Albinati | Die katholische Schule | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 1296 Seiten

Albinati Die katholische Schule

Roman
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8270-7978-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 1296 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7978-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Selbstbefragung à la Knausgård, ein Gedankenroman wie David Foster Wallaces Unendlicher Spaß– dieser Roman ist so komplex wie klug, so polemisch wie politisch, so bewegend wie bedeutend.Rom in den Siebzigerjahren, im gutbürgerlichen Quartiere Trieste ... Ein paar Ehemalige der Privatschule San Leone Magno begehen eines der brutalsten Verbrechen der Zeit. Edoardo Albinati ist damals auch auf diese Priesterschule gegangen. Vierzig Jahre lang hat er das Geheimnis seiner „schlechten Erziehung“ gehütet. Nun erzählt er es, und zwar so, als würde ihm vom Grund eines tiefen Brunnens sein Spiegelbild entgegenblinzeln. Entstanden ist ein Roman von verblüffender Vielfalt. Es geht um die Teenagerzeit, um Sex, Religion und Gewalt; um Geld, Freundschaft, und Rache, um legendäre Lehrer und Priester, Krawallmacher, kleine Genies und Psychopathen, um rätselhafte Mädchen und Terroristen. Aus diesem Gemisch lässt Albinati eine versunkene Epoche unverklärt wieder aufleben. Doch er lässt es nicht bei der Erinnerung bewenden, sondern stellt sich den großen Fragen unserer Tage, analysiert Alltagsphänomene, leitet Entwicklungen her, liefert Prognosen – scharfsinnig, manchmal zornig und immer mit besonderem Augenmerk auf die Dinge jenseits des Scheins."Ich habe alles gegeben, was ich hatte und nicht hatte, Geschichte, Gespenster, mein Schreiben ..." Edoardo Albinati
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KAPITEL II

Manche behaupten, der Kult der Jungfrau Maria sei ein archaisches Überbleibsel der einst mächtigen matriarchalen Religionen, die die männlichen Gottheiten dominierten und ihnen den Aufstieg verwehrten. Andere sehen in ihm die ebenso symbolische wie wirkungsvolle Reduzierung der Frau auf ihre ausschließliche Rolle als Mutter, Herzensmutter, Schmerzensmutter. Wieder andere deuten ihn als das einzige wertvolle Zugeständnis eines durch und durch männlich geprägten, von Vater, Sohn, Propheten und Patriarchen beherrschten Monotheismus an die Weiblichkeit und ihren entscheidenden Anteil daran, dass die Welt nicht nur existiert, sondern menschlich und bewohnbar ist – man könnte also sagen: Ein Glück, dass es unter all diesen krakeelenden Bartträgern eine Frau gibt. Immerhin. Um die Schande, die ihre Stammmutter über ihr Geschlecht gebracht hat, wettzumachen. Aus all diesen Gründen hatte sich die Ordensgemeinschaft des SLM der Jungfrau verschrieben, und zudem lag es natürlich nahe, dass über die schulische Erziehung kleiner und großer Jungs eine Mutter wachte, die schönste, einfühlsamste, langmütigste und nachsichtigste Mutter von allen, die jedoch (wie das herrliche Bild La Vierge corrigeant l’Enfant Jésus von Max Ernst zeigt) im Bedarfsfall auch züchtigen konnte, wiewohl gänzlich lauteren Herzens. Es ist schwer vorstellbar (obgleich die pädagogischen Strömungen, die in jenen Jahren ihren Anfang nahmen und zu einer allgemeinen Selbstverständlichkeit geworden sind, das exakte Gegenteil behaupten), dass Erziehung ohne Strafe auskommt. Unabhängig von ihrer Angemessenheit und der durchaus fraglichen abschreckenden Wirkung liegt ihr Zweck nämlich darin, im zu Recht oder Unrecht Bestraften einen leistungsfördernden Unmut zu wecken. Strafen sollen den Widerstand herausfordern und stärken, statt ihn zu brechen. Wer unter ihnen einknickt, lässt sie zu sinnlosen Demütigungen werden, über die man sich lustvoll beklagen kann. Allen anderen sind sie Prüfungen, die es zu bestehen gilt, Herkulesaufgaben, die Kräfte freisetzen, von denen man ungläubig feststellt, dass man sie besitzt und nutzen kann. Erst die Auflehnung gegen Strafe bringt die Kraft, die Intelligenz und den Stolz in Wallung, die sonst ungeahnt in einem schlummern. Es wird gern unterschätzt, dass die Moral der Moral vorausgeht, auch wenn sie sich gänzlich mit ihr identifiziert, und dass zu ihren Gemeinsamkeiten der durch Unterdrückung hervorgerufene Unwille gehört. Er ist eine einfache chemische Seelenreaktion. Weder Revolutionäre, Patrioten und Wissenschaftler noch einfache Bankangestellte, Krankenschwestern, Anwältinnen und Hautärzte würden es je zu etwas bringen, wenn sich ihnen nicht hin und wieder jemand in den Weg stellen und sie wie beim Gänsespiel aus zumeist fadenscheinigen, läppischen Gründen zurück auf Los schicken würde. Eine Initiation muss zumindest in Teilen schmerzhaft sein.

