Alameddine | Der Engel der Geschichte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Alameddine Der Engel der Geschichte

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-86300-265-7
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jakob, Mitte 50, sitzt im Wartezimmer einer Nervenklinik und bittet um Aufnahme. Er erlebt die Welt als eine einzige Katastrophe: Zwanzig Jahre ist es her, dass sein gesamter Freundeskreis der Aids-Epidemie zum Opfer fiel. Dieser Verlust hat einen Schmerz hinterlassen, der sich in jeden Winkel seiner Persönlichkeit gegraben hat. Und nun tobt im Jemen, einer Heimat, ein endloser Bürgerkrieg. Jakob will nur noch vergessen, doch in seinem Kopf hört er Stimmen: Satan und die 14 Nothelfer wollen ihn dazu bringen, sich der Erinnerung zu stellen. Jakob denkt an seine glückliche Kindheit in einem Bordell in Kairo, den religiösen Drill der Klosterschule in Beirut. In San Francisco erlebte er die Befreiung der Schwulen, die sehr bald in einen grausigen Totentanz umschlug. In einer Vielzahl von Stimmen und Handlungsebenen konfrontiert der Roman orientalische und abendländische Lebensweise und Kultur, die sich auch in der Lebensgeschichte Jakobs immerzu bekämpfen und befruchten - elegant, kraftvoll und geistreich.

Rabih Alameddine (Jg. 1959) lebt als Maler und Schriftsteller in San Francisco. Sein erster Roman 'Koolaids. The Art of War' (1998) war ein internationaler Erfolg; als erste deutsche Übersetzung erschien 2016 sein Roman 'Eine überflüssige Frau'. In 'Der Engel der Geschichte' kehrt Alameddine zum Thema seines ersten Romans zurück.
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Im Krankenhaus
Eingeritzte Gedichte
Nachdem ich ausgestiegen war, setzte der Taxifahrer in der schmalen Gasse mit gespenstischer Geschwindigkeit zurück, beinahe als würde er in den Flickenteppich niedrig hängender Wolken emporsteigen, nachdem meine Last von ihm genommen war. Mit einem gewissen Maß an Leidenschaftslosigkeit sah ich ihm nach. Ich machte mir bewusst, dass es vermutlich nur wenig mit mir zu tun hatte, dass er ein so hohes Risiko einging, um schnell davonzukommen. Vielleicht hatte er es eilig, weil er hoffte, einen weiteren Fahrgast zu finden, bevor er in seine kleine Einzimmerwohnung zurückkehrte, oder vielleicht fuhr er immer so, wenn kein Fahrgast auf seinem Rücksitz saß. Nachdem ich gesagt hatte, wohin ich wollte, hatte ich kein Wort mehr gesprochen. Vielleicht wollte er ganz einfach einen möglichst großen Abstand zur psychiatrischen Notfallklinik gewinnen. Ich drehte mich um und musste aufpassen, wohin ich die Füße setzte, denn überall um mich herum waren Pfützen. Es hatte gerade zu regnen aufgehört, also wollte der Fahrer vielleicht nachhause kommen, bevor das Gewitter von Neuem begann. Frischer Regen hatte die giftigen Düfte in der Gasse gemildert, weniger Urin, weniger Verfall, weniger faulige Menschheitssuppe. Die in die Jahre gekommene runde Lampe über der Eingangstür des Krankenhauses besänftigte mich mit ihrem weichen, indirekten Licht, das den flimmernden Fußweg in einen Sumpf verwandelte. Ich ging in das Backsteingebäude und fragte mich, ob es wohl erdbebensicher gebaut war; der abschüssige Fußboden flößte kein Vertrauen ein. Am Empfang war eine ältliche Frau mit wuscheligem, satanisch-rot gefärbtem Haar für drei Schalter zuständig; über zweien davon stand TRIAGE, über dem dritten ANMELDUNG. Im Moment war sie Triage, aber sie vermittelte den Eindruck, dass sie schneller zur Anmeldung hinüberhuschen konnte, als ich Mephistopheles sagen konnte, oder auch nur Pudel, in dessen Gestalt Satan das erste Mal Faust erschienen war – Hier bin ich! Die rothaarige Rezeptionistin lächelte verlegen und schaffte es, fröhlich zu bleiben, obwohl ich nicht in der Lage war, ein Gleiches zu tun. Auf die Frage, ob sie mir helfen könne, antwortete ich, dass ich einen Psychiater sprechen müsse, ich hätte Halluzinationen und hörte Satans Stimme wieder – wieder nach langer Abwesenheit, und sie wurde immer eindringlicher. Meine Arbeitgeber wollten, dass ich mir helfen ließ, anscheinend fühlten sich die Anwälte meinetwegen unwohl, auch wenn ich nur wenig bis gar keinen Kontakt zu ihnen hatte und auch keinen Wert darauf legte. Zu Greg hatte ich Kontakt gehabt, auch er rothaarig und Anwalt dieser Kanzlei, aber er war schon seit einiger Zeit tot, inzwischen fast zwanzig Jahre. Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, das Lächeln saß fest. Ja, Halluzinationen und Kontakt zu toten Rothaarigen qualifizierten mich, mit jemandem im Krankenhaus zu sprechen. Ich hatte die Triage überwunden, Lob und Preis. Darf ich Sie bitten, dieses Formular auszufüllen, sagte sie und reichte mir einen Stapel in kleiner Schrift bedrucktes Papier, das mir zu verstehen gab, dass ich mir eine neue Brille verschreiben lassen sollte. Ein Schild an der abbröckelnden weißen Wand zu meiner Rechten versprach, das Krankenhaus biete medizinische und psychologische Versorgung von hoher Qualität, voll Mitleid, Würde und Respekt für die Patienten in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit. Im Sinne der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit sagte die Rezeptionistin, sie fände es wunderbar, dass meine Arbeitgeber mir Urlaub gaben, um mich um mein kleines Problem zu kümmern, und mich nicht rauswarfen, denn so wenige Menschen und noch weniger Firmen hätten Verständnis dafür, dass Menschen wie ich zum Arzt gehen mussten, um bestimmte Probleme zu lösen, wie alle anderen auch. Sie redete und redete, während mein Stift versuchte, die richtigen Worte auf die richtigen Linien zu kritzeln und die richtigen Kästchen anzukreuzen. Ihre Stimme war wie ein Déjà-vu, oder besser ein Déjà-entendu, aber ich kam nicht drauf, wo ich sie schon einmal gehört hatte; die Töne schienen außerhalb von ihr zu entstehen, als kämen sie nicht aus ihrem Mund, sondern aus der verseuchten Luft um sie herum, als vibrierten die Luftpartikel, um ihre Stimme zu tragen, was sie ja auch tun, wie uns die Wissenschaft sagt. Ich war am Ende, Doc. Ich wäre nicht ins Krankenhaus gegangen, wäre dieser schreckliche Tag nicht mit Nachrichten über einen weiteren Drohnenangriff auf den Jemen angebrochen, das Töten an diesem Morgen nicht meiner Heimat noch näher gekommen. Sechs Männer, eine Frau, zwei Jungen und ein Mädchen, von einer einzigen Explosion in Stücke gerissen, allesamt Kämpfer der Al Kaida einem jemenitischen Militärsprecher zufolge, was die CIA nicht bestätigt, die ihre Tötungen sonst selten kommentiert; geschehen im südlichen Gouvernement Abyan, im kleinen Dorf Mahfad, dem Dorf meiner Mutter, wo ich vielleicht, vielleicht auch nicht geboren wurde, meine Mutter konnte sich nicht erinnern, denn obwohl sie gerade erst dorthin zurückgekehrt war, wurde sie wieder hinausgeworfen oder ging freiwillig, weil sie unverheiratet war. Tote durch Drohnenangriff waren so alltäglich geworden, dass sie in den Zeitungen oder Nachrichtensendungen kaum noch erwähnt wurden, doch ich musste mich noch daran gewöhnen. Die rothaarige Rezeptionistin hob die Stimme, also hörte ich ihr zu und sah, dass sie schwarze Frida-Kahlo-Augenbrauen und eine schiefe Nase hatte, sie sagte, ich erinnere mich wohl nicht mehr an sie, sie sich aber an mich, sie hätte mich nicht gleich erkannt, es sei ja ungefähr zwanzig Jahre her, ich sei älter geworden; sie sei älter und roter geworden, Ha ha, aber als sie meinen Namen hörte, habe sie mich als den einmaligen Jacob erkannt, den berüchtigten Dichter des Krankenhauses. Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Vor Jahren war ich in dieses Krankenhaus gekommen, daran konnte ich mich erinnern, aber nicht an sie, ich hatte eine Art von Panikanfall, ein besorgter Freund, Jim vielleicht, hatte mich hierhergebracht, ich war erschöpft und zugedröhnt, wahrscheinlich von Speed, unfähig, das Sterben zu ertragen. Ich erinnerte mich, dass ich hierhergekommen war, bevor ich für drei Tage im Sankt-Franziskus-Hospital aufgenommen wurde. Mehr wusste ich nicht, bevor sie mich daran erinnerte. Anscheinend hatte ich, während ich auf den Arzt wartete, ein Gedicht aus vier Versen in die Wand geritzt und mit meinem Namen unterzeichnet. Dafür hatte ich eine aufgebogene Büroklammer benutzt, zumindest sagten das nachher alle, denn bevor sie mich in den Raum brachten, hatte man mich wie vorgeschrieben durchsucht, damit ich nichts bei mir hätte, womit ich den Wänden oder einer Vene Schaden zufügen konnte. Nach meiner großartigen Leistung wurden die Durchsuchungen gründlicher durchgeführt. Monatelang sagte man den Stammgästen, die sich über die unwürdige Behandlung beklagten, sie sollten sich beim Dichter bedanken, was ich ganz herrlich fand, und die Rezeptionistin lachte und lachte, ein fröhlicher Klang, so bodenständig. Ich konnte mich weder an das Ritzen noch an das Gedicht erinnern. Sie sagte, es sei ein Original gewesen, und einer der Insassen habe es für schrecklich amüsant, wenn nicht sogar schrecklich gut gehalten und es abgeschrieben, bevor die Wand gespachtelt und neu gestrichen wurde, und gab es jedem Patienten, der hier durch die Mangel gedreht wurde, doch dann starb der Insasse und alle dachten, ich wäre wie alle anderen auch gestorben. Wie ging das Gedicht? Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, es war so lange her, aber sie wusste noch, dass ich Ägypter war, und als Millionen meiner Landsleute sich auf dem Tahir-Platz versammelten und unseren Diktator stürzten, habe sie an mich gedacht. Ich sagte, ich sei kein Ägypter, was sie verwirrte. War ich mit meiner Mutter nicht vom Libanongebirge gekommen, das im Sinai lag? Ich wollte nicht schon wieder erklären, dass der Nahe Osten nicht ein einziges Land war und dass die Heilige Katharina von Alexandria nur im übertragenen Sinn meine Mutter war, stattdessen sagte ich der Rezeptionistin, alles liege in der Wüste Sinai, wir alle lebten dort; der Nahe Osten sei ein einziges Durcheinander von stinkendem Müll. Mein Vater war Libanese, meine Mutter Jemenitin, ich verbrachte einen Teil meiner Kindheit in Kairo, also konnte man sagen, ich sei Ägypter, ich war ganz und gar arabisch, sieh nur wie dunkel. Wir lachten und lachten und ich fragte sie, ob sie mich auf die entwürdigende Art durchsuchen würde, die meinetwegen eingeführt wurde, und ob man sie vielleicht als Autoerotik bezeichnen könne, wir lachten und lachten immer weiter und sie sagte, das mache nicht sie, sondern der große Kerl, und wie gerufen trat der große Kerl ins Wartezimmer, er sah Lou Ferrigno zum Verwechseln ähnlich und trug ein schlecht sitzendes T-Shirt, das jede Wulst seines von Steroiden aufgepumpten Körpers nachzeichnete, über der vorstehenden Brustwarze das Logo von Atorvastatin. Ich fragte, ob ich ihn mit nachhause nehmen könne, wenn wir hier fertig seien, und wir alle drei lachten und lachten, und Ferrigno war viel größer als ich, er hätte die Hand zweimal um meinen Bizeps wickeln können, aber einmal genügte, um mich in einen anderen Raum zu führen. Allein mit mir wichen seine Augen mir aus, ich dachte, ich solle mich jetzt wohl ausziehen, aber ich fühlte mich bereits nackt, als hätte ich keine Haut. Ich Marsyas, du der bullige Apollo. Er sah mich nicht an, und das war richtig so. Ich schloss die Augen, und du weißt, wer in meinem Kopf neben dem Untersuchungstisch saß. Keine Sorge, Doc, ich bin nicht verrückt, ich weiß, Satan war nicht da, ich wusste, dass ich mir den unbesiegbaren Iblis vorstellte, wenn ich ihn sah; wenn ich Gesellschaft brauchte, war er da. Seine leuchtenden,...


Rabih Alameddine (Jg. 1959) lebt als Maler und Schriftsteller in San Francisco. Sein erster Roman "Koolaids. The Art of War" (1998) war ein internationaler Erfolg; als erste deutsche Übersetzung erschien 2016 sein Roman "Eine überflüssige Frau". In "Der Engel der Geschichte" kehrt Alameddine zum Thema seines ersten Romans zurück.


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