E-Book, Deutsch, Band 6, 222 Seiten
Reihe: Fandorin ermittelt
Akunin Die Schönheit der toten Mädchen
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8412-0159-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 6, 222 Seiten
Reihe: Fandorin ermittelt
ISBN: 978-3-8412-0159-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Moskau 1889: Eine Prostituierte wurde auf besonders brutale Weise ermordet. Daß Fandorin, Sonderbeauftragter des Gouverneurs von Moskau, aber gleich Jack the Ripper, den berüchtigten Londoner Serienmörder, in Russland vermutet, ist wohl ziemlich übertrieben. Und daß er deshalb den Gouverneur bittet, den Osterbesuch des Zaren in der Stadt abzusagen, das geht entschieden zu weit. Doch weitere grausame Morde scheinen Fandorins Theorie zu bestätigen ...
Boris Akunin genießt in seiner Heimat geradzu legendäre Popularität und wurde 2001 zum Schriftsteller des Jahres gewählt. Seine Bücher um Erast Fandorin, der inzwischen auch in Deutschland zur Kultfigur geworden ist, wurden bereits in 17 Sprachen übersetzt.
'Die Lust an der Kombinatorik veranlaßte den Autor, nicht nur einen Roman zu schreiben, sondern Erast Fandorin zu einem Projekt auszuweiten, das die gesamte Bandbreite des Krimigenres enthält' Neue Zürcher Zeitung.
Boris Akunin ist das Pseudonym des Moskauer Philologen, Kritikers, Essayisten und Übersetzers Grigori Tschchartischwili (geboren 1956). 1998 veröffentlichte er seine ersten Kriminalromane, die ihn in kürzester Zeit zu einem der meistgelesenen Autoren in Russland machten. Heute genießt er in seiner Heimat geradezu legendäre Popularität. 2001 wurde er dort zum Schriftsteller des Jahres gekürt, seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt.
'Ich spiele leidenschaftlich gern. Früher habe ich Karten gespielt, dann strategische Computerspiele. Schließlich stellte sich heraus, dass Krimis schreiben noch viel spannender ist als Computerspiele. Meine ersten drei Krimis habe ich zur Entspannung geschrieben ... ' Akunin in einem Interview mit der Zeitschrift Ogonjok
Mehr Informationen zum Autor unter www.akunin.ru.
Weitere Infos & Material
1;Ein scheußlicher Anfang;6
2;Je weiter, desto schlimmer;18
3;»Ein Päcksen«;44
4;Schildkröte, Setter, Löwin, Häschen;61
5;Studienfreunde;82
6;Der Triumph Plutos;104
7;Stenographischer Bericht;138
8;Ein mühevoller Tag;163
9;Das scheußliche Ende einer scheußlichen Geschichte;193
Ein scheußlicher Anfang
4. April, Kardienstag, Morgen
Erast Fandorin, dem Beamten für Sonderaufträge beim Moskauer Generalgouverneur, Träger russischer und ausländischer Orden, drehte sich der Magen um.
Sein schmales bläulich blasses Gesicht verzog sich leidend, eine Hand im weißen Glacéhandschuh mit Silberknöpfchen war gegen die Brust gepreßt, die andere fuhr krampfhaft durch die Luft – mit dieser vagen Geste wollte er seinen Assistenten beruhigen: Lappalie, geht gleich vorüber. Aber nach den anhaltenden qualvollen Konvulsionen zu urteilen, war es durchaus keine Lappalie.
Fandorins Assistent, der Gouvernementsekretär Anissi Tulpow, ein dürrer, unansehnlicher junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, hatte seinen Chef nie zuvor in einem derart desolaten Zustand gesehen. Tulpow war übrigens selbst ein bißchen grün im Gesicht, aber dem Brechreiz hatte er widerstanden, worauf er jetzt insgeheim stolz war. Dieses unfeine Gefühl währte nur einen Moment und verdiente keine weitere Aufmerksamkeit, doch die unerwartete Dünnhäutigkeit des vergötterten, stets so kaltblütigen und jeder Gefühlsduselei abholden Chefs beunruhigte ihn ernstlich.
»G-Gehen Sie …«, stieß der Kollegienrat Fandorin hervor und wischte sich mit dem Handschuh die lila Lippen. Sein leichtes Stottern, Folge einer lange zurückliegenden Hirnprellung, wurde durch die seelische Erschütterung deutlich verstärkt. »Gehen Sie h-hinein … Ein P-Protokoll … ein ausführliches … Photographische A-Aufnahmen aus allen Blickwinkeln. Und daß die Spuren nicht z-zertrampelt werden …«
Er krümmte sich wieder, aber diesmal zitterte die ausgestreckte Hand nicht, und er wies mit dem Daumen unerbittlich auf die schiefe Tür des Holzschuppens, aus dem er vor wenigen Minuten kreideweiß herausgewankt war.
