Aichele | Wahrscheinliche Weltweisheit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 397 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Aichele Wahrscheinliche Weltweisheit

Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik des Erkennens und des Handelns
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2016
ISBN: 978-3-7873-3169-7
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik des Erkennens und des Handelns

E-Book, Deutsch, 397 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-3169-7
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



A. G. Baumgartens Denken kreist um das klassische systematische Problem der Inkommensurabilität der universalen Begriffe, die der menschliche Geist bildet, und der einzelnen Dinge, die die Welt ausmachen. Da diese nur durch jene propositional erkannt werden können, bleibt die Wahrheit jeder solchen Aussage stets ungewiss. Auf die drohende Konsequenz eines allgemeinen und radikalen Skeptizismus reagiert Baumgarten mit der Begründung des Weltbezugs propositionaler Erkenntnis durch eine Theorie begriffsfreien, mithin ästhetischen Erkennens. Diese Theorie erklärt sowohl die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt durch den endlichen Verstand als auch die Möglichkeit bewusster und freier Weltveränderung durch menschliches Handeln. Schon um dies zu leisten, kann die Wahrheit ästhetischer Erkenntnis aber nicht irgendeine Sonderwahrheit neben den Dingen, von denen die Metaphysik handelt, und den Begriffen und Sätzen, von denen die Logik handelt, sein. Die Untersuchung analysiert deswegen nach einem einleitenden Vorschlag zur Bestimmung des Verhältnisses von Logik und Metaphysik im Anschluss an Leibniz Baumgartens Erkenntnistheorie in ihrer charakteristischen Komplementarität von Ästhetik und Logik, die das gesamte Feld aller möglichen Gewissheit, d. h. des Bewusstseins der Wahrheit der verschiedensten Erkenntnisse, abdecken. Darüber hinaus erörtert sie auch deren mögliche Gegenstände, nämlich die Beschaffenheit der Dinge, wie sie das Wissen Gottes als eine ideale Metaphysik enthielte. Auf der Grundlage einer Ontologie teilweise unbestimmer aktualer Existenz kommt Baumgarten zu einer kosmologischen Theorie monadischer Bewegtheit aller körperlichen Dinge. Sie führt zu einer Psychologie des Erkennens und Handelns, aus der ein indeterministischer Begriff menschlicher Willensfreiheit folgt, die auch von Gottes Allwissen nicht beschränkt wird.

Alexander Aichele (geb. 1970) ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Halle und selbstständig im Bereich Weiterbildung und Consulting tätig. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Logik, Moral- und Rechtsphilosophie, Antike, Frühe Neuzeit, Aufklärung. Er ist Herausgeber von Fichtes Reden an die deutsche Nation (PhB 588) sowie (gemeinsam mit Dagmar Mirbach) des Bandes Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Aufklärung, Bd. 20 [2008]).
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B. Was Menschen wissen können: Ästhetik und Logik als Organon der Erkenntnis


Voraufliegt jeder disziplinären Einteilung verschiedener Wissenschaften die Untersuchung ihrer Möglichkeit. Da jede Wissenschaft in irgendeiner Weise nach Erkenntnis strebt und zugleich nicht jede Erkenntnis wissenschaftlicher Natur zu sein scheint, erfordert eine Erklärung der Möglichkeit von Wissenschaft zum einen die Untersuchung des Wesens von Erkenntnis überhaupt und zum anderen die Auszeichnung spezifisch wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Bearbeitung dieser epistemologischen Fragen hat nach Baumgarten ihren systematischen Ort im organischen bzw. instrumentellen Teil der Philosophie. Er behandelt dort noch ohne weitere Spezifikation Erkenntnis überhaupt und deren Unterteilung in sinnliche und verstandesmäßige.56 Baumgartens Erkenntnistheorie umfasst daher Ästhetik und Logik und besitzt universale Geltung für jedes ›Erkennen und Behaupten‹, sofern es sich auf Qualitäten des Seienden richtet.57 Wird die Philosophie nun als Weltweisheit bestimmt, setzt folglich auch deren Möglichkeit als Wissenschaft bereits jenes Organon voraus. Dies heißt freilich nicht, dass eine solche umfassende epistemologische Untersuchung außerhalb der Philosophie stünde. Denn sofern sie spezifische Formen von Erkenntnis, insbesondere wissenschaftliche, thematisiert, setzt sie auch die Unterscheidbarkeit solcher Formen und entsprechend differenzierte Vermögen des erkennenden Geistes voraus. Damit ist die Untersuchung bereits auf endliche bzw. menschliche Erkenntnis fokussiert, welche – anders als etwa die eines unendlichen Geistes bzw. Gottes – verschiedene Erkenntnismöglichkeiten umfasst. Solche Epistemologie fällt daher, systematisch betrachtet, in die Disziplin der empirischen Psychologie, d. h. eines Teils der Metaphysica specialis. Eine systematische Analyse des baumgartenschen Denkens hat demnach genau an diesen Punkten anzusetzen.

