Albahari | Der Bruder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Albahari Der Bruder

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-89561-989-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-89561-989-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Wer ist der Verfasser des geheimnisvollen Briefs, durch den schlagartig alles aus den Fugen gerät? Das fragt sich Filip, der allein in einer zugestellten Wohnung lebt und sich in seinen Memoiren einen Verlierer nennt. Ist der Absender ein Betrüger oder wirklich der in Argentinien verschollene Bruder, von dem Filip bisher nichts ahnte? Ein Treffen im 'Brioni' soll dieses Rätsel lösen. Doch Filips einstige Stammkneipe ist - ebenso wie bald sein ganzes Leben - nicht mehr wiederzuerkennen. Früher, nach dem Tod der Eltern und der Schwester, betrank er sich hier an unzähligen Abenden unter ruppigen Kellnern und wortkargen Kumpanen. Daran ist in dem so ganz anderen Ambiente nicht mehr zu denken, erst recht nicht, als der vermeintliche Bruder auftaucht.Der Balkan hat sich verändert und ist doch erschreckend gleich geblieben - wie der große serbische Romancier David Albahari mit diesem fantastischen Aufeinandertreffen klarmacht.Eine schmerzhafte Parabel, eine fulminante literarische Identitätssuche voller schwarzem Humor.'

David Albahari wurde 1948 in Pe? im heutigen Kosovo geboren und war einer der renommiertesten Schriftsteller Serbiens. Er studierte Englische Literatur in Belgrad und hat Vladimir Nabokov und John Updike ins Serbische übersetzt. 1973 erschien sein erster Erzählungsband, zahlreiche weitere Romane und Erzählungen folgten. Sein Werk ist vielfach ausgezeichnet worden, z. B. mit dem NIN-Preis und dem Ivo Andri?-Preis. Sein Roman »Heute ist Mittwoch« wird mit dem Aleksandar Ti?ma International Literary Prize (2022) ausgezeichnet. David Albahari kehrte 2013 nach einem dreißigjährigen Aufenthalt im kanadischen Calgary nach Belgrad zurück, wo er am am 30. Juli 2023 verstarb. Der seit vielen Jahren an Parkinson erkrankte Autor konnte Wenn der König stirbt nicht mehr selbst schreiben, sondern hat ihn diktiert.
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II.