Die Priester des SLM waren mit den Tugenden der Jungfrau Maria bestens vertraut und wussten sie bei ihrer Lehrtätigkeit, zu der sie sich berufen sahen, fruchtbar zum Einsatz zu bringen. So, wie es Ritterorden und Bettelorden gibt, gab es die Ordensbrüder des SLM, deren Mission das Unterrichten war. Natürlich war es eigenartig, dass die Lehren der Schutzheiligen von einer durchweg männlichen Gemeinschaft praktiziert wurden und dass die Empfänger dieser liebevollen Zuwendung ebenfalls ausschließlich männlich waren. Lehrer und Schüler des SLM, allesamt männlich, mit einer einzigen großen Mutter und Königin: eine Art Bienenstock. Wie emsige Gärtner, die Kürbisse und Tomaten züchten, hatten sich die Priester zum Ziel gesetzt, junge Menschen zu formen und sie dann zu guten Christen heranreifen zu lassen; schon das erste Ziel war alles andere als leicht, das zweite, das bei der Gründung des Ordens im Jahr 1816 noch selbstverständlich erschienen sein mag, war im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden, und in der Zeit, in der sich diese Geschichte zuträgt, hatte sich der Ausdruck »guter Christ« in ein Fremdwort verwandelt, das jeder nach Gutdünken interpretierte und ihm einen psychologischen oder politischen Beiklang verpasste – der Papst meinte dies, die Gläubigen meinten das, sogar die Sünder konnten sich mit Fug und Recht gute Christen nennen, vielleicht die besten, immerhin waren sie der Rohstoff, der sprudelnde Quell des Christentums, die jüngste Generation verlorener Söhne und bußfertiger Magdalenen, eine wahre Brutstätte, die man hegen und schließlich erlösen musste, und dieser letzten Kategorie wurden die Schüler des SLM immer ähnlicher: kleine Sünder in spe.

In der westlichen Tradition geht man davon aus, dass Maria nicht gestorben, sondern tief eingeschlafen ist und das weltliche Leben auf diese Art verlassen hat.

Ich weiß es einfach nicht – mir ist noch immer nicht klar, was ich von den Priestern halten soll. Was ich ihnen gegenüber empfinde. Ich bin zutiefst hin- und hergerissen.

Ich erkenne an mir so einiges, um nicht zu sagen vieles, das ganz schön priesterhaft ist, angefangen bei den Schuhen, diesen schwarzen, schmalen, glattledernen Schnürschuhen, die ich mir schon immer und immer gleich kaufe und die mit einem »Na, hast du dir mal wieder Priesterschuhe gekauft« quittiert werden, oder die Sandalen, ganz genau, Sandalen, die gerade so angesagt sind und als geschmackloser Abklatsch in jedem Schuhgeschäft herumstehen, doch damals kaufte ich sie bei einem Schuhmacher unweit des Gettos, der sie für Mönche anfertigte, Büßerriemen aus schwarzem Leder, um den Fuß zu kreuzigen, der sich im Mai leichenblass und mager wie ein manieristischer Märtyrer aus den Winterstrümpfen schält und mutig entblößt.

Vor Jahren ließ mich ein Mädchen fast im Erdboden versinken, als sie mir sagte, es stehe mir »auf die Stirn geschrieben«, dass ich eine Priesterschule besucht habe, und obwohl ich so tat, als nähme ich es locker, und mir über die Stirn rieb, um dieses aus gleich drei scharlachroten Buchstaben, S, L und M, bestehende Mal wegzuwischen, war ich tödlich getroffen. Mitten ins Herz. Jahrelang benahm ich mich wie ein kleiner Petrus, ich verschwieg, dass ich aufs SLM gegangen war, auf eine Priesterschule, als müsste ich eine körperliche Behinderung verstecken, ich wich aus oder leugnete es sogar, wenn die Sprache darauf kam, und war froh, wenn die Frage nur »Wo hast du Abi gemacht?« lautete und ich wie aus der Pistole geschossen antworten konnte: »Am Giulio Cesare!«, dem staatlichen Gymnasium am Corso Trieste. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass ich die zwölf vorangegangenen Jahre an einer katholischen Schule absolviert hatte.