Mit diesem organischen Aufbau folgt Baumgarten der klassischen aristotelischen Differenzierung zwischen genetischer und systematischer Priorität der gewonnenen Erkenntnisse: Trotz der systematischen Priorität dessen, was seiner Natur nach, mithin von sich aus das erste Zu-Erkennende ist, wird eine didaktisch und methodisch kontrollierte Anordnung philosophischer Forschung an dem ansetzen, was für uns das Erste ist, das erkannt werden kann.58 Die erkenntnistheoretische Grundlegung der Philosophie erfolgt also zunächst im Rahmen der Metaphysica specialis, und zwar derjenigen Disziplin, die sich mit kontingenten Gegenständen geistiger Natur beschäftigt.59 Indes muss es dieser ersten Untersuchung, die überhaupt in der Philosophie geführt werden kann, darum gehen, was der spezifisch menschliche Geist erkennt, und nicht darum, was die Seele als solche ist oder was ein Geist als solcher erkennen kann. Anderenfalls nämlich ginge die Untersuchung von der Möglichkeit einer Erkenntnis aus, ohne deren Wirklichkeit beachtet zu haben. Damit hätte sie den Boden der Philosophie bereits verlassen, weil sie ohne eigenen Beleg schlicht die Möglichkeit von Erkenntnis setzte, d. h. zum Gegenstand eines Glaubens machte. Verfährt sie hingegen wissenschaftlich, kann die Untersuchung gar nicht sogleich zu einer allgemeinen Seelenlehre (Pneumatik) führen, sondern muss zunächst auf der Ebene einer empirischen Psychologie bleiben. Gerade weil also die Untersuchung der Möglichkeit von Erkenntnis mit ihrer Wirklichkeit beginnen und daher sowohl sinnliche als auch propositionale Erkenntnis analysieren muss, ist die organische Philosophie Theorie des spezifisch menschlichen Erkennens und seiner Grenzen.


Gemäß seiner genetischen Methode bestimmt Baumgarten einen allgemeinen Begriff von Erkenntnis im Sinne der empirischen Psychologie und unterscheidet ihn damit zugleich von dem spezielleren der Wissenschaft: »Eine Erkenntnis ist eine Zusammensetzung von Vorstellungen, also sind Erkenntnis und Wissenschaft verschieden.«60

Da »Wissenschaft die gewisse Erkenntnis aus Gewissem«61 ist und Erkenntnis und Wissenschaft sich unterscheiden sollen, obwohl die Definition von Wissenschaft Erkenntnis einschließt, muss deren Differenz an der Vorstellungszusammensetzung liegen. Nicht jede Erkenntnis bzw. nicht jede Vorstellungszusammensetzung ist schon Wissenschaft. Solche Zusammensetzungen können in dreifacher Weise verschieden sein: Entweder in der Art der Zusammensetzung der Vorstellungen oder in der Art der Vorstellungen, die zusammengesetzt sind, oder in beidem. Klar ist jedenfalls zunächst, dass Wissenschaft eine besondere Art von Erkenntnis ist, und zwar eine solche, zu der die Eigenschaft der Gewissheit gehört.

1. Bewusstheit


Dies für den Moment dahingestellt, lässt sich bereits zweierlei festhalten: Zum einen kann es keine Erkenntnis geben, die einfach ist, d. h. in genau einer Vorstellung besteht, so dass Erkenntnis in einer Zusammensetzung von wenigstens zwei Vorstellungen zu einer Einheit bestehen muss. Zum anderen setzt das Haben von Vorstellungen irgendeine, aktive oder passive, mentale Tätigkeit voraus. Da es sich beim Erkennen aber nicht um das schiere Auftreten irgendwelcher isolierter Vorstellungen, sondern um deren Zusammensetzung handelt und Vorstellungszusammensetzungen nicht von etwas oder jemand anderem als dem Vorstellenden selbst stammen oder geliefert werden können, setzt Erkenntnis mentale Aktivität voraus, mithin Denken. Denken kann nun aber gar nicht anders als bewusst vollzogen werden. Denn bereits um festzustellen, dass da irgendeine Vorstellung ist, ohne schon wissen zu müssen, was deren Gegenstand sei, muss diese Vorstellung irgendwie vom vorstellenden Geist unterschieden werden. Jeder Denkakt enthält also zumindest eine Vorstellung des vorstellenden Geistes von sich selbst und eine beliebige, von dieser nicht nur unterscheidbare, sondern auch in ihrer Verschiedenheit wenigstens implizit thematische Vorstellung. Genau in diesem Akt der Unterscheidung besteht nach Baumgarten Bewusstsein: »Was wir von anderen unterscheiden, das stellen wir uns vor / des sind wir uns bewusst / das bemerken wir / das nehmen wir wahr. Eine bewusste Vorstellung ist ein Gedanke.«62 Jeder Gedanke erfüllt folglich Baumgartens Definition von Erkenntnis, da er mindestens zwei verschiedene Vorstellungen enthalten muss. Deren Zusammensetzung setzt offenbar weder die bewusste Anwendung logischer Regeln noch das Wissen darum voraus, was es ist, das da vorgestellt wird. Vielmehr genügt für Erkenntnis bereits das Bewusstsein der Existenz eines beliebigen mentalen Inhalts. Mit anderen Worten: Man kann erkennen, dass da irgendetwas ist – etwa man selbst –, ohne zu wissen, was das ist. Erkennen ist Unterscheiden, und Unterscheiden ist Denken.

