E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Alafenisch Der Weihrauchhändler
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30695-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählung
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-293-30695-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Salim Alafenisch wurde 1948 als Sohn eines Beduinenscheichs in der Negev-Wüste geboren. Als Kind hütete er die Kamele seines Vaters, mit vierzehn Jahren lernte er Lesen und Schreiben. Nach dem Gymnasium in Nazareth und einem einjährigen Aufenthalt in London studierte er Ethnologie, Soziologie und Psychologie an der Universität Heidelberg. Seit Langem beschäftigt er sich mit der orientalischen Erzählkunst. Er liest seine Geschichten nicht vor, sondern erzählt sie frei. Salim Alafenisch lebt in Heidelberg.
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Die Perlen
Eines Abends, als die Sonne am Horizont stand und ihre letzten Strahlen auf die Zelte warf, näherten sich unserem Lager sechs Kamelreiter. Sie waren aus dem Nachbarstamm. Der Scheich und die Männer des Stammes empfingen die Gäste und führten sie ins Gästezelt. Die Kamele wurden angepflockt und mit Gerste gefüttert. Fein gewobene Teppiche wurden ausgerollt, und im Zelt breitete sich der Duft des gewürzten Kaffees aus.
Nachdem die Gäste den Kaffee getrunken und sich ausgeruht hatten, sprach der Scheich: »Ich möchte die Gäste bewirten!«
Da riefen alle Männer unseres Stammes: »Die Reihe ist nicht an dir!«
»Ich bin dran mit Bewirten!« rief der eine.
»Nein, ich«, entgegnete der andere und fuchtelte mit beiden Armen. Es wurde langsam laut im Gästezelt. Die Männer stritten sich um die Gäste.
Um diesen Streit zu schlichten, einigte man sich darauf, dass der Älteste der Gäste die Entscheidung treffen solle. Es herrschte wieder Ruhe. Einer nach dem anderen trug seine Argumente in Versen vor. Jeder versuchte, den anderen durch seine Reimkunst zu übertreffen.
Der Alte lauschte aufmerksam, bis der letzte gesprochen hatte. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und strich sich über seinen langen, weißen Bart. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Dann begann er zu sprechen: »Der Gast hat bei den Beduinen vierundvierzig Rechte. Und das gesegnetste dieser Rechte ist das, welches dir den Gast bringt.« Da riefen die Männer: »Die Gäste seien willkommen!«
Der Alte fuhr fort: »Die Männer des Stammes sind Spiegel füreinander. Doch sollen die Gäste dem gehören, der nicht in Not ist.«
Der Stammesscheich rief: »Ich bin an der Reihe. Die Gäste seien willkommen.«
Zwei Schafe wurden geschlachtet. Die Frauen buken Fladenbrot, die Männer kochten das Fleisch in großen Töpfen auf dem Feuer. Als das Mahl zubereitet war, aßen die Gäste und die Männer. Dann verteilte der Gastgeber Essen an jedes Zelt.
Als nach dem reichhaltigen Mahl den Gästen der gewürzte Kaffee gereicht wurde, bat der Gastgeber den alten Musa, die Stammesgäste mit Musik zu unterhalten. Musa war ein hervorragender Rababaspieler und liebte sein Instrument. In tagelanger Arbeit hatte er es aus der Haut eines vom Wolf gerissenen Eselfüllens kunstvoll gebaut.
Seine Rababa hatte einen besseren Klang als andere Instrumente, die wie üblich aus einem Schaffell angefertigt wurden.
Musa legte sein Instrument neben die brennende Kamelmistglut, um das Fell anzuwärmen. Als die Rababa trocken war, nahm er aus der Tasche seines Gürtels ein Stück Wachs, mit dem er die aus Pferdeschweifhaaren gefertigten Saiten und den Bogen einrieb. Er setzte sich in den Schneidersitz und fing an zu spielen. Männer, Frauen und Kinder lauschten den Tönen der Musik. Mit großer Begeisterung nahmen sie die Gedichte in sich auf. Der Rababaspieler sang von den Gästen und von der Großzügigkeit des Gastgebers. Und alle lauschten mit großer Freude seinen Worten und den Tönen seiner Rababa. Ab und zu wurde eine Runde Kaffee ausgeschenkt, und der Vollmond warf seine ersten Strahlen in das Männerzelt.
