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E-Book

E-Book, Deutsch, 223 Seiten

Albig Ueberdog

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-608-10356-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 223 Seiten

ISBN: 978-3-608-10356-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Stella kennt sich aus in der High Society. Als Gesellschaftsfotografin lichtet sie die Reichen und Schönen ab. Sie geht auf ihre Feste und sucht sehnsüchtig ihre Nähe. Als sie einer Gruppe von Obdachlosen begegnet, die wie aus dem Nichts auf einer Party aufkreuzen, glaubt sie, den wahren Glamour entdeckt zu haben. Mit dem Finger auf dem Auslöser ihrer Kamera folgt sie ihnen - und verliert sich in ihrer Welt.

Jörg-Uwe Albig, geboren 1960 in Bremen, studierte Kunst und Musik in Kassel, war Redakteur beim Stern und lebte zwei Jahre als Korrespondent einer deutschen Kunstzeitschrift in Paris. Seit 1993 arbeitet er als freier Autor in Berlin. 1999 wurde sein Romandebüt »Velo« veröffentlicht. Es folgten die Romane »Land voller Liebe«, »Berlin Palace«, »Ueberdog«, »Zornfried« und zuletzt das Sachbuch »Moralophobia«.
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DER ENGEL ORDNUNGEN


Wer den Engeln nahe ist, braucht nichts mehr zu beweisen. Er ist gerechtfertigt vor Gott und der Welt. Das ahnte ich schon in meiner Jugend, die schwarz war und voller Angst, in dem Jahr, als ich fünfzehn war, verklemmt und bis zur Einsamkeit arrogant.

Zuerst war mir mein Engel auf dem Fernsehschirm erschienen. Er verkörperte sich in dem kleinen, tragbaren Klotz auf meiner Kommode, der nur mir gehörte; in meinem persönlichen Kanal zur Welt. Der Engel erschien immer nur für drei, vier, fünf Minuten, doch bald erschien er mir überall. Seine Stimme drang, immer nur für ein paar Momente, aus den Lautsprechern der Radios, der Kneipen, der Diskotheken. Es war eine körperlose, reibungslose Stimme; sie klang, als käme sie aus großen Weiten. Sie klang hoch und flach wie auf Helium, schwerelos taumelnd im Edelgas. Engel sind leicht, sie sind ohne Gewicht. Und so lernte auch ich, das Leichte zu lieben, das mich der Sonne entgegentrug wie einen Fesselballon.

Ich hatte keinen Zweifel, dass der Engel nur für mich gekommen war. Denn wie durch ein Wunder erschien er immer genau dort, wo ich war. Andere, so kam es mir manchmal vor, konnten ihn nicht hören; meine Mutter etwa hackte ungerührt weiter Zwiebeln, wenn seine Stimme aus dem Küchenradio kam.

Der Engel war wunderschön. Er war blond und lockig und weiblich, damit auch ich ihn als Engel erkennen konnte. Nicht so, wie sie sind, erscheinen sie, sondern so, wie die Sehenden sie sehen können, lernte ich später. Denn alles, was ich bis dahin über Engel wusste, wusste ich von den Biedermeierbildern meiner Großtante Ada, von den Weihnachtskarten meines Großonkels Kurt. Der Engel trug Kreuze um den Hals, damit ich ihn nicht für einen Dämon hielt. Der Beruf der Engel, das wusste ich damals noch nicht, ist Kommunikation. Und deshalb sprechen sie immer genau die Sprache, die man versteht.

Der Engel, die Hand im Schritt, sprach zu mir: Dein Leib ist gebenedeit. Und so liebkoste ich meinen Leib und richtete ihn her für die Blicke der Menschen. Der Engel, von kräftigen Männern umtanzt, sprach: Lass die Liebe scheinen. Und ich, unter Tränen, malte mit Lippenstift Herzchen an den Spiegel. Der Engel, vor Skylines tanzend, sprach: In der Stadt ist das Leben. Und so ging ich, so bald ich konnte, zum Studieren in die Stadt. Der Engel, zwischen Situp und Sonnengruß, sprach: Harte Arbeit führt zum Ziel. Und so machte ich mich, so bald ich konnte, an meine Karriere.

Engel, sagt Origines, ernähren sich von nichts als göttlichen Strahlen. Auch mein Engel war dünn und wurde immer dünner; und so setzte auch ich mich auf Diät. Beweg dich, sagte der Engel, und er machte mir vor, wie man sich bewegt. Engel sind semper mobiles, immer in Bewegung, sagt Johannes von Damaskus; mein Engel war der beweglichste von allen. Er dehnte sich im Spagat, streckte das Bein in die Luft, drehte sich um die eigene Achse, bis mir schwindlig wurde.

