E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Alam Inmitten der Nacht
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-27693-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. - Jetzt die Netflix-Verfilmung »Leave the World Behind« mit Julia Roberts, Ethan Hawke und Mahershala Ali
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-27693-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rumaan Alam hat einen modernen Klassiker geschrieben - einen brillanten Gesellschaftsroman, der von der Doppelmoral einer weißen US-Familie erzählt: Amanda und Clay wollen mit ihren beiden Kindern eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island verbringen. In einem Haus am Ende der Welt, weit weg von allem. Doch mitten in der Nacht steht dort plötzlich ein älteres, schwarzes Ehepaar vor der Tür. Die beiden behaupten, das Haus gehöre ihnen. Sie berichten, dass ganz New York im Dunkeln liege, das Leben an der Ostküste komplett lahmgelegt sei. Hier draußen jedoch, an diesem abgeschiedenen Ort, ohne Internet, Handy- oder Fernsehempfang, wissen Amanda und Clay nicht, was sie davon halten sollen. Stimmt das, was die beiden behaupten? Können sie ihnen trauen? Was passiert da gerade in der Welt?
- Ab 8. Dezember 2023: Netflix-Verfilmung u.a. mit Julia Roberts, Ethan Hawke und Mahershala Ali; Produzenten: Michelle und Barack Obama.
- 'Rumaan Alam erzählt von der Doppelmoral einer weißen US-Familie - und von der Apokalypse.' DER SPIEGEL
- Ein faszinierender Gesellschaftsroman für Leser*innen von Jonathan Franzen und Leila Slimani.
- 'Seit Ishiguros Alles, was wir geben mussten hat mich kein Roman mehr derart mitgerissen.' Carmen Maria Machado
- 'Rumaan Alam setzt sich brillant mit Themen wie Hautfarbe, sozialem Status, Familie und einer Welt auseinander, die plötzlich etwas Bedrohliches angenommen hat - gar nicht so verschieden von unserer Situation heute.' (Roxane Gay)
- Eine Lizenz aus dem btb HC.
Rumaan Alam, 1977 geboren, ist Schriftsteller und Journalist. Er gilt als 'eine der großen literarischen Hoffnungen der USA' (Buchreport). 'Inmitten der Nacht' war New-York-Times-Bestseller und National Book Award-Finalist. Der Roman wird verfilmt mit Julia Roberts, Mahershala Ali und Ethan Hawke in den Hauptrollen. Rumaan Alam schreibt u.a. für The New York Times, The New Yorker und The New Republic. Er unterrichtet an der Columbia University und lebt mit seiner Familie in Brooklyn.
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1
Immerhin, die Sonne schien. Sie nahmen es als gutes Zeichen – die Menschen machen aus jeder beliebigen Gegebenheit ein Omen. Dabei war der Himmel lediglich wolkenlos, und die Sonne stand, wo sie immer steht. Die Sonne, ausdauernd und gleichgültig.
Eine Straße führte zur nächsten, der Verkehr stockte. Im Innern des silbergrauen Autos bildete sich ein eigenes Mikroklima wie unter einer Glasglocke: kalte Luft aus dem Gebläse, vom Rücksitz die Ausscheidungen pubertierender Teenager (Schweiß, Füße, Talg), Amandas französisches Shampoo. Dazu das Rascheln des unvermeidlichen Mülls. Clay war für das Auto zuständig, und dank seiner nachlässigen Art sammelte sich dort alles Mögliche an: verstreute Haferflocken von aus der Großpackung gerissenen Müsliriegeln, eine einsame Tennissocke, die Werbeeinlage aus dem New Yorker, ein zerknülltes, von getrockneter Rotze verknöchertes Taschentuch und kleine, weiße, in ferner Vergangenheit von der Rückseite eines Pflasters gezogene Papierstreifen. Kinder brauchen ständig Pflaster, ihre rosa Haut kann aufplatzen wie eine reife Sommerfrucht.
Die Sonne auf den Armen tat gut. Die Fenster waren mit einer Schutzbeschichtung versehen, die den Krebs außen vor hielt. In den Nachrichten war von einem drohenden Unwetter die Rede, von Wirbelstürmen, die irgendwelche offiziellen Stellen mit ungewöhnlichen Vornamen belegt hatten. Amanda stellte das Radio leiser. War es sexistisch, dass bei ihnen immer Clay am Steuer saß? Nun ja: Amanda fehlte das Verständnis für die heiligen Riten des Autofahrens, für die große Inspektion alle zwanzigtausend Kilometer, für Parkverbotszonen, die je nach Tageszeit die Straßenseite wechselten. Außerdem war Clay sich nicht zu schade dafür. Er unterrichtete am College, was sich wunderbar mit seiner Vorliebe für praktische Alltagsaufgaben ergänzte: gelesene Zeitungen zu Altpapierstapeln verschnüren, Streusalz auf dem Gehweg verteilen, Glühbirnen auswechseln, verstopfte Abflüsse mit der Saugglocke reinigen.