UM ES GLEICH ZU sagen, sagte Filip, er habe keine Entschuldigung dafür, dass er nicht sofort zu mir gekommen sei, egal welche Gründe ihn nach der Begegnung mit seinem Bruder gezwungen hätten, nach Hause zu gehen. Kurzum, das Treffen mit seinem Bruder sei zum großen Teil genau so verlaufen, wie er es vermutet hatte, aber auch so, wie er es sich überhaupt nicht habe vorstellen können. Er sehe, dass sich meine Stirn in Falten lege, sagte er, aber eine andere Erklärung habe er nicht für das, was geschehen sei, er vermute sogar, dass er gerade wegen dieser Ambivalenz mehrere Tage ohne jeden Kontakt krank in seiner Wohnung lag, aufgestört nur von einer Erste-Hilfe-Mannschaft, die durch sein wirres Reden alarmiert worden war. Er hatte so hohes Fieber, sagte er, dass die Sanitäter schleunigst die Badewanne mit kaltem Wasser füllten, ihn samt Schlafanzug hineinsteckten und dann seine ganze Wäsche durchwühlten auf der Suche nach einem frischen Schlafanzug, den sie schließlich in dem Teil des Schranks fanden, wo er die Bettwäsche aufbewahre. Das sehe er zum ersten Mal, habe der Sanitäter zu ihm gesagt, dass jemand die Schlafanzüge bei der Bettwäsche aufbewahrt, als sei dies, sagte Filip, nicht der natürlichste Platz dafür. Wenn man das Bett neu beziehe, sagte er, wechsele man doch auch den Schlafanzug, das sei wohl jedem klar außer diesem Sanitäter, der die ganze Zeit meckerte, weswegen, nachdem sie weg waren, das Fieber wieder stieg, nur rief er dann nicht mehr die Erste Hilfe, sondern ging ins Bad, ließ kaltes Wasser in die Badewanne und legte sich hinein. Er merkte, wie die Hitze seinen Körper verließ und das Wasser immer wärmer wurde, er meinte, er sei sogar eingenickt, denn als er die Augen wieder öffnete, spürte er eine große Kälte, die, so dachte er, nur vom Tod herrühren könne. Ihm wurde klar, dass er es nicht allein aus der Badewanne herausschaffen würde, weil das Wasser ihn nach unten drückte. Mit Mühe und Not gelang es ihm, ein Bein über den Wannenrand zu hieven und sich auf die Badematte hinunterrollen zu lassen. Eine ganze Weile, sagte er, blieb er so liegen und sammelte seine Kräfte, wobei er ständig an zwei Dinge dachte: zunächst an das, was sich zwischen ihm und seinem Bruder im »Brioni« abgespielt hatte, worüber er mir noch berichten werde, und dann daran, dass er es danach versäumt hatte, sich sofort bei mir zu melden. Als er wieder zu Kräften kam, zwang er sich, aufzustehen, sich anzuziehen, zu rasieren und etwas zu essen, obwohl vom langen Liegen im Wasser seine Haut ganz verschrumpelt war. Beim Ankleiden, sagte er, hatte er den Eindruck, die Kleider hingen an ihm wie an einer Vogelscheuche, denn er hatte während dieser Tage stark abgenommen. Er musste sogar ein neues Loch in seinen Gürtel machen, aber zum Glück, sagte er, habe er jetzt wieder Appetit, so habe er zum Beispiel an diesem Morgen zum Frühstück Rührei aus vier Eiern gegessen und nicht nur das Rührei, alles Mögliche habe er heute verdrückt, aber, sagte er und schlug plötzlich die Hände zusammen, all dies, die ganze Geschichte über die Zeit und die Verspätung könne warten, am wichtigsten sei es, dass er sich wieder erholt habe und zu mir geeilt sei. Sobald er sich wieder stabil fühlte, als seine Waden nicht mehr zitterten und die Knie nicht mehr wackelten, beeilte er sich, zu mir zu kommen, aber jetzt, wo er da sei, könne er seine Gedanken nicht ordnen und strapaziere stattdessen meine und seine Zeit mit völlig unnötigen Schilderungen wie der vom hohen Fieber, weswegen er die Erste Hilfe habe rufen und sich dann von dem Krankenpfleger habe erniedrigen lassen müssen, der auf der Suche nach einem frischen Schlafanzug seine Schränke durchwühlte. Hätte dieser ihm gesagt, wonach er suchte, sagte Filip, hätte er ihm gleich alles erklärt, aber der Mann war ohne zu fragen ins Zimmer gegangen und so lange dort geblieben, dass der andere Sanitäter ihm folgte, die beiden wühlten lange in den Schränken, bis sie den Schlafanzug endlich fanden und ihn mit einem solch triumphierenden Lächeln ins Bad brachten, als sei ihnen soeben ein seltenes Tier in die Falle gegangen. Sie zogen ihn um und klopften ihm auf die Schulter, dabei fiel er beinahe in Ohnmacht, als er die Unordnung in den Schränken sah. Das war für ihn ein fürchterlicher Schock, sagte er, und er wundere sich, dass er jetzt überhaupt reden könne. Eigentlich war alles, was ihm da passierte, eine einzige Serie von Schocks. Auch was ihm, während es geschah, nicht als Schock vorkam, sagte er, stellte sich später doch als etwas heraus, das Schockierendes in sich barg, als seien es Schocks mit Spätzündung gewesen, die ganz unerwartet wie echte Höllenmaschinen explodierten. Auch das hohe Fieber, weswegen er die Erste Hilfe rufen musste, sei eine Folge des Schocks der Begegnung mit seinem Bruder sowie des Schocks, der durch all jene Vorbereitungen zur Vermeidung von Schocks ausgelöst