Ich sah den Nabel des Engels, der seine Mitte beherrschte wie ein allsehendes Auge. Ich sah seinen herrlich unbeirrbaren Aufschwung nach oben. Stockend, tastend folgte ich seinen Bewegungen, setzte ein Bein vor das andere, zuckte mit den Schultern, warf den Kopf zurück. Ich stand vor dem Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern, und hinter mir stand der Engel mit ernstem, aufmerksamem Blick. Denn Engel machen keine Witze, und mein Engel war keine Ausnahme.

Engel sind keine Götter. Sie herrschen nicht, sondern sie dienen. Auch mein Engel zögerte nicht, mir zu dienen, mich zu leiten, mir Orientierung zu geben und die Regeln, nach denen gespielt wurde. Und er antwortete mir und ließ mich wissen, was die Dinge bedeuteten. Der Prophet Ezechiel berichtet von einem Engel, der durch Jerusalem ging, um die Hüften einen Gürtel aus Saphiren; er malte jedem Gerechten ein Zeichen auf die Stirn. Und auch mein Engel ging durch die Welt und kennzeichnete jeden, der es hatte: It, ritzte er ihnen in die Netzhaut, it, it, it.

Immer hatte ich Angst gehabt, dass die Zeit an mir vorüberlief, lautlos und ohne mich zu streifen; an mir, an meinem Dorf im Speckgürtel, an meinem Elternhaus, an meinen Freunden. Mein Engel aber ließ mich die Zeit kosten; sie zerging auf der Zunge. Er zeigte mir das Jetzt, den kostbaren, erregenden Moment. Ich war schwach, doch mein Engel zeigte mir eine Stärke, an der ich teilhaben konnte; der ich mich ausliefern konnte wie einem Wind, der den, der ihm gehorcht, zu neuen Ufern treibt.

Immer hatte ich Angst gehabt, dass alles nicht reichte. Dass alles zu wenig war; meine Noten, meine Freunde, meine Brust. Doch der Engel sagte mir, dass es darauf nicht ankam. Es war nicht wichtig, was man war, sondern was man zeigte. Der Engel zeigte mir Glanz; den Glanz der Diamanten, der platinblonden Haare, des polierten Leders. Und ich färbte mir die Haare mit Wasserstoff und wühlte im Schmuckschrank meiner Mutter nach Klunkern.

Ständig wandelte er seine Gestalt. Denn der Engel hat keine Substanz; er ist Erscheinung, ohne Unterschied von Bild und Wesen. Erfinde dich selbst, sprach der Engel, erfinde dich neu. Denn genau das war es, was Engel tun: Ihr wirkliches Selbst ist unsichtbar. Auf keinen Fall können Menschen die Engel in ihrer wahren Gestalt sehen. Denn wegen ihrer veränderlichen Form sind Menschen nicht in der Lage, einen unveränderlichen Geist zu sehen.

Manchmal träumte ich von dem Engel. Der Traum war der Moment, in dem ich den Engel an die Hand nehmen konnte. Ich konnte ihm aus der Zeitung vorlesen oder mit ihm vor die Tür gehen, um eine zu rauchen. In einem meiner Träume ging ich sogar mit dem Engel zur Toilette; es war das Chin’s oder das Terremoto. Wir wurden fast gleichzeitig fertig; hinterher traute ich mich nicht an den Spiegeln vorbei. Ich hatte Angst, einer von uns beiden wäre unsichtbar.

Dieser Engel hat mich nie verlassen. Eines Tages, ich war längst erwachsen, gab er sich zu erkennen. Er sang mit einer Stimme aus Seidenpapier, und ich wusste sofort, dass er nur sich selbst damit meinen konnte:

Ray of Light.

Dass ich nicht allein war, hatte ich immer gewusst. Sogar wenn ich für mich vor dem Spiegel stand, mit meinem feinen, aber elegant gewellten Haar, meinen niedrigen, aber sorgsam gepflegten Brauen, meinen schmalen, aber spöttisch geschwungenen Lippen, meiner etwas zu dicken Nase, war ich in Gesellschaft. Ich wusste, dass es das Vollkommene gab. Ich war mir sicher, dass es ideale Versionen meiner selbst gab, geklärte Spiegelbilder mit keckeren, zarteren oder herrischeren Nasen, perfekte Ergänzungen meiner Mängel und Stärken.

