Aitmatow | Der Junge und das Meer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Aitmatow Der Junge und das Meer

Erzählung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30747-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählung

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-293-30747-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am Ufer des Ochotskischen Meers leben die Niwchen, ein Volk von Fischern und Robbenjägern. Der halbwüchsige Kirisk darf zum ersten Mal mit aufs Meer hinausfahren und an einer Robbenjagd teilnehmen. Nach alter Tradition soll er auf dieser Fahrt sein Jägerhandwerk erlernen und mit dem Meer vertraut werden. Begleitet wird er von seinem Vater, vom Onkel und von Organ, einem weisen Greis. Als sich das Boot im dichten Nebel verirrt, wird aus der Weihe ein lebensgefährliches Abenteuer. Die drei erfahrenen Männer greifen zum äußersten Mittel, um dem Jungen das Überleben zu ermöglichen: Sie opfern ihr eigenes Leben.

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Tschingis Aitmatow
Über mein Leben Notizen über mich
Die eigene Biografie für die Lektüre anderer, für eine Veröffentlichung zu schreiben, ist eine ziemlich schwierige Sache. Was da wohl besser ist: Ausführlich sein Leben schildern oder möglichst kurz? Schreibst du viel, heißt es: Was zieht der sich in die Länge; schreibst du wenig: Wozu schrieb er denn das, wenn er gar nichts zu sagen hat? Am besten ist – gar nicht erst schreiben. Aber wenn es nun einmal sein muss, will auch ich es versuchen. Ich bin schon über vierzig, da hat sich in meinem Leben wohl etwas getan. In unserem Ail galt es als unbedingte Pflicht, seine Ahnen bis ins siebte Glied zu kennen. In dieser Hinsicht sind die Alten unerbittlich. Immer wieder prüften sie die Jungen: »Na denn, Batyr, sag an, aus welchem Geschlecht bist du, wer war der Vater deines Vaters? Und dessen Vater? Und seiner? Was für ein Mensch war er, was hat er gemacht, was reden die Leute über ihn?« Und stellt sich heraus, dass der Junge seine Ahnentafel nicht kennt, dringen die Vorwürfe bis zu den Ohren der Eltern. Was ist das nur für ein Vater ohne Sippe und Stamm?, sagt man dann. Worauf achtet der denn? Wie kann da ein Mensch aufwachsen, der seine Vorfahren nicht kennt? Und dergleichen mehr. Hier liegt der Sinn in der Abfolge der Generationen und der gegenseitigen moralischen Verantwortung in der Sippe. Vielleicht ist es jemandem aufgefallen: Im Roman Der weiße Dampfer habe ich versucht, davon zu sprechen – durch den Mund des Jungen, als er sich mit dem auswärtigen Chauffeur unterhält. Ich hätte meine Lebensbeschreibung auch mit diesem »feudalistischen Überbleibsel«, wie man das heute zu bezeichnen pflegt, anfangen können. Ich hätte sagen können, dass ich aus der Sippe Scheker stamme. Scheker ist unser Urahn, mein Vater ist Torekul, dessen Vater Altmat und dessen Vater Kimbildl und dessen Vater Kontschudshok. Doch das reicht. Weiter wäre das bloß eine Aufzählung von Namen, über die ich ganz und gar nichts weiß. Und die Leute gibt es schon nicht mehr, die mir über sie etwas erzählen könnten. Mein Ururgroßvater Kontschudshok ist mir nicht dem Namen, sondern dem Beinamen nach überliefert. Ein Leben lang hatte er Tscharyks getragen, Schuhe aus weißgegerbtem Leder, deshalb erhielt er auch den Beinamen Kontschudshok – der Schaftlose, also der ohne Stiefel. Folglich stammen wir von den »Schaftlosen« ab, kein Anlass, sich zu brüsten, aber so war es nun mal … All dies und was ich noch erzähle, wurde mir übrigens nicht vom Vater mitgeteilt, er kam nicht dazu und musste