E-Book, Deutsch, Band 24, 363 Seiten
Reihe: Krieg und Konflikt
Ahrens-Wimmer Der Feind vor der Haustür
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-46082-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriegsgefangenschaft im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71
E-Book, Deutsch, Band 24, 363 Seiten
Reihe: Krieg und Konflikt
ISBN: 978-3-593-46082-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniela Ahrens-Wimmer arbeitet an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt und ist Lehrbeauftragte an der Universität Mannheim.
Autoren/Hrsg.
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2.Rechtliche Dimension des Phänomens Kriegsgefangenschaft
Die Analyse des Phänomens Kriegsgefangenschaft beginnt mit der Betrachtung des juristischen Rahmens, in dem sich 1870/71 sowohl die Kriegsgefangenen als auch die Gewahrsamsstaaten bewegten. Die Handlungen, mit denen die Koordinaten des Bewegungsspielraumes der Akteure absteckt wurden, fließen in einem Handlungsfeld der Ordnung zusammen. Dieses wird mit Hilfe dreier Perspektiven aufgespannt: zunächst mit der Skizzierung des damaligen Standes der theoretisch ausgerichteten Fachdiskussion der renommiertesten Juristen ihrer Zeit, dann mit der Beleuchtung der konkreten Unternehmungen der kriegführenden Staaten, den rechtlichen Rahmen der Kriegsgefangenschaft in Form von Regulativen zu fixieren, und darauf aufbauend mit der Analyse einzelner Aspekte, die angesichts der Realitäten des Krieges diskutiert und in Frage gestellt wurden. Jede dieser Perspektiven hat eine eigene Aussagekraft, die allerdings nicht losgelöst von den Entwicklungen im internationalen Kriegsrecht betrachtet werden kann. Diesem Aspekt wird durch Rückgriffe auf Entwicklungen vor dem Kriegsausbruch und Ausblicke auf die Zeit nach dem Friedensschluss Rechnung getragen.
Zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 existierte noch kein international verbindliches Völkerrecht. Daher bedarf es einer Analyse des theoretischen, fachlichen Austauschs und konkreter, verschriftlichter Ideen, um sich die rechtlichen Rahmenbedingungen der Kriegsgefangenschaft im 19. Jahrhundert zu erschließen. In diesem Zusammenhang wird zunächst das Werk 90 von Johann Caspar Bluntschli betrachtet. Der Schweizer Jurist, der als »revered figure in international law circles during his lifetime«91 gilt, zeichnete mit dieser 1868 publizierten Schrift die rechtlichen Entwicklungen der vorausgegangenen Jahrzehnte auf diesem Gebiet nach und verfolgte den Versuch, die mehrheitlich im Krieg respektierten Regeln »für eine zukünftige Kodifikation des Völkerrechts, insbesondere des Kriegsrechts«92 zu ordnen und auszuformulieren. Dieses Streben nach international verbindlichen Regelungen für die Kriegsführung, wie es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festzustellen war, ging maßgeblich auf die Aufklärung und den mit ihr verbundenen »Gedanke[n] der Humanität und Verhältnismäßigkeit«93 zurück und war für eine ganze Reihe von Rechtsgelehrten handlungsweisend: Als erster wichtiger Meilenstein und Referenzpunkt in dieser Entwicklung gilt der sogenannte von 1863.94 Die 157 Artikel aus der Feder des Deutsch-Amerikaners Franz Lieber waren zunächst als militärischer Verhaltenskodex für die Unionstruppen während des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861-1865) verfasst. Da sie jedoch eine umfassende »Zusammenstellung der im Krieg anwendbaren völkerrechtlichen Regeln«95 darstellten, verschafften sie sich schnell auch jenseits des amerikanischen Kontinents nicht nur diskursive Aufmerksamkeit, sondern auch Eingang in nationale Militärhandbücher.96 Gemeinsam mit der ersten Genfer 97 aus dem Jahr 1864 markiert der deshalb den »Übergang in eine Zeit, in welcher eine positiv-rechtliche Regelung des gegenseitigen Umgangs im Krieg zum zentralen Gegenstand der völkerrechtlichen Fachdiskussionen wurde.«98 1868, also in jenem Jahr, in dem Bluntschlis Werk zum Völkerrecht erschien, verpflichteten sich 19 Staaten in der St. Petersburger Erklärung auf Waffen zu verzichten, die potenziell großen Schaden verursachen konnten, ohne dabei militärisch zwingend notwendig zu sein.99 Und sechs Jahre später, im Sommer 1874, fanden sich schließlich in Brüssel auf Initiative des russischen Zaren Alexanders II. Vertreter von 15 Staaten mit dem Ziel ein, erstmals ein internationales Abkommen über eine gesetzlich geordnete Kriegsführung zu verabschieden. Obgleich dieses Vertragswerk mangels Ratifikation keine völkerrechtliche Verbindlichkeit erlangen sollte, stellte es eine der Grundlagen für die Haager Konventionen von 1899 und 1907 dar, die bis heute als Referenzpunkte des internationalen Kriegsrechts gelten.100