Das Auto war nicht neu genug für reiche Leute, aber zu neu für Hippies. Der Mittelklassewagen einer Mittelschichtsfamilie, der nicht beeindrucken, sondern lediglich nicht negativ auffallen sollte; erworben in einem Autohaus mit verspiegelten Wänden, wo die Luftballons auf Halbmast hingen und wo es weniger Kunden gab als Verkäufer, die zu zweit oder dritt herumstanden und mit dem Kleingeld in den Taschen ihrer Anzughosen klimperten. Manchmal steuerte Clay auf dem Parkplatz das falsche Auto an (das Modell in »Graphitgrau« war sehr gefragt) und ärgerte sich, wenn die schlüssellose Fernbedienung versagte und die Tür sich nicht öffnen ließ.
Archie war sechzehn. Seine unförmigen Sneaker waren groß wie Brotlaibe. Er roch immer noch ein wenig nach Milch, so wie kleine Babys das tun, vermischt mit Schweiß und Hormonen. Um den Mix zu entschärfen, sprühte er sich Deo in das Gestrüpp unter seinen Achseln, einen Duft, wie er in der Natur nirgends vorkam und auf den sich irgendeine Probandengruppe auf der Suche nach dem maskulinen Ideal geeinigt hatte. Rose achtete schon ein bisschen mehr auf sich. Die volle Mädchenblüte warf ihren Schatten voraus, und ein Bluthund hätte unter der Schicht von preiswerter Anfängerkosmetik und künstlichen Apfel- und Kirscharomen, wie Pubertierende sie lieben, etwas Metallisches erschnüffelt. Sie stanken, wie alle Teenager stinken, aber man konnte ja schlecht mit geöffneten Fenstern über den Expressway fahren; das wäre viel zu laut. »Ich muss da rangehen.« Amanda hielt ihr Smartphone in die Höhe, um sie vorzuwarnen, dabei hatte niemand etwas gesagt. Archie war mit seinem Handy beschäftigt und Rose mit ihrem, sie spielten oder trieben sich in den elterlich abgesegneten sozialen Medien herum. Archie schrieb mit seinem Freund Dillon, dessen schwule Väter ihm die Scheidung versüßen wollten und ihm deswegen erlaubt hatten, den Sommer kiffend im Dachgeschoss ihres Sandsteinhauses in der Bergen Street zu verbringen. Rose hatte jetzt schon etliche Fotos der Reise gepostet, obwohl sie die Stadtgrenze kaum hinter sich gelassen hatten.
»Hey, Jocelyn …« Dass Telefone heutzutage wussten, wer anrief, machte alle Höflichkeitsfloskeln überflüssig. Amanda war Etatdirektorin, Jocelyn ihre Teamleiterin und, um es im modernen Bürojargon zu sagen, eine ihrer drei Untergebenen. Jocelyn hatte koreanische Eltern, war aber in South Carolina zur Welt gekommen. Amanda fand ihren breiten Südstaatenakzent ziemlich aufgesetzt, was aber natürlich so rassistisch war, dass sie es niemandem erzählen konnte.
»Tut mir leid, wenn ich dich störe …« Jocelyn klang ein wenig kurzatmig. Nicht Amanda flößte ihr so viel Respekt ein, sondern Amandas Position. Amanda hatte ihre Karriere in der Agentur eines cholerischen Dänen begonnen, dessen Halbglatze an eine Mönchstonsur erinnerte. Letzten Winter hatte sie den Mann zufällig in einem Restaurant wiedergetroffen, ihr war übel geworden.
»Kein Problem.« Nicht, dass Amanda besonders selbstlos gewesen wäre; der Anruf war eine Erleichterung. Sie wollte von ihren Kollegen gebraucht werden, wie Gott will, dass die Menschen beten.
Clay trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, womit er sich einen schiefen Blick von seiner Frau einfing. Er sah in den Rückspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass die Kinder noch da waren, eine alte Gewohnheit aus früheren Zeiten. Archie und Rose atmeten gleichmäßig. Die Handys hatten auf sie einen ähnlichen Effekt wie diese bauchigen Flöten auf Kobras.