sich auch um anderes kümmern. Ich verdanke das vor allem meiner Großmutter väterlicherseits, Ajimkan Satankysy, und ihrer Tochter, meiner Tante Karagys Aitmatowa. Erstaunlich, wie nah und ähnlich Mutter und Tochter sein können, im Äußeren wie auch in Charakter und Seelenart. Für mich waren die beiden untrennbar, gleichsam ein und dieselbe Großmutter in zwei Personen, die eine alt, die andere jung. Ich danke dem Schicksal, dass ich diese beiden bemerkenswerten, weisen und schönen Frauen sehen und kennen durfte – sie waren wirklich prächtig … Sie wurden auch meine Erzieherinnen, wo es um alte Bräuche und die Familienchronik ging. Den Großvater Aitmat habe ich nicht mehr erlebt. Er starb um die Jahre 1918 bis 1920, und ich wurde 1928 geboren (am 12. Dezember). Am Rand unseres Ails Scheker (im Talas-Tal, Kirow-Rayon) liegt noch bis auf den heutigen Tag im Schwemmland des Kurkurëu ein alter, in die Erde gesunkener Mühlstein. Mit jedem Jahr verwittert er mehr und versinkt immer tiefer im Grund. Hier stand einst Großvaters Mühle. Es heißt, er sei ein geschickter Mann gewesen, konnte nähen und brachte als erster eine Nähmaschine aus der Stadt, daher auch sein Spitzname »Maschinetschl-Altmat«, das heißt Schneider Altmat; Großvater konnte Sättel fertigen, verzinnen und löten, hervorragend auf dem Komus spielen und sogar die arabische Schrift lesen und schreiben. Trotz all seinem Unternehmungsgeist blieb er zeitlebens arm, er kam nie aus den Schulden und Nöten heraus, zeitweise war er sogar ein »Dshatak«, einer, der nicht nomadisiert, weil er kein Vieh hat. Und da unternahm Großvater den verzweifelten Versuch, der Armut zu entrinnen. Er entschloss sich zum Bau einer Wassermühle, in der Hoffnung, die Einkünfte daraus würden ihn reich machen. Alles, was er und sein Bruder Birimkul besaßen, das gesamte Vermögen von zwei Haushalten, steckten sie in die Mühle. Den ganzen Sommer jenes Jahres hindurch gruben sie mit ihren Familien einen Ableitungsgraben vom Kurkurëti, der sollte der Mühle Wasser zuführen (heute kann man die Spur davon gerade noch erkennen), und gemeinsam errichteten sie Mauern und Dach. So verging ein Jahr, und die Mühle ging in Betrieb. Doch für den Pechvogel Altmat lief es wieder schief. Ein Feuer brach aus, und die Mühle brannte bis auf die Mühlsteine nieder. Endgültig ruiniert, zog Großvater mit dem zwölfjährigen Torekul, meinem Vater, zum Bau des Eisenbahntunnels bei der Station Majmak. Von hier aus kam mein Vater mithilfe der dortigen russischen Behörde an die russische Schule für Einheimische in der Stadt Aulije-Ata, dem heutigen Dshambul. Ich schreibe das nicht, um eitel daherzuerzählen. Nichts geschieht auf der Welt ohne Grund. Wäre die unglückselige Mühle nicht abgebrannt, wäre Großvater nicht zur Eisenbahn gegangen, und Vater hätte wohl kaum in der Stadt zu lernen begonnen. Dass mein Vater in den ersten Jahren der Revolution bereits eine Bildung hatte (später studierte er noch zweimal in Moskau) und einer der ersten kirgisischen Kommunisten auf leitenden Posten war, dass er sich lebhaft für Politik und Literatur interessierte, dass auch meine Mutter – Nagima Chamsejewna Altmatowa – eine gebildete, durchaus moderne Frau war, all das ermöglichte, dass die beiden mich an die russische Kultur und Sprache heranführten, somit auch an die russische Literatur, die Kinderliteratur, versteht sich. Andererseits nahm Großmutter mich, ihren Enkel, ständig in die Berge mit zu den Nomadensommerlagern, diese außergewöhnlich bezaubernde und kluge Frau war von allen im Ail geachtet und wurde für mich ein Schatz an