Aichner Nur Blau
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-85218-910-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-85218-910-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die faszinierenden Bilder von Yves Klein bestimmen das Schicksal von Jo: Er ist besessen von dem strahlenden Blau in Kleins Monochromen - und von der Idee, es ganz für sich zu besitzen. In seinem Freund Mosca findet er einen Begleiter, der bereit ist, mit ihm gemeinsam alle Grenzen zu überschreiten. Doch der Weg, auf den ihn seine Obsession gelenkt hat, führt geradewegs auf einen Abgrund zu.
In intensiven Bildern erzählt Bernhard Aichner die packende Geschichte einer großen und ausweglosen Leidenschaft und zeichnet ein einfühlsames Porträt der Menschen, die im Bann der großen Kunst von Yves Klein stehen.
Autoren/Hrsg.
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2.
Olivier roch nach Müll. Deshalb hat ihn seine Frau verlassen. Weil er keinen normalen Beruf haben konnte. Weil er Müllfahrer war. Weil er täglich den Müll anderer Leute spazieren fuhr, weil er danach roch, wenn er nach Hause kam, weil sie sagte, dass es widerwärtig ist, Würmer und volle Windeln und Dreck herumzufahren. Sie ist einfach gegangen, hat ihre Sachen gepackt und ist weg. Sie kam nicht wieder. Du stinkst, hat sie noch einmal gesagt. Dann war sie weg. Das ist mein Beruf, hat er geantwortet, es ist ein guter Beruf. Das ist doch kein Beruf, hat sie gesagt. Er war wütend. Sie soll nicht undankbar sein, sagte er, was sie denn sonst essen sollten, fragte er, wo sie denn wohnen sollten, wenn er nicht die Scheiße der anderen Leute auf den Müll fahren würde. Sie würde ihren Arsch sowieso nicht in die Gänge bekommen, um Geld zu verdienen. Sie wäre wahrscheinlich ohnehin zu blöd dafür. Er war außer sich. Genauso wie sie. Sie sagte, dass er stinkt, dass sie ihn nicht mehr ertragen kann, dass er eine stinkende alte Drecksau ist. Dann ist er ins Wirtshaus. In einen Münchner Biergarten, ohne sich zu duschen. Dann stinke ich eben, hat er gedacht, aber ich weiß wenigstens warum. Und während er Bier trank, hat sie ihn verlassen, sie ist einfach weggegangen, hat ihm die Schlüssel dagelassen und die Schulden für die neue Eigentumswohnung. Sie ist einfach auf und davon. Das war vor einem halben Jahr. Danach trank er mehr als früher und las auch nicht mehr. Er hatte immer gerne gelesen, nach der Arbeit geduscht und in seinem Plüschsessel gelesen. Alles hat er gelesen, alles, was er in die Hände bekam, er stopfte es hinein in sich, egal, ob es wichtig war oder nicht. Er hat gelesen, obwohl sie ihn ausgelacht hat. Was willst du mit Kunstgeschichte, du bist Müllfahrer, Olli. Ich heiße Olivier, hat er gesagt und weitergelesen. Was weißt du schon, hat er gedacht, und von der Antike bis zur Gegenwart durchgelesen. Er hat sich in seinem Plüschsessel zurückgelehnt und die Welt um sich vergessen. Den Sessel hatte er aus dem Müll. Die guten Stücke hat er immer mitgebracht. Wir sparen viel Geld, hat er gesagt, und sie hat den Kopf geschüttelt. Jetzt bringt er schon wieder den Müll mit nach Hause, das ertrage ich nicht, hat sie gesagt. Sie hat lange den Kopf geschüttelt, hat ihn verachtend angeschaut, sich hübsch gemacht und ist ausgegangen. Fast jeden Abend, sie hat sich aushalten lassen von irgendwelchen Arschlöchern. Ich brauche dein