Denken besteht also im Haben bzw. der Sukzession verschiedener mentaler Inhalte,63 und es ist jederzeit bewusst, weil Denken Bewusstheit ihrer Verschiedenheit – wenigstens in Form der Differenz von Vorstellendem und Vorgestelltem – einschließt. Weil aber auch intramentale Veränderung nichts anderes sein kann als die Verwirklichung eines entsprechenden mentalen Vermögens, sind in metaphysischer Hinsicht Vorstellungen wiederum nichts anderes als die Verwirklichungszustände eben jenes Vermögens. Diese Kraft, bewusste Vorstellungen haben zu können, mithin zu denken, nennt Baumgarten »Seele«.64 Die empirische Psychologie wird demnach eine Wissenschaft von den dem menschlichen Geist möglichen Bewusstseinsinhalten sein, d. h. von Vorstellungen, sofern sie Erkenntnis darstellen, und ihrem Erwerb. Die empirische Psychologie liefert demnach das Fundament jeder auf den menschlichen Geist bezogenen Theorie von Erkenntnis und somit Wissenschaft. Aufgrund dieser Festlegung des Bereiches empirischer Psychologie wird jenes Fundament selber ebenfalls Gegenstand von Erkenntnis sein können. Weil nämlich Gedanken eo ipso bewusst sein müssen und die menschliche Seele nichts anderes als ein Vermögen ist, bewusste Vorstellungen zu haben, erfordert das Programm der empirischen Psychologie zunächst gerade keine Erforschung oder gar wissenschaftliche Einsicht in Wesen und Möglichkeit der Seele, sondern nur die Feststellung, dass es Erkenntnis, d. h. bewusste Vorstellungen, gibt. Denn aus der Wirklichkeit von Erkenntnis kann man ohne Weiteres auf deren Möglichkeit schließen. Aber die Erklärung, wie Erkenntnis möglich ist, setzt keine erfolgreiche Untersuchung des zugrundeliegenden Vermögens unabhängig von seiner Verwirklichung, d. h. so etwas wie Seele überhaupt, voraus. Vielmehr genügt die Analyse der Arten, wie Vorstellungen zusammengesetzt sein können. Schließlich ist jede bewusste Vorstellung bzw. jeder Gedanke Erkenntnis, und Erkenntnisse müssen stets aus Vorstellungen zusammengesetzt sein, die selbst ebenfalls irgendwie bewusst sein können müssen. Sonst könnte mangels ihrer Unterscheidbarkeit ja gar keine Zusammensetzung vorliegen.

Nun mag auf den ersten Blick diese Restriktion der empirischen Psychologie auf mögliche Bewusstheit bei einem Autor vielleicht irritieren, dessen Bekanntheit nicht zuletzt davon herrührt, dass er sich ganz besonders um den Bereich der sogenannten dunklen Vorstellungen verdient gemacht und deren Ort auch noch »Grund der Seele«65 genannt hat. Es ist allerdings daran zu erinnern, dass die Dunkelheit dieser Vorstellungen nicht bedeutet, dass man nicht weiß, dass man irgendwelche Vorstellungen hat, sondern nur, dass man gerade nicht weiß, was ihre Gegenstände sind. Ihre...


Aichele, Alexander
Alexander Aichele (geb. 1970) ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Halle und selbstständig im Bereich Weiterbildung und Consulting tätig. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Logik, Moral- und Rechtsphilosophie, Antike, Frühe Neuzeit, Aufklärung. Er ist Herausgeber von Fichtes Reden an die deutsche Nation (PhB 588) sowie (gemeinsam mit Dagmar Mirbach) des Bandes Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus
(Aufklärung, Bd. 20 [2008]).

Alexander Aichele (geb. 1970) ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Halle und selbstständig im Bereich Weiterbildung und Consulting tätig. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Logik, Moral- und Rechtsphilosophie, Antike, Frühe Neuzeit, Aufklärung. Er ist Herausgeber von Fichtes Reden an die deutsche Nation (PhB 588) sowie (gemeinsam mit Dagmar Mirbach) des Bandes Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (Aufklärung, Bd. 20 [2008]).



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