E-Book, Deutsch, 159 Seiten
Albig Zornfried
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-608-11577-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 159 Seiten
ISBN: 978-3-608-11577-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jörg-Uwe Albig, geboren 1960 in Bremen, studierte Kunst und Musik in Kassel, war Redakteur beim Stern und lebte zwei Jahre als Korrespondent einer deutschen Kunstzeitschrift in Paris. Seit 1993 arbeitet er als freier Autor in Berlin. 1999 wurde sein Romandebüt »Velo« veröffentlicht. Es folgten die Romane »Land voller Liebe«, »Berlin Palace«, »Ueberdog«, »Zornfried« und zuletzt das Sachbuch »Moralophobia«.
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Wo knochen-saat in reicher erde sprießt
Wo wille rotes fleisch mit leben lädt
Wo echtes blut in satte reben schießt
Und mann für heim und herd im wetter steht
Da wächst der wald den niemand wachsen sah
Der forst der zeptern und gewehren gleicht
Der hain an dem der üble sturm versiegt
Und ekle brut gebeugt von dannen schleicht.
Storm Linné, Nornenborn
Das Dorf Wuthen ließ sich nichts anmerken. Es war eines dieser Dörfer, in denen die Deutschen sich eingerichtet hatten wie Glück im Unglück. Eine Straße, bepflanzt mit spitzgiebeligen Särgen, die Dächer mit Schiefer belegt, die Wände mit Rauputz. Hinter den Fenstern, winzig wie Schießscharten, unsichtbare, undurchschaubare Menschen. Eine Katze schlüpfte unter ein Auto, und aus einer Hecke ragte ein Handtuch oder Ähnliches in Schwarz-Rot-Gold. Flaues Sonnenlicht beschien die Dorfkirche, den Backshop, den Gasthof Purucker, den Flachbau der Freiwilligen Feuerwehr. Ein fast fensterloses Haus mit gekacheltem Erdgeschoss trug ein vorkragendes Schild mit der Aufschrift LA FEMME. Erst als ich das Ortsausgangsschild passierte und der Wald mich verschluckte, fiel mir auf, dass ich im ganzen Dorf keinen einzigen Baum gesehen hatte.
Natürlich parkte ich den Peugeot noch vor dem Burgtor. Ein Fluchtfahrzeug überlässt man nicht dem Zugriff des Gegners. Die Burgmauer sah aus wie die Fortsetzung des Waldes, und das Tor kam mir, wie schon die Lücken zwischen den Stämmen, wie eine trügerische Öffnung vor, hinter der noch undurchdringlichere Hindernisse lagen.
Ich dachte an Poes Haus Usher, die frostigen Mauern, die toten Fensterhöhlen. Sogar Ushers Teich war da: Grau und reglos lag er an der Westseite des Gemäuers. In seinem stumpfen Glanz spiegelten sich Mauern und Wald. Die Kiefernstämme sahen noch nackter aus darin, noch hagerer: unerträglich, geradezu quälend lang.
Ich warf die Lederjacke auf den Rücksitz, griff nach der pfifferlingsfarbenen Aktentasche und stieg aus. Die Klingel trug keinen Namen, die Gegensprechanlage blieb stumm. Trotzdem öffnete sich langsam das schmiedeeiserne Gitter, und ich stand im Hof und presste die Tasche an den Leib. Sie war robust und doch weich. Sie war wie eine Haut.
Ich weiß nicht, ob es am Trost der Tasche lag, dass ich das Bauwerk jetzt in einem freundlicheren Licht sah. Ich sah eine sandfarbene, sauber verputzte Fassade, sah Sprossenfenster, darin das Blau eines gutmütigen Himmels. Die Ziegelmauern der Anbauten erinnerten mich an Brooklyner Lofts. Es fehlte nicht viel, und ich wäre enttäuscht gewesen.
Ich stieg die Freitreppe hinauf, ging durch eine halb offene Tür und gewöhnte mich an die Dunkelheit. Den Läufer zierten rotblaue Ornamente, die aussahen, als hätten sie irgendwann einmal geblüht, vor langer, finsterer Zeit. Auch der Mann, der plötzlich vor mir stand, trug gedeckte Töne: einen schwarzen Anzug, darunter ein schwarzes Hemd mit offenem Kragen. Seine Augenlider sahen so schwer aus, dass mich schon der Anblick müde machte, sein Haar blondiert und zurückgegelt, und sein Gesicht glänzte wie seine Zähne.
Freiherr von Schierling, nehme ich an, sagte ich. Oder heißt es Durchlaucht.
Sie dürfen gerne Herr Schierling sagen, antwortete der Mann. Aber nicht zu mir.
In Zeitlupe öffnete er die Augen. Sie waren lindgrün und nass, als hätte er heimlich geweint. Sebastian Matzek, sagte er dann mit einer Knappheit, die wohl militärisch wirken sollte, aber nach Asthma klang. Ich bin nicht der Freiherr, sondern sein Sekretär.
Brock von den Nachrichten, sagte ich. Er öffnete eine Tür und schob mich in ein kahles Gelass mit Bogengewölbe ab.
