E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Albrecht Erectus. Leben ist mehr als Überleben
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7568-6595-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schmerz und Psychosomatik im aufrechten Gang
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-7568-6595-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der aufrechte Gang ist für den Menschen Auszeichnung und Bürde zugleich. Selbst bei hervorragenden Repräsentanten der Kultur wie Alfred Adler, Frida Kahlo und Gustav Klimt liegen Triumph und Tragik nahe beieinander. Rückenschmerzen sind das markanteste Symptom für das Auf und Ab im aufrechten Gang. Sie treten nicht zufällig häufig mit pathologischer Angst, Depressionen und Burn Out auf. Wir wollen im Leben mehr als Überleben und Symptomfreiheit. Wir sehnen uns nach Erfüllung, Selbststeigerung und Sinn. Sind unsere psychosomatischen Symptome der Preis dafür, wenn wir an unsere Grenzen kommen? Wir benötigen Mut, Hoffnung und Humor um den Weg weiter im aufrechten Gang zu bewältigen
Der Autor leitete viele Jahre eine bekannte psychosomatische Klinik in Berlin. Er ist Arzt und Psychotherapeut und in der ärztlichen Weiterbildung an der APM sowie als Dozent an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien und Berlin tätig.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Angst ist der Schwindel der Freiheit. Sören Kierkegaard19 Angst als Krankheit und „Katastrophenreaktion“ des Organismus und seiner Existenz
Die Aktualität der holistische Konzeption Kurt Goldsteins (1878 – 1965) für die Psychosomatik Die Angsterkrankungen in all ihren Erscheinungsformen, einschließlich der Panikattacken, zählen zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie nach wie vor Ärzte und Psychotherapeuten vor erhebliche Behandlungsprobleme stellen20. Die Zahl der Behandlungsabbrüche, Rezidive und Chronifizierungen ist hoch, besonders hervorzuheben ist die Somatisierungstendenz mit verborgener Angst in Äquivalenten körperlichern Symptome21. Angstzustände manifestieren sich häufig als körperliche Funktionsstörungen, Sinnesbeeinträchtigungen oder hypochondrische organbezogene Ängste. In den meisten Fällen liegt Komorbidität vor: mit Depressionen, funktionellen Herz-Kreislauf- oder Magen-Darm-Erkrankungen und vor allem mit Schmerzzuständen22. Frustrane Behandlungsversuche mit Tranquillizern oder Analgetica haben ein hohes Suchtpotenzial, einschließlich der „Selbstheilungsversuche“ mit Alkohol oder anderen Drogen. Ein Spezialfall liegt mit Angstzuständen bei Psychosen, hirnorganischen Erkrankungen oder Sucht vor, sowie bei hohem Fieber, Infektionen, endokrinologischen Erkrankungen, wie zum Beispiel der Hyperthyreose oder anderen schweren akuten körperlichen Ereignissen23. Die Angst im menschlichen Dasein Das Problem mit der Angst ist auch, dass sie nicht primär krankhaft ist, vielmehr zur „Grundmelodie“ unserer menschlichen Existenz dazu gehört. Unsere Zukunft ist ungewiss, Tod und Sterben überschatten unsere Gegenwart und Zukunft24. Aber die Todesangst im Bewusstsein unserer Sterblichkeit ist nicht nur die Angst davor, dass unser Leben enden wird, sondern auch wie es enden wird. Als Woody Allen gefragt wurde, ob er Angst vor dem Tod hätte, antwortete er, Angst vor dem Tod hätte er keine, wenn er nur nicht sterben müsste. Gemeinschaft und zwischenmenschliche Beziehungen als Mit-Sein sind einerseits entscheidend bei der Überwindung von Angst, sind aber zugleich auch potenzielle Quellen von Angst, speziell vor Verurteilung, Ausgrenzung, Missbilligung und Strafe: „die Hölle, das sind die Anderen“25. In fast allen Weltreligionen spielt die Verleugnung des Todes eine zentrale Rolle, als Unsterblichkeit der Seele oder als Seelenwanderung, und auch in politischen Ideologien und Bewegungen, vom Faschismus –viva la muerte, es lebe der Tod-, zu Kamikaze bis Al Kaida. Die sozialpsychologische Betrachtung zeigt aber auch, wie mit Terror und gleichzeitiger Heiligung und Pseudo-Sinngebung des Todes mittels kollektiver Verdrängung mit der Angst, Politik gemacht und Herrschaft ausgeübt wird. Die chiliastischen und nativistischen Bewegungen in den Regionen der zerbrechenden Kolonialreiche, von den Indianern Nord-Amerikas, über die Mau-Mau im Kongo bis zu den Taliban zeigen die enge Zusammengehörigkeit von sozialer und kultureller Entwurzelung, Zerstörung kollektiver Identität und gewachsener Sinnstrukturen auf der einen Seite und gesteigerter bis enthemmter Aggressions- und Gewaltbereitschaft mit den bekannten Massakern gegen die als die vermeintlichen oder tatsächlichen Feinde konkretisierten Gruppen26. Ein ähnlicher Mechanismus bahnt auch die Bereitschaft am Amoklauf, als selbstzerstörerische Vernichtungsaktion gegen eine Welt, die unbewältigbare Ängste auslöst27. Das ängstliche Gestimmtsein als Weltbezug zeigt sich in Träumen, Ausdrucksphänomenen und Gefühlsschwankungen als ubiquitäres Phänomen, und hat nicht zuletzt als Signalangst, die in Situationen der Gefahr bis zur drohenden Vernichtung auftritt, eine grundlegende Funktion zur Sicherung des Überlebens. Ein zuwenig an Angst kann ebenso krankhaft sein wie ein zuviel, und auf bedeutsame Persönlichkeitsstörungen hinweisen28. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Angstbereitschaft und die Fähigkeit der Angstüberwindung von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein können. Dabei spielen genetische Dispositionen und intrauterine Einflüsse eine Rolle29, die gesamte Sozialisation und Lebensgeschichte, „Beziehungsschicksale“, traumatische Erlebnisse, familiäres Milieu, aktuelle Krisensituationen, körperliche Verfassung mit spezieller Krankheitsanamnese, Medikamente, Drogen, das kulturelle Umfeld, die soziale Verwurzelung und die gesamte existenzielle Situation mit Arbeitsleben, Beziehungen, Chancen und Bedrohungen, Freiheiten, Bedrängnissen oder Verlusten. Pathologische und gesunde Angst Trotz aller unterschiedlichen Theorien zur Angst besteht Konsens darin, wann Angst als pathologisch einzustufen ist, nämlich wenn die Angst zu einer anhaltenden erheblichen Einschränkung der Handlungsfähigkeit und Wahrnehmung führt und zu einem eingeengten Kreisen des Lebens um die Angst, meistens mit massiven körperlichen, vegetativen Beschwerden. Es gibt keine Angsterkrankung, die sich nicht auch im Somatischen manifestiert. Auf der anderen Seite gibt es komplexe körperliche Syndrome, die als Angsterkrankung oder Panikattacke einzuordnen sind, ohne ein entsprechend erlebtes subjektives Angstgefühl. Seit Sigmund Freuds erster Darstellung der Angstneurose 1895 30 hat nicht nur die Psychoanalyse eine Vielzahl unterschiedlicher Angsttheorien formuliert, beinahe jede psychotherapeutische oder psychiatrische Schule entwickelte eine spezielle Theorie der Angst als Krankheit, je nach ihrem Menschenbild, dem anthropologischen Grundverständnis und ihren therapeutischen Möglichkeiten. In unserem Zusammenhang sollen die Angstattacken und ihre Äquivalenzphänomene im Mittelpunkt des Interesses stehen, wie sie in der klinischen Notfallsituation nach wie vor eine erhebliche Herausforderung für Übertragung, Widerstand und insbesondere die Gegenübertragung im therapeutischen Team darstellen. Häufig liegt eine Komorbidität mit chronischen Schmerzerkrankungen vor, mit Schmerzattacken, Dys- und Parästhesien und vegetativen Störungen. Bei 10 bis 20% aller chronischen Schmerzpatienten mit Angstzuständen und schweren Depressionen mit Anpassungsstörungen (vor allem von Frauen) finden sich erhebliche psychophysische Traumatisierungen in der Früh- oder Spätanamnese wie sexueller Missbrauch, Psychoterror, Gewalterfahrungen und Mobbing. Durch somatische Fixierungen als Ausdruck konkretistischer Abwehr ist die Introspektion für die Angstproblematik erheblich eingeschränkt, durch Gegenübertragungsphänomene wie Wut, Ärger, Ohnmacht oder Angst bei Ärzten und Therapeuten der empathische und reflektierende Umgang mit dem Patienten erschwert. Die dabei provozierten Machtkämpfe mit dem Patienten verführen zu Radikallösungen mit Medikamenten unter Umgehung der Beziehungssituation oder zu Therapieabbruch, therapeutisch Erreichtes wird dadurch gefährdet oder zunichte gemacht31. Hinzu kommen iatrogene Angsterkrankungen. Eine differenzierte, beruflich selbstbewusst verankerte 60-jährige Patientin hatte vor zehn Jahren von ihren behandelnden Ärzten die Auskunft bekommen, dass sie damit rechnen müsse, aufgrund ihrer im Röntgenbild als schwer eingestuften degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule „irgendwann“ auf den Rollstuhl angewiesen zu sein, bei den cervikalen Bandscheibenvorfällen bestünde zudem die Gefahr einer Schädigung des Rückenmarks mit Querschnittslähmung. Die Patientin mit einem ausgeprägten Autonomie-Ideal leidet seitdem an Alpträumen und Schlafstörungen mit nächtlichen Panikattacken. Eine Verschlimmerung trat ein, nachdem kürzlich die Mutter an den Folgen des dritten Schlaganfalles im Seniorenheim verstorben war. Ich tanze so schnell ich kann Eine weitere Problematik gelangt mit dem Buch „Ich tanze so schnell ich kann“ von Barbara Gordon ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit 32. In diesem autobiografischen Bericht schildert die Star-Journalistin die Zerstörung Ihrer Karriere und ihres Privatlebens durch gedankenlos verschriebenes Valium bei rezidivierender Lumbago. Als sie es nach oberflächlicher ärztlicher Beratung abrupt absetzt, erkrankt sie an vorübergehenden Wahnvorstellungen und gerät in einen Teufelskreis von Angstzuständen und Beziehungstragödien mit mehreren Klinikaufenthalten. Die Panikattacken treten immer dann auf, wenn sie vor Problemen steht, die sie nicht bewältigen kann. Den Beginn ihrer Angsterkrankung markiert das schwere Angstsyndrom mit psychotischen Phasen nach dem ersten Absetzen von Valium und anschließender süchtiger Entwicklung. Angstzustände und Panikattacken stehen demnach in einem komplexen Kontext, der nicht allein durch Psychodynamik zu verstehen ist. Die Aufarbeitung alter Traumen und anderer Belastungen in der Biografie als therapeutisches Konzept reicht deshalb nicht aus. Die Ergänzung durch verhaltenstherapeutische und systemische Elemente ist unerlässlich,...