E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Albom Dienstags bei Morrie
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-22118-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die Lehre eines Lebens
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-641-22118-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
»Wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.«
Als er erfährt, dass sein ehemaliger Professor Morrie Schwartz schwer erkrankt ist und bald sterben wird, beginnt der Journalist Mitch Albom seinen Lehrer jede Woche zu besuchen. Und er, der meinte, dem Sterbenden Kraft und Trost spenden zu müssen, lernt stattdessen dienstags bei Morrie das Leben neu zu betrachten und zu verstehen.
Mitch Albom begeisterte mit seinen Büchern 'Dienstags bei Morrie' und 'Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen' weltweit unzählige Leserinnen und Leser. Seine Bücher wurden in 45 Sprachen übersetzt und waren Nummer-1-Bestseller. Er lebt mit seiner Frau Janine in Detroit.
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Die Krankheit Sein Todesurteil kam im Sommer 1994. Aber rückblickend hatte Morrie schon lange vorher gewusst, dass etwas Schlimmes auf ihn zukam. Er wusste es an dem Tag, an dem er das Tanzen aufgab. Er war immer ein Tänzer gewesen, mein alter Professor. Was für Musik gespielt wurde, war unwichtig. Rock ’n’ Roll, Big Band, Blues. Er liebte Musik, in jeder Form. Dann schloss er die Augen und begann, mit einem seligen Lächeln nach seinem eigenen Gefühl für Rhythmus zu tanzen. Es war nicht immer schön anzusehen. Aber schließlich brauchte er sich auch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was seine Partnerin davon halten mochte. Morrie tanzte allein. Er ging jeden Mittwochabend in diese Kirche auf dem Harvard Square, um an einem »Dance Free« teilzunehmen. Es gab da blitzende Lichter und aufdringliche Redner, und Morrie wanderte zwischen den Leuten, fast alles Studenten, umher. Er trug ein weißes T-Shirt, schwarze Trainingshosen und ein Handtuch um den Hals, und was auch immer gespielt wurde – das war die Musik, zu der er tanzte. Er tanzte den Lindy zu der Musik von Jimi Hendrix. Er twistete und wirbelte herum, er wedelte mit den Armen wie ein ekstatischer Dirigent, bis ihm der Schweiß den Rücken runtertropfte. Niemand dort wusste, dass er ein berühmter Doktor der Soziologie war, mit jahrelanger Erfahrung als Collegeprofessor und mehreren Büchern, die in der Fachwelt viel Beachtung fanden. Man hielt ihn einfach für einen komischen alten Kauz. Einmal brachte er ein Tonband mit Tangomusik mit und überredete die Veranstalter, es über die Lautsprecher zu spielen. Da war er König der Tanzfläche, schoss vor und zurück wie einer jener heißen lateinamerikanischen Liebhaber. Als er zu Ende getanzt hatte, applaudierten alle. In dem Augenblick hätte er am liebsten die Zeit zum Stillstand gebracht. Aber dann hörte das Tanzen auf. Anfang sechzig bekam er Asthma. Das Atmen machte ihm Mühe. Eines Tages ging er am Charles River entlang, es wehte ein kalter Wind, und plötzlich bekam er keine Luft mehr. Er wurde eilig ins Krankenhaus gebracht, und dort gab man ihm eine Adrenalinspritze. Wenige Jahre später bekam er Schwierigkeiten beim Gehen. Auf einer Geburtstagsfeier für einen Freund stolperte er und fiel hin, ohne dass es eine Erklärung dafür gab. An einem anderen Abend fiel er die Stufen eines Theaters hinunter und versetzte eine kleine Menschengruppe in Schrecken. »Gebt ihm Sauerstoff!«, rief jemand. Er war zu dieser Zeit Mitte sechzig, deshalb flüsterte man: »Das Alter …« und half ihm auf die Füße. Aber Morrie, der zu seinem Körper immer besseren Kontakt hatte als wir anderen, wusste, dass etwas anderes nicht in Ordnung war. Dies war mehr als nur das Alter. Er war die ganze Zeit müde. Er hatte Schwierigkeiten zu schlafen. Er träumte, er würde sterben. Er begann, Ärzte aufzusuchen. Viele Ärzte. Sie testeten sein Blut. Sie testeten seinen Urin. Sie schoben ein Mikroskop in seinen After und sahen sich seine Gedärme von innen an. Schließlich, als man nichts finden konnte, ließ der Arzt eine Muskelbiopsie machen und entnahm Morries Wade ein kleines Stück Fleisch. In dem Laborbericht hieß es, dass es sich um ein neurologisches Problem handeln könnte, und Morrie ging für eine weitere Serie von Tests ins Krankenhaus. Bei einem jener Tests saß er auf einem Spezialstuhl, während man ihm kleine elektrische Stromschläge verpasste – eine Art elektrischer Stuhl also – und seine neurologischen Reaktionen beobachtete. »Wir müssen das noch genauer überprüfen«, sagten die Ärzte, als sie sich seine Ergebnisse anschauten. »Warum?«, fragte Morrie. »Was ist los?« »Wir sind nicht sicher. Ihre Zeiten sind langsam.« Seine Zeiten waren langsam? Was bedeutete das? Schließlich, an einem heißen, feuchten Tag im August 1994, gingen Morrie und seine Frau Charlotte ins Sprechzimmer des Neurologen, und er bat sie, sich zu setzen, bevor er ihnen die Mitteilung machte: Morrie hatte amyotrophische Lateralsklerose (ALS), eine brutale, unbarmherzige Krankheit des Nervensystems, in den USA auch »Lou-Gehrig-Krankheit« genannt.