Sie mussten von oben kommen, aus den kühleren Luftschichten jenseits der Stratosphäre. Lässig traten sie auf und ab, lehnten in den spitzen Torbögen marokkanischer Paläste, träumten im Rolls-Royce an der Transitstrecke, knieten feierlich im Wüstensand. Siegerlächeln in den Augen. Sie arbeiteten nordisch hart und diszipliniert, feierten südländisch und ausgelassen. Sie trugen Samtslipper sportlich wie niemand sonst; sie trugen Turnschuhe zum Frack. Alterslos wanderten sie durch die Jahrhunderte; ihr sanftes, androgynes Wesen verlieh den Charakteren eine zarte Stärke. Sie verkörperten unsere Zeit, schwiegen beharrlich, verweigerten und verschenkten sich zugleich, mit diesem letzten Schimmer immer gültiger Magie. Sie machten keine Kompromisse, ließen sich nicht vereinnahmen; alles, was sie taten, taten sie ganz.

Ich wusste, dass sie sich in Kreisen bewegten. Sie schwebten in Sphären mit unsichtbaren Außenhäuten, die sich plötzlich öffnen können für einen Moment, für einen Augenblick der Ekstase und der Erkenntnis. Und im nächsten Augenblick zogen sie wieder ihre Bahnen, irgendwo am Himmel, unberührbar in ihren Privatjets oder hinter den stahlgrauen Vorhängen der ersten Klasse, aus denen nur von Zeit zu Zeit eine Stewardess hervorschlüpfte, benommen und selig.

Sie begegneten den Menschen herzlich, ohne Snobismus, auf moderne Weise traditionsbewusst. Ihr Schweben gab ihnen ihre Haltung, den aufrechten Gang, der sich niemals beugte. Ich ahnte, dass sie auch mich komplett machen konnten; nur der Himmel war ihre Grenze. Ich ahnte, dass sie auch mich zu sich hinaufziehen konnten, in ihre Haltung, ihren aufrechten Gang. Auch ich war ein Krokus im Schnee, der auf die Märzsonne wartete. Und so studierte ich ihren Gang, ihre gestreckten Nacken, ihre sehnenden Wimpern.

Ich spürte die Anziehung, wie eine Narzisse sie spürt oder eine Orchidee; ein Saugen himmelwärts, das Gespür von etwas Richtigem, die Ahnung einer höheren Harmonie. Ich wusste, dass das Licht in der Nacht am hellsten strahlt, und so machte ich mich abends bereit, warf die Tasche mit der Nikon über die Schulter und stieg auf mein Rad.

Schon in meiner Schulzeit hatte ich mich als Diplomatin verstanden. Ich sah mich als Botschafterin der Schönheit, des gelungenen Lebens. Vermitteln wollte ich, zwischen den Sphären des Lichts und den armen, ratlosen, rastlosen Menschen. Und noch immer gefällt mir die Idee, das Licht zu reflektieren, zurückzuwerfen, zu vervielfältigen und zu verteilen über unsere schattige Welt.

So begann ich zu fotografieren.

Lange hatte ich keinen Begriff gehabt für das Licht, das ich überall suchte. Ich suchte es auf Galas und Empfängen, bei Premieren, Präsentationen und Modenschauen, bei den Eröffnungen von Rosspfahl oder Supp Contemporary, beim Siebenjährigen im Planet Pöseldorf, bei der Eritrea-Charity im Plaza.

Meine Tante Simone, Hochschulpfarrerin in der Evangelischen Studentengemeinde, hatte eine Pastorin aus mir machen...


Albig, Jörg-Uwe
Jörg-Uwe Albig, geboren 1960 in Bremen, studierte Kunst und Musik in Kassel, war Redakteur beim Stern und lebte zwei Jahre als Korrespondent einer deutschen Kunstzeitschrift in Paris. Seit 1993 arbeitet er als freier Autor in Berlin. 1999 wurde sein Romandebüt 'Velo' veröffentlicht. Es folgten die Romane 'Land voller Liebe', 'Berlin Palace', 'Ueberdog', 'Zornfried' und zuletzt das Sachbuch 'Moralophobia'.

Jörg-Uwe Albig, geboren 1960 in Bremen, studierte Kunst und Musik in Kassel, war Redakteur beim Stern und lebte zwei Jahre als Korrespondent einer deutschen Kunstzeitschrift in Paris. Seit 1993 arbeitet er als freier Autor in Berlin. 1999 wurde sein Romandebüt 'Velo' veröffentlicht. Es folgten die Romane 'Land voller Liebe', 'Berlin Palace', 'Ueberdog', 'Zornfried' und zuletzt das Sachbuch 'Moralophobia'.



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