Zurückzugehen in das graue Halbdunkel, wo es nach Blut und Eingeweiden roch, widerstrebte Anissi. Aber Dienst ist Dienst.
Er atmete möglichst viel feuchte Aprilluft ein (ach, wenn ihm bloß nicht schlecht wurde), bekreuzigte sich und trottete gottergeben hinein.
In dem Schuppen, der zur Aufbewahrung von Brennholz diente, jetzt aber, vor dem baldigen Ende des Frostes, fast leer war, hatten sich zahlreiche Leute versammelt: der Untersuchungsführer, Polizeiagenten, Gendarmen, der Quartalsaufseher, der Reviervorsteher, der Gerichtsarzt, der Photograph, Schutzleute und der Hausmeister Klimuk, der die ungeheuerliche Untat entdeckt hatte – am Morgen hatte er Holz aus dem Schuppen holen wollen und die Bescherung gesehen, er hatte gehörig geschrien und dann die Polizei geholt.
Zwei Öllampen brannten, über die niedrige Decke schwankten Schatten. Es war still, nur in der Ecke schluchzte und schniefte ein blutjunger Polizist.
»Na, was haben wir denn da?« schnurrte neugierig der Gerichtsmediziner Jegor Williamowitsch Sacharow und hob mit dem Gummihandschuh etwas Schwammiges Blaurotes vom Boden auf. »Das ist ja die Milz, die Gute. Ausgezeichnet. In die Tüte damit, in die Tüte. Noch was Inneres, die linke Niere, nun haben wir alles beisammen bis auf ein paar Kleinigkeiten … Was haben Sie denn da unter dem Stiefel, Monsieur Tulpow? Gekröse?«
Anissi blickte nach unten, wich entsetzt zur Seite und wäre fast gegen den ausgestreckten Körper der Toten geprallt – Stepanida Andrejitschkina, 39 Jahre alt, ledig. Diese Angaben, wie auch der Beruf der Toten, waren dem gelben Ausweis entnommen, der ordentlich auf der geöffneten Brust lag. Sonst war nichts ordentlich an der toten Frau.
Ihr Gesicht, das wohl auch zu Lebzeiten nicht eben anziehend gewesen war, sah im Tod grauenhaft aus: blau angelaufen, voller verklumpter Puderflecke, die Augen aus den Höhlen getreten, der Mund in einem stummen Schrei erstarrt. Weiter unten hinzuschauen war noch schrecklicher: Der Täter hatte den armen Körper der Straßendirne längs und quer aufgeschnitten, hatte die gesamte Füllung herausgenommen und sie auf der Erde zu einem bizarren Muster ausgebreitet. Sacharow hatte bereits fast alles eingesammelt und in numerierte Tüten gesteckt. Übrig waren noch eine schwarze Blutlache und winzige Fetzen des zerschnittenen oder zerrissenen Kleides.
Leonti Ishizyn, der Untersuchungsführer für wichtige Fälle beim Bezirksstaatsanwalt, hockte sich neben den Arzt und fragte sachlich: »Spuren von Geschlechtsverkehr?«
»Das sage ich Ihnen später, mein Bester. Ich schreibe einen hübschen Bericht, in dem ich alles ausführlich darlege. Hier herrscht ja, wie Sie selber sehen, ägyptische Finsternis und Höllengestöhn.«
Wie jeder Ausländer, der die russische Sprache perfekt beherrscht, flocht Doktor Sacharow in seine Rede gern farbige Wendungen ein. Ungeachtet des russischen Nachnamens war der Arzt britischen Geblüts. In der Regierungszeit des verblichenen Zaren war sein Herr Vater, ebenfalls Arzt, nach Rußland gekommen, hatte sich eingelebt und den für russische Ohren schwierigen Namen Zacharias den örtlichen Bedingungen angepaßt – das hatte Sacharow selbst einmal erzählt. Man sah ihm an, daß er kein richtiger Russe war: hochaufgeschossen, knochig, sandfarbenes Haar, breiter Mund, schmale Lippen, beweglich, ständig eine Meerschaumpfeife von einem Mundwinkel zum anderen schiebend.
Untersuchungsführer Ishizyn sah mit gespieltem Interesse zu, wie der Arzt den nächsten Gewebefetzen des geschundenen Leibes in den Händen drehte, und sagte sarkastisch: »Na, Herr Tulpow, schnappt Ihr Chef immer noch nach Luft? Ich habe ja gesagt, wir wären auch ohne Überwachung durch den Gouverneur zurechtgekommen. Das hier ist kein Anblick für empfindsame Augen, wir dagegen sind an alles gewöhnt.«
Verständlich, daß Ishizyn unzufrieden und mißgünstig war. Sollte er vielleicht jubeln, daß ihm Fandorin höchstselbst zur Beaufsichtigung beigegeben wurde? Das würde keinem Ermittler gefallen.