Geld nicht, hat sie gesagt. Du hast ja diese Arschlöcher, hat er gesagt. Olivier war nicht eifersüchtig. Sie ist gegangen und er hat gelesen. Bücher, Zeitschriften, Stadtpläne, er hat sich keine Gedanken gemacht, was sie wohl tut, ob sie ihm treu ist. Sie kam immer wieder zurück und das beruhigte ihn. Er saß in seinem Plüschsessel und sie stolperte in Stöckelschuhen zur Tür herein. Halbnackt. Du schaust aus wie eine Nutte, hat er einmal gesagt. Er las gerade einen Artikel über Harninkontinenz, darüber dass man sie jetzt heilen kann, dass sie eine Methode gefunden haben. Eine medizinische Sensation. Und sie stand da und war wütend. Mehr als das. Sie ging zu ihm hin, steckte sich ihren Zeigefinger in den Hals und übergab sich über ihn. Es rann aus ihr heraus in sein Hemd und tief in den Plüschsessel hinein. Und du stinkst, sagte sie. Dann kotzte sie noch einmal. Dann schlug er sie. Ein paar Tage später hat sie ihn verlassen. Olivier war nicht traurig, als sie ging. Das glaubte er jedenfalls. Er hat begonnen, viel Alkohol zu trinken und Karten zu spielen. Im Biergarten gab es eine dunkle Ecke, in die er sich verlief. Dort verlor er sein Geld und trank Bier. Es rann in ihm hinunter und blieb liegen auf dem Eichentisch im Biergarten. Er fühlte sich allein, wenn er zu Hause war. Da war niemand mehr. Sie war nicht da, saß nicht mehr vor dem Fernseher, lackierte ihre Nägel nicht mehr. Auch wenn sie nie viel geredet hatten, vermisste er sie. Er konnte es nicht ertragen, in seiner Wohnung, die Nächte allein, unter der Decke. Er verbrachte seine freie Zeit im Biergarten. Vergiss die Schlampe, hat Atze gesagt, sein Kollege. Die fängt sich was ein und kommt auf den Müll. Das hat sie dann davon. Er hat Olivier das Bier in die Hand gedrückt und auf ihn getrunken. Die verdient uns nicht, hat er noch gesagt, die undankbare kleine Fotze. Ihre kleine Fotze, hat sich Olivier gedacht, die habe ich immer gemocht. Dann hat er getrunken mit Atze und nicht mehr gedacht an sie bis zum nächsten Abend. Das ging so bis vor vier Monaten. Olivier und Atze waren schon früh in Schwabing. An einem Dienstag. Es war eine dieser traurigen Straßen, die Häuser waren alle grau, da war nichts außer Fenster und Türen. Ein Ghetto, sagte Olivier, hier würde ich sterben. Er dachte an seine reizende Wohnung, dann dachte er an die Raten, dann tat er seine Arbeit. Atze saß am Steuer, Olivier rollte die Tonnen auf den Heber. Er hob den Deckel jeder Tonne kurz an und warf einen kleinen Blick in die fremden Welten der anderen. Schon oft hatte er Glück, als er den Deckel hob. Etwas lag obenauf, unversehrt, nicht wirklich in Berührung gekommen mit dem wertlosen Abfall darunter. Jemand hatte etwas Brauchbares in die Tonne geworfen, wollte es loswerden, aber Olivier konnte es brauchen. Er hat seiner Frau einen funktionierenden Entsafter mitgebracht, und einmal ein Set versilberter Boccia-Kugeln. Auch der Plüschsessel war einsam und sauber in einer leeren Tonne gelegen. Nur der Sessel, sonst nichts. Tausende Tonnen jeden Monat. Einmal kurz den Deckel heben, ein schneller Blick. Lass das doch, hatte Atze früher immer gesagt. Das ist doch sinnlos. Doch Olivier hat es trotzdem immer wieder getan. Irgendwann hat er eine offene Holzkiste mit sieben Flaschen dreiundzwanzig Jahre altem Whiskey gefunden. Seitdem hat Atze nichts mehr