Ahrens | Glantz und Gloria | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Ahrens Glantz und Gloria

"Ein Trip. Mit Illustrationen des Autors"
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403571-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

"Ein Trip. Mit Illustrationen des Autors"

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-10-403571-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein wilder Reigen, ein irrwitziger Traum, eine deutsche Geschichte. Rock Oldekop kehrt nach Glantz im Düster, in seine alte Heimat zurück, um herauszufinden, was sich wirklich zugetragen hat, damals, in der Nacht, als seine Eltern bei einem Brand umkamen. Tiefer und tiefer gerät er in einen wahnwitzigen rasenden Albtraum. Fürchterlich und barbarisch geht es zu in diesem fiktiven Mittelgebirge. Radikal phantastisch, mit einer zärtlichen Absolutheit und virtuosen Wucht erzählt Henning Ahrens von der Suche nach der Herkunft, einer Identität, einer Lebensgeschichte.

Henning Ahrens lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte diverse Lyrikbände sowie die Romane »Lauf Jäger lauf«, »Langsamer Walzer«, »Tiertage« und »Glantz und Gloria«. Für S. Fischer übersetzte er Romane von Richard Powers, Kevin Powers, Khaled Hosseini. Zuletzt erschien sein Roman »Mitgift«.
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2


An dem Abend meiner Ankunft in Glantz war Landauer noch ein unbeschriebenes Blatt, und obgleich ich inzwischen mehr über ihn weiß, bleibt er ein Rätsel, kommt mir im Rückblick ebenso riesenhaft vor wie seine Mühle auf dem Feuerberg, eine Stätte, auf der als Hexen diffamierte Frauen den Flammentod starben, denn wenn der Mob nach Blut schreit, bekommt er Blut, das ist ein Gesetz, das über das Ende der Welt hinaus Bestand haben wird.

Doch zurück zur Tür – ich klopfte, und er öffnete, ein stämmiger Mittsechziger, der mir ein Geldbündel reichte. »Die Nachnahme«, sagte er und spähte in die Dämmerung. »Wo ist dein Lieferwagen?«

Die Windmühle war in bestem Zustand und außerdem so hoch, dass die Haube nach den Sternen zu greifen schien. Galerie, Feldsteinsockel, Verputz und Flügel – alles wie neu. Ich sagte: »Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«

Er nickte anerkennend. »Und das Paket?«

»Ich bringe kein Paket.«

»Ah!«

Vielleicht hätte ich mir manches erspart, wenn ich dieses »Ah!« korrekt gedeutet hätte, aber ich nahm es einfach hin. Es sollte noch etwas dauern, bis ich diesen Ausruf ein zweites Mal hörte, und wenn ich an das zweite Mal denke … !

So sagte ich nur: »Ich will nach Glantz.«

»Um diese Uhrzeit? Auf keinen Fall.« Landauer ging in die Mühle.

Ich verharrte vor der Tür. Sie stand offen. Ich lehnte das Fahrrad gegen den Feldsteinsockel und folgte Landauer hinein.

»Wozu das Schild?«

Wo ich dies schreibe? Wenn ich das wüsste. Der Schreibtisch aus Treibholz steht vor einem Fenster mit Blick auf Strand und Meer, aber ich bin nicht daheim, und wenn ich aufblicke, zaubert das Glitzern der Wellen einen Käfig aus Gold an den Himmel. Darin knurrt ein Panther, schwarzbraun wie die Haselnuss, und was sein Blick erfasst, stirbt, bevor es das Herz erreicht. Glücklich ist, wer vergisst, aber ich erinnere mich: An Vaganten, die durch das Land zogen, um den Tod zu säen; an den Lockruf des Hasses, dieses Bastards von Gier, Neid und Angst. Koraschke konnte ein Lied davon singen, ich dagegen musste Lehrgeld zahlen, und dennoch – und deshalb – frage ich: Warum ist sie nicht an meiner Seite?

»Dazu später mehr.«

Im sechseckigen Erdgeschoss der Windmühle verströmte eine Salzkristalllampe Uteruslicht. Die Buddhastatue auf der hellblau lasierten Kommode lächelte Räucherstäbchen an, die sich in einem mit Sand gefüllten Einmachglas kreuzten.

Landauer stellte sich vor. »Und du heißt …?«

»Rock Oldekop. Gehört die Mühle Ihnen?«

»Was denn sonst? Ist ein Galerieholländer. Eigenhändig saniert und ausgebaut. Die Flügel betreiben einen Generator.«

»Sie erzeugen Ihren Strom selbst?«

»Ich baue auch Obst und Gemüse an.«

»Stammen Sie aus Glantz?« Mein Blick fiel auf den präparierten Kopf eines Hechtes, der neben einem Kalachakra-Mandala über der Spüle hing.

Sein Blick wurde scheel. »Nein, aus Köln.«

»Ich habe bis zu meinem sechsten Lebensjahr in Glantz gelebt.«

»Gratuliere. Herrliches Fleckchen. Schönster Ort auf Erden.« Er wandte sich ab, um Tee aufzugießen. »Sagenhaft intelligente, tolerante, herzliche Leute. Ich kann mein Glück nach fünfzehn Jahren immer noch nicht fassen.« Er schenkte mir ein. »Und nun …« – er setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch – »… lese ich aus deiner Hand.« Er studierte die Linien meiner Rechten, was mir Gelegenheit gab, ihn genauer zu betrachten: Augen, die Lachfalten ausstreuten; Lippen, beidseitig von Riefen gebändigt; eine Stirnfalte wie ein Trennstrich zwischen den Gehirnhälften; eine Glatze, umkränzt von sattbraunen Haaren.