Als der Deutsch-Französische Krieg im Sommer 1870 ausbrach, hatte die Debatte um die Kodifizierung des humanitären Völkerrechts also bereits Fahrt aufgenommen. Zu einem verbindlichen Ergebnis war man zwar noch nicht gekommen, auch nicht im Hinblick auf die Behandlung der Kriegsgefangenen, doch gerade der Blick in Bluntschlis Werk zeigt, dass man zu diesem Zeitpunkt trotz alledem über eine differenzierte Vorstellung von ordnenden Maßstäben im Hinblick auf deren Status und den sich daraus ergebenden Verbindlichkeiten verfügte. Dieser Eindruck bestätigt und konkretisiert sich, wenn man anschließend die Regulative zur Hand nimmt, die von den kriegführenden Staaten zu Beginn des Konfliktes für die Behandlung der Kriegsgefangenen in Kraft gesetzt und nach innen und außen kommuniziert wurden. Die Inhalte der Regulative werden herausgearbeitet, um die zu regulierenden Bereiche an sich, aber auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der preußischen und der französischen Fassung darzustellen. Obgleich die Anzahl der gefangenen Soldaten insgesamt die damals bekannten Maße deutlich überschritt, erwiesen sich die Verordnungen weitestgehend als stabile Größe. Gleichwohl provozierten das Verhalten der kriegführenden Regierungen und individueller Akteure das Aufkommen einer intensiven Diskussion einzelner Aspekte des rechtlichen Rahmens zwischen den beiden Kriegsparteien. Diese wird abschließend im Hinblick auf ihre konkrete Auswirkung auf den Kriegsverlauf skizziert und hinsichtlich ihrer Relevanz für die über das Kriegsende hinausreichende Debatte über die juristischen Normen der Kriegsführung eingeordnet. Das Kriegsgeschehen 1870/71 wird dadurch zu einer Momentaufnahme in einer langen Entwicklungslinie der Ordnung und Kodifizierung des internationalen Kriegsrechts.
2.1.Zeitgenössische juristische Prinzipien und Ideen zur Kriegsgefangenschaft
Will man sich zunächst den völkerrechtlichen Ideen am Vorabend des Deutsch-Französischen Krieges nähern, konkret jenen zur Behandlung von Kriegsgefangenen, bietet das Werk von Johann Caspar Bluntschli einen umfassenden Überblick. Dass dieser durchaus selbstbewusst das Ziel verfolgte, mit einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Völkerrechts zu leisten, zeigt bereits sein unkonventionelles Vorgehen, seinem Werk anstatt eines klassischen Vorworts einen Brief an ›seinen lieben Freund‹ Professor Dr. Franz Lieber in New York voranzustellen; rhetorisch betrachtet sicherlich ein mustergültiges Beispiel eines Autoritätsappells.101 Diese demonstrativ präsentierte, enge Verbindung zum ›Vater‹ der , des so genannten , sollte aber zweifellos mehr leisten als nur das Renommee der neuen Publikation zu heben. Sie war Programm: Wie Lieber »mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenschaften des Krieges möglichst zu zähmen« suchte, wollte auch Bluntschli das zeitgenössische Rechtsbewusstsein im Sinne »eine[r] lebendige[n] Ordnung in der Menschheit« schriftlich fassen und »durch diese Aussprache ihr Anerkennung und Geltung verschaffen helfen.«102
Für die Analyse des Phänomens Kriegsgefangenschaft ist das achte Buch seines Werkes relevant. Hier wandte sich Bluntschli, der spätere Mitbegründer des 103, konkret dem Kriegsrecht zu. Einleitend unterstrich er seine Motive für die Abfassung der Schrift:
»Zunächst erscheint der Krieg nicht, wie der gerichtliche Prozeß in der Form eines Rechtsmittels, sondern in der furchtbaren Gestalt eines physischen Kampfes widerstreitender Gewalten. […] Dennoch besteht ein großes humanes Interesse, den Krieg möglichst als Rechtshülfe aufzufassen und darzustellen, damit seine Anwendung beschränkter und die in ihm zu Tage tretende Gewaltthat geordneter werde.«104
In diesen einführenden Sätzen kommen die zwei Gedanken zum Ausdruck, die auch für die nachfolgenden Paragrafen zu Status...