gesagt, ihn jeden Deckel heben lassen. Olivier hat Buch geführt über die Treffer, alle tausendsiebenhundert Mal war etwas dabei, das war der Schnitt. Vor Haus dreiundzwanzig hob er den Deckel einer Tonne, er schaute kurz hinein, sah aber nur vergammeltes Essen. Während er schaute, was da noch war, rollte er die Tonne Richtung Müllwagen. Er war dabei, den Deckel zu schließen, als die Tonne über den abschüssigen Gehsteig beschleunigte und über den Gehsteigrand holperte. Sie kippte. Olivier riss den Kopf herum. Er war zu langsam. Er wollte die Tonne festhalten und stolperte. Er stürzte seitlich weg, drehte sich, prallte mit dem Rücken gegen den Müllwagen und verriss sich den Nacken. Die Tonne rollte und blieb kurz vor der Seitenwand des Wagens stehen. Olivier schrie. Er stand mit dem Rücken zum Wagen und schrie. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Sein Kopf war zur Seite gedreht, er konnte ihn nicht mehr zurückdrehen, ihn nicht mehr geradestellen, ihn nicht bewegen, alles tat weh. Jeder Versuch schmerzte bis tief unter die Haut hinein. Atze hörte ihn, er hatte die Szene im Rückspiegel beobachtet, sich aber nichts gedacht. Als die Tonne aber stehen blieb und auch Olivier sich nicht mehr bewegte, stieg er aus und begann, sich um ihn zu kümmern. Er hob ihn auf den Beifahrersitz. Vorsichtig waren seine Bewegungen, nachdem er kurz zu fest zugepackt und Olivier ihn angeschrien hatte. Laut und lange. Er beeilte sich, Olivier von der Straße zu holen. Fenster waren aufgegangen. Gesichter schauten teilnahmslos nach unten. Atze brachte ihn ins Krankenhaus. Der Müllwagen stand vor der Notaufnahme. Er holte einen Rollstuhl, hob Olivier heraus und rollte ihn an der Anmeldung vorbei direkt in ein Untersuchungszimmer. Die Mülltonnen mussten warten. Mein Kollege hat furchtbare Schmerzen, helfen Sie ihm. Er stand neben dem Rollstuhl, schnaufte laut, bekam fast keine Luft mehr. Atze war fett. Früher hatte er das mit den Tonnen gemacht, aber irgendwann wurde ihm alles zu schwer, er klagte über Kurzatmigkeit, ließ sich untersuchen und wurde Fahrer. Er stand neben Olivier und legte ihm die Hand auf die Schulter. Das wird schon wieder, sagte er und klopfte ihm auf den Rücken. Olivier wimmerte. Auch der Arzt brachte ihn noch einige Male zum Schreien, er bog ihn nach links und rechts, zerrte an ihm und sagte, dass er nichts tun könne. Hexenschuss. Ruhestellung und Physiotherapie. Und das nächste Mal gehen Sie zuerst zur Anmeldung, sagte er noch. Der Geruch von Alkohol aus den Mündern der Müllfahrer am frühen Morgen war ihm widerwärtig. Atze rollte Olivier nach Hause. Er brachte ihn in sein Bett, zog ihn aus, deckte ihn zu, brachte ihm Bier und stellte ihm den Fernseher zum Bett, den Olivier vier Monate vorher vom Sperrmüll nach Hause gebracht hatte. Nur ein paar Kratzer waren am Bildschirm, aber man sah sie nicht, wenn er an war. Atze stellte ihn ganz nah zum Bett, weil er die Fernbedienung nicht gefunden hatte zwischen all dem anderen Müll. Olivier lächelte dankbar und gequält. Du bist ein guter Mensch, Atze. Der sagte nichts darauf, nur, dass seine ältere Schwester Therapeutin ist, und dass er sie gleich anrufen wird, er wollte sie bitten zu kommen. Sie ist zwar alt und fett, aber sie weiß, was sie tut, sagte er. Atze wollte wiederkommen, er nahm den Schlüssel von der kleinen Fotze und...