* Es gab, soweit bekannt, kein Heilmittel dagegen. »Wie hab ich das bekommen?« fragte Morrie. Niemand wusste es. »Ist es tödlich?« »Ja.« »Also werde ich sterben?« »Ja, das werden Sie«, sagte der Arzt. »Es tut mir sehr leid.« Er saß fast zwei Stunden lang mit Morrie und Charlotte zusammen und beantwortete geduldig ihre Fragen. Als sie gingen, gab der Arzt ihnen einige Informationen über ALS mit auf den Weg, kleine Broschüren, als wollten sie ein Bankkonto eröffnen. Draußen schien die Sonne, und die Leute gingen ihren Geschäften nach. Eine Frau steckte hektisch Münzen in die Parkuhr. Eine andere schleppte Tüten mit Lebensmitteln. Eine Million Gedanken gingen Charlotte durch den Kopf: Wie viel Zeit haben wir noch? Wie werden wir damit fertigwerden? Wie werden wir die Rechnungen bezahlen? Auf einmal sah mein alter Professor die Normalität des Tages um sich herum mit anderen Augen. Er war verblüfft. Sollte die Welt nicht anhalten? Wissen sie nicht, was mir passiert ist? Aber die Welt hielt nicht an, sie nahm überhaupt nicht zur Kenntnis, was geschehen war, und als Morrie kraftlos die Tür des Wagens aufzog, fühlte er sich, als fiele er in ein Loch. Und nun?, dachte er. Während Morrie nach Antworten suchte, ergriff die Krankheit Tag für Tag, Woche für Woche immer mehr Besitz von ihm. Eines Morgens fuhr er den Wagen rückwärts aus der Garage und schaffte es kaum, auf die Bremse zu treten. Das war das Ende seines Autofahrens. Immer wieder stolperte er, deshalb kaufte er einen Stock. Das war das Ende seines freien und aufrechten Ganges. Als er einmal beim YMCA seine übliche Runde schwimmen gehen wollte, entdeckte er, dass er sich nicht mehr alleine ausziehen konnte. Deshalb stellte er seinen ersten Betreuer ein – einen Theologiestudenten namens Tony –, der ihm half, ins Schwimmbecken rein- und wieder rauszukommen und ebenso in seine Badehose und wieder heraus. Im Umkleideraum taten die anderen Schwimmer so, als würden sie ihn nicht anstarren. Aber sie taten es trotzdem. Das war das Ende seiner Privatsphäre. Im Herbst 1994 betrat Morrie den hügeligen Campus des Brandeis College, um sein letztes Seminar zu halten. Er hätte es natürlich auch ausfallen lassen können. Die Universität hätte volles Verständnis gehabt. Warum sollte er vor so vielen Leuten leiden? Bleiben Sie zu Hause. Bringen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung. Aber der Gedanke aufzugeben kam Morrie nicht. Stattdessen humpelte er ins Klassenzimmer, das mehr als vierzig Jahre lang sein Zuhause gewesen war. Wegen des Stocks dauerte es eine Weile, bis er seinen Stuhl erreichte. Schließlich setzte er sich, zog sich die Brille von der Nase und schaute in die jungen Gesichter, die schweigend zurückstarrten. »Meine Freunde, ich vermute, Sie sind alle wegen des Seminars in Sozialpsychologie gekommen. Ich habe dieses Seminar zwanzig Jahre lang gehalten, und dies ist das erste Mal, dass ich sagen kann, es ist überhaupt kein Risiko, es zu belegen, da ich an einer tödlichen Krankheit leide. Möglicherweise werde ich nicht lange genug leben, um bis zum Ende des Semesters zu unterrichten. Wenn Sie das Gefühl haben, dies sei ein Problem, dann habe ich volles Verständnis, wenn Sie das Seminar streichen.« Er lächelte. Und das war das Ende seines Geheimnisses. ALS ist wie eine brennende Kerze: Sie schmilzt die Nerven weg und lässt den Körper als einen Haufen Wachs zurück. Häufig beginnt die Krankheit an den Beinen und breitet sich dann nach oben aus. Man verliert die Kontrolle über die Oberschenkelmuskeln, sodass man sich nicht länger aufrecht halten kann. Man verliert die Kontrolle über die Rumpfmuskeln, sodass man nicht mehr gerade sitzen kann. Am Ende atmet man durch eine Röhre in einem Loch im Hals, während die Seele, hellwach, in einer schlaffen Hülle gefangen ist. Vielleicht ist man fähig, zu blinzeln oder mit der Zunge zu schnalzen wie ein Wesen aus einem Science-fiction-Film, der Mann, der in seinem eigenen Fleisch erfroren ist. Dies dauert nicht länger als fünf Jahre, von dem Tag an, an dem man die Krankheit bekommt. Morries Ärzte vermuteten, dass er noch zwei Jahre zu leben hätte. Morrie wusste, dass es weniger war. Aber mein alter Professor hatte eine tiefgreifende Entscheidung getroffen, eine, die er von dem Tag an, an dem er mit einem Schwert über dem Kopf aus dem Sprechzimmer des Arztes kam, umzusetzen begann. Werde ich jetzt nach und nach verwelken und verschwinden, oder werde ich das Beste aus der Zeit machen, die mir verbleibt?, hatte er sich gefragt. Er würde nicht verwelken. Er würde sich nicht schämen zu sterben. Statt dessen war er entschlossen, den Tod zu seinem letzten Projekt zu machen, zum zentralen Aspekt der Zeit, die ihm verblieb. Da jeder einmal sterben würde, könnte er anderen von großem Nutzen sein, nicht wahr? Er könnte sich zu Forschungszwecken...