Allmählich bekam Musa Lust, eine Pfeife zu rauchen. Er stellte sein Musikinstrument in die Nähe der Feuerstelle und begann, seine Pfeife mit Tabak zu füllen.
Es herrschte Stille im Zelt. Der Scheich ergriff das Wort: »Allah möge deine Tage verlängern, Musa! Die Töne deiner Rababa und die Weisheit deiner Worte wärmen uns das Herz!«
Der Rababaspieler nickte. Mit einer kleinen Zange nahm er ein glühendes Kamelmistbällchen aus dem Feuer und setzte es auf seine Pfeife. Dann fing er an, genüsslich an ihr zu ziehen.
Der Scheich wandte sich an die Gäste: »Musa raucht jetzt seine wohlverdiente Pfeife. Wir sollten ihn mit einer Geschichte unterhalten. Nun, wer soll die Geschichte erzählen? Der Gast oder der Gastgeber?«
Einer der Gäste richtete sich auf und wandte sich mit klarer Stimme an den Scheich: »Oh du teurer Freund! Deine Gastfreundschaft ist groß und dein Herz ist warm. Allah möge dir Reichtum geben und deine Ehre schützen. Unsere Vorfahren sagten, der Gast ist ein Dichter. Er beschreibt, was er gesehen und gehört hat. Ich möchte dir, Bruder, und auch deinen Leuten eine Geschichte erzählen.«
Der Gast trank sein Kaffeeschälchen aus und stellte es auf sein Tablett zurück. Dann begann er zu erzählen.
Es war vor vielen, vielen Jahren, als der osmanische Sultan in unserem Land herrschte und die Beduinen in ihren Stammesgebieten mächtig waren. Sie waren gute Kamel- und Pferdereiter. Mit ihren großen Herden wanderten sie durch die Wüste. Das Reiten und das Wandern gaben unseren Vorfahren Freiheit und Sicherheit.
Eines Tages wurde der Besuch des Paschas angekündigt. Er wollte diese guten Wüstenreiter in seiner Armee haben. Als die Beduinen seinen Wunsch vernahmen, sagten sie zu ihm: »Wir wollen dir unsere Söhne nicht als Soldaten geben. Wir brauchen sie für unsere Kamelherden.«
Ein kluger Scheich, der den Pascha nicht beleidigen wollte, ließ sich aus seinem Stamm ein Kamel bringen.
Auf dem Kamel wurde ein Reitkorb befestigt, auf dem zwei Frauen saßen. Diese fachten auf einem Blech Feuer an und begannen, Brot zu backen. Und das Kamel setzte sich langsam in Bewegung. Der Scheich sprach zu dem erstaunten Pascha: »Oh, gnädiger Pascha! Schau dir das an. Das Kamel bewegt sich und die Frauen backen Fladenbrot auf seinem Rücken. Wir können diese freien Menschen nicht zwingen, in deiner Armee zu dienen, selbst wenn wir das wollten. Und würdest du es über dein Herz bringen, diese Frauen von ihren Männern zu trennen?«
Der Pascha traute seinen Augen nicht: Das Kamel, von dessen Rücken Rauchwolken emporstiegen, bewegte sich auf ihn zu, dass er vor Angst fast erstarrte.
Auf Geheiß der Frauen setzte sich das Kamel vor dem Pascha nieder. Die Frauen überreichten dem verdutzten Gast frisches Fladenbrot, das dieser erleichtert entgegennahm.