Niemand achtete auf die Landschaft rechts und links des Highways. Das Hirn stachelt die Augen auf, und irgendwann ersetzen die Erwartungen die Wirklichkeit. Piktogramme in Schwarz und Gelb, hügeliges Gelände, das an Sichtbetonfassaden endete, gelegentlich ein unspektakuläres Haus, ein Bahnübergang, ein Baseballfeld, ein Aufstellpool. Amanda nickte beim Telefonieren, nicht ihrer Gesprächspartnerin zuliebe, sondern um sich selbst zu beweisen, wie engagiert sie war. Manchmal vergaß sie vor lauter Nicken das Zuhören.
»Jocelyn …« Amanda suchte nach einem weisen Rat. Jocelyn brauchte eigentlich keinen Vorschlag, sondern nur ihren Segen. Die Arbeitshierarchie basierte auf Willkür, wie alles im Leben. »Das ist völlig in Ordnung. Ich halte das für eine sehr gute Idee. Wir sind noch unterwegs, aber du kannst jederzeit anrufen. Wenn wir da sind, könnte der Empfang allerdings schlecht sein, das Problem hatte ich letzten Sommer auch, weißt du noch?« Sie verstummte und schämte sich; wieso sollte Jocelyn sich an ihren Urlaub vom letzten Jahr erinnern? »Dieses Mal wagen wir uns noch weiter raus!« Sie versuchte, es lustig klingen zu lassen. »Aber ruf jederzeit an, oder schreib eine Mail, natürlich, kein Problem. Viel Erfolg.«
»Alles okay im Büro?« Clay konnte sich beim Wort »Büro« einen gewissen Unterton nicht verkneifen. Es stand beispielhaft für Amandas Branche, die er größtenteils – aber nicht ganz – zu durchschauen glaubte. Eine Ehefrau sollte ein eigenes Leben führen, und Amandas Leben hatte wenig mit seinem zu tun. Vielleicht waren sie nur deswegen so glücklich. Mindestens die Hälfte ihrer Freunde und Bekannten war inzwischen geschieden.
»Alles okay.« Eine von Amandas Lebensweisheiten lautete, dass ein gewisser Prozentsatz an Jobs kaum zu unterscheiden war. In allen schrieb man E-Mails, die die eigene Wichtigkeit unterstrichen. Ein Arbeitstag bestand aus mehreren Verlautbarungen zum laufenden Arbeitstag, aus bürokratischer Höflichkeit, siebzig Minuten Mittagspause, zwanzig Minuten Hin und Her im Großraumbüro und fünfundzwanzig Minuten Kaffeetrinken. Ihre Rolle in dieser Scharade fühlte sich abwechselnd lächerlich und wichtig an.
Der Verkehr war nicht so schlimm, aber das änderte sich, als der Highway sich zu einer Landstraße verengte. Wie der letzte, beschwerliche Teil der Heimreise eines Lachses, bloß dass es hier üppig grünen Rasen auf dem Mittelstreifen gab und kleine Einkaufszentren mit regenfleckigem Putz. Sie durchquerten von Latinos bevölkerte Arbeitergegenden und die weiße Halbwelt neureicher Handwerker, Inneneinrichter und Immobilienmakler. Die richtig wohlhabenden Leute lebten in einer fremden Sphäre, ähnlich wie Narnia. Man stieß nur zufällig darauf, wenn man sich versehentlich in lange, verkehrsberuhigte Zufahrtsstraßen verirrte, in Sackgassen mit holzverschindelten Villen und Blick auf einen Teich. Die Luft dort war ein süßer Cocktail aus Meeresduft und glücklichen Fügungen, außerdem meinte man sofort, einen Hauch von Oberklassewagen zu riechen, und man sah bildende Kunst vor sich und jene weichen Kissen, wie reiche Leute sie auf ihren Sofas auftürmen.
»Sollen wir anhalten und einen Happen essen?« Am Ende der Frage musste Clay gähnen, es klang wie ein ersticktes Glucksen.
»Ich bin am Verhungern.« Archie mit seinen Übertreibungen.
»Wir gehen zu Burger King!« Rose hatte eine Filiale entdeckt.
Clay konnte spüren, wie seine Frau sich verspannte. Sie legte großen Wert auf gesunde Ernährung (besonders für Rose). Er fing ihre Missbilligung auf wie ein Radargerät, das Gefühl glich dem Anschwellen kurz vor einer Erektion. Sie waren seit sechzehn Jahren verheiratet.
Amanda bestellte Pommes frites. Archie verlangte eine absurde Anzahl kleiner, frittierter Briketts aus Hühnerfleisch. Er kippte sie in eine Papiertüte, gab Pommes frites dazu, tropfte eine süße, klebrige braune Sauce aus einem Plastikschälchen darüber und kaute zufrieden.
»Ekelhaft.« Rose hatte etwas gegen ihren Bruder, weil er ihr Bruder war. Sie aß ihren Hamburger weniger manierlich, als sie glaubte, um ihren rosa Mund zog...