Märchen, alten Liedern, Dichtungen und Wahrheiten. Ich sah noch die Nomadenzüge des Volkes, wie sie einst waren. Ein Nomadenzug ist kein bloßer Umzug mit den Herden von einem Ort zum andern, sondern eine große wirtschaftlich-rituelle Prozession. Ein originelles Ausstellen des besten Pferdegeschirrs, der besten Verzierungen, der besten Reitpferde, des besten Packgutes und des besten Teppichs, der auf den Kamelen all dies bedeckte. Eine Schau der besten Sängerinnen unter den Mädchen, die Trauerlieder anstimmten, wenn man einen Ort verließ, wo ein Nahestehender gestorben war, oder auch Wanderlieder. Ich habe diese prachtvollen Schauspiele erlebt, als sie schon am Aussterben waren, beim Obergang zur Sesshaftigkeit sind sie gänzlich verschwunden. Wahrscheinlich hat mir Großmutter, ohne es selbst zu merken, die Liebe zur Muttersprache eingeimpft. Muttersprache! Was wurde darüber schon alles gesagt! Aber das Wunder der Muttersprache ist nicht zu erklären. Nur ihr trautes, in der Kindheit erfasstes und begriffenes Wort kann einen mit der Poesie erfüllen, die aus der Volkserfahrung stammt, sie kann im Menschen die ersten Quellen des Nationalstolzes wecken und den ästhetischen Genuss an der Vielfalt und Vieldeutigkeit der Sprache der Vorfahren vermitteln. Die Kindheit ist nicht nur eine herrliche Zeit, die Kindheit ist der Zellkern der künftigen Menschenpersönlichkeit. In der Kindheit wird das echte Wissen um die Muttersprache angelegt, da kommt das Empfinden für Zugehörigkeit auf – zu Menschen und Natur seiner Umwelt, zu einer bestimmten Kultur. Ich kann, zumindest aufgrund meiner eigenen Erfahrung, sagen, dass sich ein Mensch in der Kindheit auf organische Weise zwei Sprachen aneignen kann, die ihm parallel zukommen, vielleicht sogar mehr als zwei, falls diese Sprachen von den ersten Jahren an in gleichem Maß einwirken. Für mich ist die russische Sprache nicht minder vertraut wie die kirgisische, von Kindheit an vertraut, und dies fürs ganze Leben. Fünf Jahre war ich, als ich mich zum ersten Mal in der Rolle eines Dolmetschers befand, und ein Stück Siedfleisch war mein erstes »Honorar«. Es geschah im Sommerlager in den Bergen, wo ich wie üblich mit Großmutter war. In jenen Jahren waren die Kolchosen erst im Entstehen, sie begannen gerade, sich zu konsolidieren. In jenem Sommer hatte sich in unserem Dshajloo ein Unglück ereignet. Der Zuchthengst, den die Kolchose kurz zuvor gekauft hatte, verendete plötzlich. Am helllichten Tag brach er mit aufgedunsenem Wanst zusammen und gab den Geist auf. Die Pferdehirten waren tief bestürzt, der Hengst war wertvoll, ein Dongestütler, den man aus dem fernen Russland hergebracht hatte. Man schickte einen Boten zum Kolchos, von dort einen weiteren zum Rayon. Und nach zwei Tagen kam zu uns ein russischer Mensch. Hochgewachsen, mit rotem Bart und blauen Augen, in schwarzer Lederjacke, an seiner Seite hing eine Feldtasche. Ich habe ihn mir sehr gut eingeprägt. Er verstand kein Wörtchen Kirgisisch, und die unsrigen konnten kein Wort Russisch. Man musste eine Obduktion vornehmen, die Todesumstände des Tieres klären und ein Protokoll darüber aufsetzen. Die Pferdehirten beschlossen, ohne lang nachzudenken, dass ich der Dolmetscher sein musste. Ich...


Aitmatow, Tschingis
Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.

Kossuth, Charlotte
Charlotte Kossuth, geboren 1925 in Bolkenhain/Schlesien, war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin. Sie übersetzte u. a. Aitmatow, Astafjew und Granin. Sie starb 2014 in Berlin.



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