»Linkow, heul nicht wie ein Weib«, schnauzte er den schluchzenden Polizisten an. »Gewöhn dich dran. Du bist nicht für ›Sonderaufträge‹ zuständig, du wirst noch alles mögliche zu sehen kriegen.«
»Verhüte Gott, daß man sich an so was gewöhnt«, brummte der Wachtmeister Pribludko, ein erfahrener alter Polizist, den Anissi von einem drei Jahre zurückliegenden Fall kannte.
Auch mit dem Untersuchungsführer Ishizyn arbeitete er nicht das erstemal zusammen. Ein unangenehmer Herr – nervös, stets ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, aber stechende Augen. Immer wie aus dem Ei gepellt, der Kragen wie aus Alabaster, die Manschetten von noch strahlenderem Weiß. Schnipste ständig imaginäre Stäubchen von den Schultern. Ein Ehrgeizling, der im Begriff war, eine große Karriere zu machen. Doch Anfang Januar, zu Epiphanias, war er in dem Erbschaftsfall des Kaufmanns Sitnikow nicht weitergekommen. Der Fall erregte Aufsehen, berührte zum Teil sogar die Interessen einflußreicher Personen und duldete keine Verzögerung, darum hatte Fürst Dolgorukoi den Kollegienrat Fandorin gebeten, der Staatsanwaltschaft zu helfen. Und wie Fandorins Hilfe aussieht, weiß man ja – er machte sich an die Arbeit und entwirrte den Fall innerhalb eines Tages. Und nun fürchtete Ishizyn nicht zu Unrecht, daß ihm abermals kein Lorbeer winkte.
»Das wär’s dann wohl«, sagte er. »Also, die Leiche ins Schauhaus der Polizei in der Boshedomka. Den Schuppen versiegeln und einen Polizisten davorstellen. Alle Bewohner ringsum befragen, und zwar eindringlich. Ob sie etwas Verdächtiges gesehen oder gehört haben. Klimuk, du hast das letztemal in der elften Stunde Holz aus dem Schuppen geholt, richtig?« fragte Ishizyn den Hausmeister. »Und der Tod ist nicht später als zwei Uhr nachts eingetreten?« (Das galt dem Gerichtsmediziner Sacharow.) »Also interessiert uns die Zeit zwischen zehn und zwei Uhr nachts.« Und wieder zu Klimuk: »Hast du vielleicht mit jemandem aus der Nachbarschaft geredet? Hat man dir irgend etwas erzählt?«
Der Hausmeister (besenartiger scheckiger Bart, buschige Brauen, beuliger Schädel, etwa 1,60 Meter groß, besonderes Kennzeichen: eine Warze mitten auf der Stirn – so übte sich Anissi in der Personenbeschreibung) stand da und knetete die ohnehin hoffnungslos zerknautschte Schirmmütze.
»Nein, Euer Hochwohlgeboren. Ich weiß rein nichts. Ich hab das Schuppentor zugesperrt und bin gleich hin zu Herrn Pribludko. Und vom Polizeirevier haben sie mich nicht weggelassen, bis der Oberste gekommen ist. Die Bewohner, die haben keinen Schimmer. Das heißt, sie haben natürlich gesehen, daß die Polente hier aufgekreuzt ist … Daß die Herren Polizisten sich hierher bemüht haben. Aber von diesem Graus da«, er schielte furchtsam zu der Leiche, »davon wissen sie nichts.«
»Genau das werden wir überprüfen«, sagte Ishizyn auflachend. »Also, die Agenten an die Arbeit. Und Sie, Herr Sacharow, schaffen Ihre Schätze weg. Und daß mir bis Mittag ein vollständiger Bericht vorliegt, in aller Form.«
»Die Herren Geheimagenten b-bitte ich noch dazubleiben«, erklang von hinten Fandorins leise Stimme. Alle drehten sich um.
Wann war der Kollegienrat hereingekommen? Die Tür hatte überhaupt nicht gequietscht. Selbst im Halbdunkel war zu sehen, wie blaß und verstört er war, doch seine Stimme war ruhig, seine Redeweise unverändert – zurückhaltend, höflich, aber so, daß keiner Lust verspürte zu widersprechen.
»Herr Ishizyn, selbst der Hausmeister hat begriffen, daß es sich v-verbietet, über das Vorgefallene zu sprechen«, sagte er streng. »Ich habe den Auftrag, für strikte Geheimhaltung zu sorgen. Keinerlei Befragungen. Darüber hinaus bitte, ja, verpflichte ich alle Anwesenden, über die Umstände des Falles Stillschweigen zu wahren. Den Anwohnern ist zu erklären, daß … eine Straßendirne sich...