wurde, die ihm aber bei aller Mühe doch nicht gelang, und ich sei sein Zeuge, sagte er, dass er sich nach Kräften bemüht habe. Hätte er sich nicht derart bemüht, hätte er sich stattdessen einfach entspannt und fallengelassen, sagte er, wäre der Schock vielleicht nicht so stark gewesen, und zwar nicht nur dieser, sondern auch alle anderen Schocks. Manchmal sind wir uns selbst der ärgste Feind, sagte er, und während wir meinen, im eigenen Interesse zu handeln, handeln wir gerade gegen uns. Statt uns aufzubauen, untergraben wir uns, statt fester werden unsere Fundamente immer instabiler, am Ende fallen wir in uns zusammen, als hätte es uns nie gegeben. Das lasse ihn jetzt, sagte er, an das denken, was er dachte, als er etwa zwanzig Minuten vor der verabredeten Zeit ins »Brioni« kam. Er war vor der Zeit dorthin gegangen, um einen günstigen Platz zu finden, einen Tisch und einen Stuhl, von wo aus er den Eingang des »Brioni« im Blick hatte, um Robert als Erster zu sehen und die umgekehrte Situation zu vermeiden, dass Robert schon am Tisch sitzt, während er das »Brioni« betritt. Nichts sei ihm unangenehmer, als in ein Gasthaus zu kommen und sich zu einem Tisch zu begeben, an dem jemand auf ihn warte, während aller Augen auf ihn gerichtet seien, ihn musterten, beurteilten, sich fragten, warum er gekommen sei und warum er sich gerade mit diesem Menschen treffe, mit dem er sich gerade treffe. Deshalb hatte er beschlossen, etwa zwanzig Minuten früher zu kommen und dadurch den Druck des Wartens wenigstens etwas zu verringern, jene Nervosität, wegen der er von Zeit zu Zeit wie Espenlaub erzittere und von der auch bestimmt das hohe Fieber kam, von dem er mir schon berichtete. Ein weiterer Grund für sein zu frühes Hingehen war der Wunsch, wegen der schlechten Beleuchtung, an die er sich noch aus den Tagen und Nächten erinnerte, die er einst im »Brioni« verbrachte, einen möglichst gut beleuchteten Tisch zu ergattern für den Fall, dass man etwas lesen, anschauen oder aufschreiben wolle. Wenn er schon vorhatte, verschiedene Fotos und Dokumente mitzubringen, sagte er, war doch das Gleiche auch von Robert zu erwarten. Solche Begegnungen, wenigstens die, über die er in Zeitungen gelesen oder die er im Fernsehen gesehen habe, bestünden meist aus dem Anschauen von Fotos, die gewissermaßen als Gedankenstütze dienten für alles, was sich in den getrennten Biographien unwiderrufbar ereignet habe, denn alle diese Fotos seien schließlich Aufnahmen, auf denen der jetzt wiederentdeckte Mensch fehle. So sehe man zum Beispiel, sagte er, auf einem Foto, auf dem er stolz neben seinem Dreirad stehe, die Leere, die Robert gefüllt hätte, wäre er bei ihm gewesen. Er hätte dann natürlich nicht Robert, Robi oder Bobi geheißen, sondern einen hiesigen Namen getragen, etwa Milan oder Petar, und wäre folglich Mile oder Pera gerufen worden. Doch vielleicht sei sein Name wirklich Milan oder Petar, gewesen und später in Argentinien in Robert umgewandelt worden, wer könne das schon wissen, sagte er, vielleicht sei dies nicht einmal offiziell geschehen und er trage auch weiterhin den Namen, auf den er hier getauft worden sei. Bei diesem Gedanken, sagte er, habe er sich schnell die entsprechende Frage notiert. So etwas tue er, seit er den Brief bekam, der, sagte er, sowohl den Briefträger als auch ihn, aber auch mich überraschte. Das Letztere habe er aus kleinen Gesten von mir geschlossen, die vielen Menschen entgingen, etwa wenn ich mit der Spitze des rechten kleinen Fingers einen nicht existierenden Krümel aus einem Augenwinkel hole oder bei geschlossenem Mund die Zunge über die unteren Zähne streifen lasse, nach außen hin ganz ruhig, in Wirklichkeit aber äußerst überrascht. Solche Gesten also bewogen ihn zusätzlich, sich auf die Begegnung mit Robert sorgfältig vorzubereiten, so dass er neben Fotos und Dokumenten auch eine Liste mit etwa siebzig Fragen bei sich hatte, auf die er unbedingt eine Antwort erwartete. Und wegen dieser Liste mit Fragen, aufgeschrieben mit einem gewöhnlichen Bleistift mit harter und blasser Mine, habe er sich beeilt, möglichst früh ins »Brioni« zu kommen, in dieses Reich des Schattens und des Halbdunkels, um dort einen ausreichend beleuchteten Tisch zu finden. Aber jetzt, sagte er und stand auf, müsse er aufstehen, denn anders könne er das Ganze nicht noch einmal durchleben. Er frage sich, ob ich seinen Schock ermessen könne, als er zwanzig Minuten vor der verabredeten Zeit die Tür vom »Brioni« aufmachte und eine Gaststätte betrat, die dem »Brioni«, von dem er die ganze Zeit erzählte, nicht im Entferntesten entsprach und in der, also in dieser alt/neuen Gaststätte, ihn ein so starkes Licht blendete, dass er schon nach Hause gehen wollte, um eine dunkle Brille zu holen. Er machte einen Schritt zurück, schloss die Tür wieder und prüfte, ob er sich am richtigen Ort befand. Ja, wenigstens äußerlich war es das...