Nachdem er das knusprige Brot genossen hatte, wandte er sich an den Scheich: »Du hast recht. Die Beduinen brauchen keinen Militärdienst zu leisten und auch keine Steuern zu zahlen. Die Fellachen und die Städter reichen dafür aus.«
Ein alter Beduine flüsterte dem Scheich ins Ohr: »Die Fellachen und die Städter leben in festen Häusern. Sie sollen für ihre Gemütlichkeit blechen!«
Und so verabschiedete sich der Pascha in gutem Einvernehmen mit den Beduinen. Er bezahlte ihnen sogar Goldmünzen und ließ ihnen Jahr für Jahr Geschenke bringen für den Schutz der Pilgerstraße.
So vergingen die Jahre, und an die Stelle dieses klugen Paschas trat ein anderer. Der neue Pascha war grausam und dumm und voll Hass gegen die Beduinen.
Eines Tages sprach er zu sich: »Diese verdammten Kameltreiber tanzen mir auf der Nase herum. Sie stellen keine Soldaten, sie geben weder Getreide, noch zahlen sie Taler. Im Gegenteil, sie bitten den Sultan sogar zur Kasse. Aber bei Allah, ich werde diese verlausten und halbverhungerten Wüstenfüchse Mores lehren.«
Voll Ärger zog er an seiner Wasserpfeife, nahm einen Schluck Tee und spielte mit seinem hochgezwirbelten Schnurrbart. Er überlegte hin und her und strengte sich an wie eine Schildkröte beim Eierlegen. Plötzlich ließ er den Schlauch seiner Wasserpfeife fallen. Er sprang auf und begann, mit seinen Stiefeln auf den Boden zu stampfen wie ein wild gewordenes Kamel.
»Ich habe die Lösung! Ich habe sie!« schrie der Pascha.
Der Diener erschrak. Eiligst schleppte er die größte Teekanne herbei. Mit zittrigen Händen schenkte er dem wutschnaubenden Pascha eine Tasse nach der andern ein, die dieser gierig schlürfte.
»Diese verfluchten Wüstenfüchse! Ich werde diese Kameltreiber die Sterne am Mittag sehen lassen! Ich habe eine Lösung, mehr als eine Lösung. Ich habe eine List!«
Der Diener war verblüfft. Mit untertänigen Verbeugungen fragte er den Pascha: »Geruht Ihr, gnädiger Pascha, auf die Jagd zu gehen?«
»Ja, auf die Jagd!«
»Wollt Ihr Füchse oder Wildkamele jagen?«
»Geh mir aus dem Weg, du Nichtsnutz!« schrie der Pascha puterrot vor Zorn. »Ruf mir auf der Stelle die Soldaten. Schnell, schnell!«
Der Diener eilte von dannen. Kurze Zeit später erschienen die Soldaten.
»Die Zeit ist gekommen, um den Wüstensöhnen eine Lehre zu erteilen. Wer hat hier mehr zu sagen, diese schmutzigen Beduinen oder der Sultan? Ich werde die Scheichs zu mir einladen. Sie sollen herkommen.«
So schickte der Pascha einen Gesandten zu den Beduinenscheichs mit der Botschaft, er werde zu ihren Ehren ein Fest veranstalten.
Als die Scheichs von der Einladung hörten, fühlten sie sich sehr geschmeichelt. In der abendlichen Runde im Scheichzelt sprach man über die bevorstehende Begegnung mit dem neuen Pascha. Einige hofften auf ehrenhafte Geschenke, andere versprachen sich freundschaftliche Beziehungen zum Pascha. Der Oberscheich wollte die Gelegenheit nutzen, mit ihm über die Pilgerstraße zu verhandeln. Vielleicht konnte der Sultan den Beduinen mehr Goldmünzen bezahlen.
Die Aufregung war groß. Schon Tage vor der Reise waren die Vorbereitungen in vollem Gange. Die besten und kostbarsten Gewänder wurden hervorgeholt. Einige Scheichs...