Der Burgherr saß hinter einem Schreibtisch aus Ahornholz. Seine Brauen waren dünn; sie umkrallten die Augäpfel, als trüge er Monokel. Ich sah sein tundrafarbenes Tweedjackett, die Breeches, die Schnürstiefel, das schwarzweißkarierte Hemd, dessen Kragen ein Schal mit Tartanmuster verbarg. Eine rote Strähne, die aus dem Scheitelpunkt der Glatze spross, trennte streng und sauber rechte und linke Hirnhälfte.
Willkommen auf Burg Zornfried, sagte Hartmut von Schierling. Nehmen Sie Platz, sagte er, und es klang wie ein Befehl von einem, der zu lange gehorchen musste.
Zornfried, wiederholte ich. Eigentlich heißt das jetzt doch Krotzenstein, wenn ich mich nicht irre.
Als könnten Namen etwas ändern, fuhr Schierling auf. Schnell beherrschte er sich und versuchte ein Lachen. Es war ein gurgelndes Lachen, ein Lachen wie ein Strudel, ein Heulen aus den Tiefen des Weltmeers, das Schierlings hohe Stimme zu verspotten schien.
Das ist ja der Denkfehler bei euch guten Menschen, fuhr er dann fort. Gebt dem Kind einen anderen Namen, dann hat es nicht mehr blaue Augen, sondern grüne. Dabei hieß die Burg auch vor 1933 schon Zornfried. Seit 1920, seit dem Kauf durch Professor von Stubenrath. Kein Nationalsozialist, wie Sie vielleicht denken, sondern deutschnational. Das will nur keiner mehr wissen.
Erst nach und nach gelang es mir, die hohe Stimme mit der rustikalen Erscheinung des Burgherrn zusammenzubringen. Die Stimme klang gequetscht, flehend, marmoriert von einem leichten Schlürfen. Nur sein fränkischer Akzent rollte unbeirrt und bodennah.
Gauführerschule, na und, schmollte er. Das war ja keine Teufelsküche. Das war eine Verwaltungsakademie, mehr nicht.
Fahrig wischte sein Blick durch den Raum. Plötzlich hielt er still und sah mich fast bockig an. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, sagte er dann mit einer Art Lächeln. Für die Reinigung Ihrer Jacke komme ich selbstverständlich auf. Dann sagte er etwas, was ich nicht gleich verstand: Und vielen Dank für Ihre Mühe.
Ich fragte nicht nach. Ich wollte lieber nicht wissen, womit ich mir seinen Dank verdient hatte. Vielleicht hatte er die verquere Hoffnung, ich wäre auf seiner Seite; doch ich war entschlossen, ihn so schnell wie möglich von dieser Hoffnung zu befreien.
Ich vermied das Wort Homestory nicht nur, weil es englisch war. Stattdessen sagte ich: Ich möchte mit Ihnen über Ihre Arbeit sprechen. Mein Blick fiel auf ein Gemälde, das über seinem Kopf hing: ein Greis mit schwarzem Bart und boshaften Zügen. Sein Schädel, in Ocker- und Orangetönen gemalt, lag auf ein Kissen gedrückt; die Augen starrten weiß, kuppelrund und schwarzrandig, wie die der Blinden in Night on Earth. Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass die Augen geschlossen waren.
Mein toter Großvater, sagte Schierling wie beleidigt, als er meinen Blick bemerkte. Ich musste an meinen eigenen Großvater denken, der es nur zu ein paar Fotos in den flauen Farben der siebziger Jahre gebracht hatte, an seine Augen, die auf den Bildern mit der Zeit immer blasser wurden. Nie hätte eins dieser Fotos mich so anblicken können wie dieses wildfremde Gemälde.
Erzählen Sie mir von Ihrem Großvater, sagte ich versöhnlich.
Ich selber stehe mit blanker Brust vor Ihnen, antwortete Schierlings hohe Stimme. Aber meinen Großvater werde ich Ihnen nicht zum Fraß vorwerfen.
Kommen Sie schon, sagte ich. Ostfront oder Westfront. Oder ganz gemütlich in der Heimat im Büro, bei der Gestapo oder der Lagerverwaltung.
Er sah mich mit erhobenen Brauen an; es sah aus, als wollte er mich prüfen. Hat man bei Ihnen überhaupt noch Großväter, fragte er zurück, oder hört der Stammbaum auf, wenn die Eltern im Altersheim sind.
Dann senkte er den Blick wieder grimmig auf die Tischplatte.
Wann werden Sie begreifen, dass wir nicht nur für uns selber verantwortlich sind, stieß er hervor. Nicht nur für unsere Kinder und auch nicht nur für unsere alten Eltern. Die größte Verantwortung tragen wir für die Toten. Das Erbe der Toten hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Und selbst können sie sich nicht mehr wehren.
Ich sah den toten Großvater an der Wand. Der konnte auch mit geschlossenen Augen sehr wohl noch gefährlich starren. Die toten sinds in denen leben wohnt, zitierte ich. Das war aus der Eisernen Ernte.
Zum ersten Mal las ich so etwas wie Achtung in Schierlings Blick. Als hätte ich einen Knopf gedrückt, lieferte er die Fortsetzung:
In denen tier und kraut zum menschsein reift
In denen ahnenkette fest sich schließt
Und daseins streben letzten sinn begreift.
Ich sah seinen Kehlsack hüpfen, und ich musste an einen Waldfrosch denken. Ich sitze einem Geschöpf gegenüber, dachte ich, das nach eigenen Gesetzen lebt, das aber trotzdem Herz und Nerven hat...