Damals habe ich begriffen, was es heißt, sich seiner Identität so sehr zu schämen, dass man sie hasst. Sich so gedemütigt zu fühlen, dass man denjenigen, der einen grundlos niedermacht, verteidigt. Wer andere herunterputzt, kennt nichts Schöneres, er wartet nur darauf, sich von seinen Opfern bestätigt zu fühlen.

Dann habe ich gelernt, dass der einzige Weg, sich seiner selbst nicht zu schämen, nicht darin besteht, sich selbst zu akzeptieren (unmöglich!), sondern sich mit dem hervorzutun, was man bis dahin versteckt hat. Eine Art offene Provokation. Wie auf den Gay-Pride-Paraden.

Von da an wurde die Tatsache, eine Priesterschule besucht zu haben, zu einem Joker im Ärmel: Ich bezichtigte mich selbst meiner schulischen Erziehung.

Auch andere priesterhafte Kleidungsgewohnheiten habe ich lange Zeit mehr oder weniger bewusst imitiert, besessen und getragen, wie den schwarzen, gerade geschnittenen Mantel. Die Vermeidung von Farben, die Skepsis gegen Abwechslung. Und ein leises Streben nach Gleichheit, nach der erzwungenen Verbrüderung mittels Uniform, die einen vom quälenden Zwang befreit, sich mit sich selbst und den anderen zu vergleichen, zu wählen, zu beurteilen und unter dem erbarmungslosen Urteil der anderen zu leiden. Natürlich hat diese Neigung etwas Defensives, sie dient dem Schutz. Ich gestehe, dass ich an einer Vergleichsneurose leide, allerdings nicht bei großen Dingen, eher bei lächerlichen Kleinigkeiten, ich bin ein Mensch, der sich haltlos in Details verliert und über einen minimal zu kurzen oder zu langen Hosensaum ebenso in die Krise gerät, wie er sich für einen BH begeistern kann, der seinen Inhalt um eine Körbchengröße anwachsen lässt. Die einzige Möglichkeit, sich von dieser ständigen Qual zu befreien, bestünde nicht darin, die Unterschiede im libertären Sinne unendlich zu vervielfältigen und den Vergleich zwischen einmaligen, unverwechselbaren Individuen unmöglich zu machen, sondern sie einfach aufzuheben. Ein Problem weniger. Wir ziehen uns alle gleich an, damit geht es schon mal los. Eine Welt ohne Kritik und ohne Kontrollen, weil Kontrolle ein für alle Male ausgeübt ist, die morgendliche Kleiderwahl ist hinfällig, kein Junge oder Mädchen muss leiden, weil das T-Shirt-Label nicht das richtige ist, keiner muss sich überlegen fühlen, weil es das richtige ist. Alle in Uniform und fertig, wäre das nicht herrlich? Ein Overall, ein Kaftan, eine Kutte, vielleicht eine Feder am Hut. Um zu wissen, wen man vor sich hat, einen Soldaten, Priester, Feuerwehrmann, Arbeiter, Millionär oder Knacki. Zigeunerinnen und Carabinieri bleiben die Einzigen, die noch eindeutig erkennbar sind …

Nur um das klarzustellen, das ist keine Wehmut, es gibt wirklich nichts, dem ich nachweinen würde, schon zu meiner Zeit war die Schuluniform verschwunden und der Einheitskluft aus T-Shirt und Jeans gewichen, der Zwangsjacke des Lässigen (Schuluniformen waren also kein Ausdruck gemeiner Gleichmacherei mehr, sondern markierten nun den stolzen Unterschied …), und als...


Koskull, Verena von
Verena von Koskull, geboren 1970, studierte Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna. Sie übersetzte unter anderem Carlo Levi, Gianrico Carofiglio und Salman Rushdie ins Deutsche.

Albinati, Edoardo
Edoardo Albinati, Jahrgang 1956, ist ein in Rom lebender Regisseur, Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er engagiert sich in der Flüchtlingshilfe und unterrichtet seit über 20 Jahren Häftlinge im Gefängnis von Rebibbia. Für »Die katholische Schule« erhielt er den Premio Strega, die wohl wichtigste literarische Auszeichnung Italiens.



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