehen haben. Aber lässt sich diese Position wirklich durchhalten? Dieses Buch hatte unterschiedliche Startpunkte. Einer hängt damit zusammen, dass ich Psychiater und Psychotherapeut bin und meinen Beruf mag. Auf halbwegs soliden wissenschaftlichen Grundlagen etwas zu bewirken, fühlt sich gut an. Und obwohl die von uns behandelten Krankheiten viel mit Stress zu tun haben, können wir Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei der Arbeit gemütlich dasitzen, zuhören und dürfen bei Bedarf sogar Kaffee trinken. Irgendwann, erstaunlich spät in meinem Berufsleben, fiel mir auf, dass in sechs von zehn Fallgeschichten Gewalterfahrungen vorkommen. Diese »Fälle« sind Frauen. Darüber spricht niemand. Ist das also selbstverständlich? So wie die Tatsache, dass die Gewalt sehr, sehr häufig, meistens, ja fast immer von Männern ausgeht. Auch selbstverständlich? Wissen Sie, wie häufig sexueller Missbrauch vorkommt und dass er ein typisches Männerdelikt ist? Dieses »Wissen« ist seltsam folgenlos: Einerseits steht es in der Tageszeitung, andererseits leitet sich daraus keine gesamtgesellschaftliche Diskussion ab. Durch dieses Schweigen verhindern die Männer den eigentlich unerlässlichen Diskurs über ihre Dominanz und deren Folgen; egal, ob die feministischen Attacken wütend oder witzig geführt werden, Männer reden mehrheitlich einfach nicht mit. Erst wollte ich dieses Buch also nicht wegen uns Männern schreiben, sondern wegen der Menschen, denen Missbrauch, Vergewaltigung von Männern angetan wird, Kindern, Frauen also. Doch irgendwann wurde mir klar, dass ich zur Gruppe der Täter gehöre, auch wenn ich selbst keiner bin. Und jetzt sitze ich in einem Thema drin, das durch seine Schwere dem Leben die unbeschwerte Alltäglichkeit raubt. Immer wieder: wir Männer. Was nun? Gibt es kein normales Leben mehr? Oder ist eben genau dieses Leben normal? Bei folgender Frage ist es dann fast unmöglich, eine nüchterne distanzierte Haltung zu bewahren: Bedeutet Mann sein Täter sein? Reicht es, ein normaler Mann zu sein, um Täter zu werden? Oder sind die Täter krank und alle anderen Männer normal nett?...