Wittmann, Klaus
Mirjana und Klaus Wittmann leben in Bonn und übersetzen aus dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen. Die Übersetzungen des Duos verstehen sich als Gemeinschaftswerke und entstehen im Tandemprinzip. 2006 erhielten sie für die Übersetzung von David Albaharis Mutterland den Brücke-Berlin-Preis, 2011 wurden sie für ihr übersetzerisches Gesamtwerk mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.

Albahari, David
David Albahari wurde 1948 in Pec im heutigen Kosovo geboren und war einer der renommiertesten Schriftsteller Serbiens. Er studierte Englische Literatur in Belgrad und hat Vladimir Nabokov und John Updike ins Serbische übersetzt. 1973 erschien sein erster Erzählungsband, zahlreiche weitere Romane und Erzählungen folgten. Sein Werk ist vielfach ausgezeichnet worden, z. B. mit dem NIN-Preis und dem Ivo Andric-Preis. Sein Roman »Heute ist Mittwoch« wird mit dem Aleksandar Tišma International Literary Prize (2022) ausgezeichnet. David Albahari kehrte 2013 nach einem dreißigjährigen Aufenthalt im kanadischen Calgary nach Belgrad zurück, wo er am am 30. Juli 2023 verstarb. Der seit vielen Jahren an Parkinson erkrankte Autor konnte Wenn der König stirbt nicht mehr selbst schreiben, sondern hat ihn diktiert.

"David Albahari wurde 1948 in Pec im heutigen Kosovo geboren und ist einer der renommiertesten Schriftsteller Serbiens. Er studierte Englische Literatur in Belgrad und hat Vladimir Nabokov und John Updike ins Serbische übersetzt. 1973 erschien sein erster Erzählungsband, zahlreiche weitere Romane und Erzählungen folgten. Sein Werk ist vielfach ausgezeichnet worden, z. B. mit dem Ivo Andric-Preis und dem Brücke-Berlin-Preis. David Albahari lebt in Calgary und Belgrad.Mirjana und Klaus Wittmann leben in Bonn und übersetzen aus dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen. Ihre Übersetzungen verstehen sich als Gemeinschaftswerke und entstehen im Tandemprinzip. 2006 erhielten sie für die Übersetzung von David Albaharis "Mutterland" den Brücke-Berlin-Preis, 2011 wurden sie für ihr übersetzerisches Gesamtwerk mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet."



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