»Gefärbt«, murmelte Landauer, ohne aufzusehen. »Ich bin eitel. Liegt an den Frauen.« Er schüttelte ein Foto aus dem Ärmel: Eine lateinamerikanische Schönheit, die eine Zierde für jeden Pirelli-Kalender gewesen wäre. »Evita aus Nicaragua«, sagte er, »meine kleine Kaffeebohne.« War das ein wehmütiges Lächeln? Er las in meiner Handfläche, er las und las. Der Tee erkaltete, ich wurde ungeduldig.

»Sieh an!«, rief er nach acht Schlägen einer Standuhr.

Sonderbar, dass sich Menschen, die mir am Herzen lagen, so oft in Luft auflösten oder, wie Landauer, vom Erdboden verschluckt wurden. Deshalb sah ich mich am Ende gezwungen, die Suche allein fortzusetzen, wenn auch voller Unbehagen, denn anstelle von Leben gab es in Glantz nur Leere – ich war schon froh, wenn ich eine Schwalbe oder Mücke sah.

Eines späten Nachmittags, ich durchkämmte zum x-ten Mal die Hinterhöfe, begegnete ich jener Person, die ich bis dahin immer nur flüchtig gesehen und wegen ihrer Zartheit und des weißen Kleides obendrein für eine Erscheinung gehalten hatte. Sie saß rittlings auf der Mauer einer Miste und erklärte: »Auch Tore, die mit Balken und Riegeln verrammelt sind, tun sich schließlich auf. Sesam öffne dich! Simsalabim! Oh, du schöne Welt der Schufte und der Scharlatane, wie herrlich ist dein Hokuspokus – dreimal ins Horn gestoßen, und die Wälle stürzen ein, und was einmal war, ist nimmermehr.« Sie sprang mit glockenhellem Lachen von der Mauer, fiel mir um den Hals, als wäre ich ihr Liebster, und flüsterte: »Morgen wollen wir Hochzeit halten.« Atemlose Küsse später eilte jemand auf den Hinterhof und rief: »Verboten! Verboten!«

Oder gaukelt mir die Erinnerung etwas vor?

Halten wir fest, dass diese Frau nicht jene war, die ich gesucht hatte, aber da sich bekanntlich alles wandelt, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf.

Er tischte mir ein tolles Leben auf, dieser August Landauer. Im Schein der Salzkristalllampe, unter den Augen Buddhas und des Hechtes. »Im Herzen bist du ein Freibeuter«, sagte er, den Blick auf meine Hand geheftet, »aber du hast dich selbst an die Kette gelegt. Sie bindet dich an einen Brand. Blutsverwandte starben. Du warst noch klein, als eine Odyssee für dich begann. Du hast an vielen Orten gelebt. Es gab ein Weibsbild mit finsterer Seele, sie stieß dir ein Messer zwischen die Rippen. Du hast Zuflucht auf einer fernen Insel gesucht. Seit deiner Rückkehr bist du auf der Suche. Dein Beruf …« Er hob den Kopf und sah mich an. »Wer weiß. Aber du durchtrennst die Kette. Und dich erwartet eine … oh!« Er lachte. »Abenteuer stehen dir bevor, Rock Oldekop. Und darauf …« – er stellte eine Flasche auf den Tisch – »… stoßen wir jetzt an.«

Meine Wangen glühten, meine Lippen zucken. Fühlte ich mich ertappt? »Das ist nicht mein Leben«, sagte ich.

»Nein.« Landauer schenkte ein. »Aber das wird dein Leben sein. Und was das Schild betrifft: Die Wirklichkeit ist eine Mauer. Die meisten nehmen sie erst wahr, wenn sie sich eine blutige Nase holen. Daher die Warnung.«

Der Kräuterschnaps brannte in der Kehle; stand auf dem Etikett. »Lokale Spezialität«, sagte Landauer und schenkte nach. Rief: »Kreuzhimmeltausenddonnerwär, uns olle König mot weer her!« Er streckte mir eine Handfläche hin. »Siehst du diese Linie? Der ›olle König‹, das bin ich, und mein Schicksal …« Er schwenkte unbestimmt die Hand.

Wir leerten die Flasche bis auf den letzten Tropfen.

Ich übernachtete in der dritten oder vierten der acht oder neun Etagen, die sich zwischen unten und oben schoben. Der Futon war hart, und vielleicht schlief ich deshalb so schlecht. Dazu die Geräusche: Zuerst das Röcheln eines ersterbenden Fernsehers, dann Backfischgekicher, gefolgt vom Jubel schnäppchenfündiger Shoppingjunkies – ich wälzte mich hin, ich wälzte mich her, ich probierte es wie Pippi Langstrumpf verkehrt herum mit dem Kopf unter dem Plumeau, alles vergeblich. Oder träumte ich? Meine wachen Gedanken kreisten um Kreta, denn dort hatte ich gelebt, bis die Ersparnisse aus meiner Zeit als Buchillustrator aufgebraucht gewesen waren.

Landauer hatte ins Schwarze getroffen: Ich hatte mich auf eine Insel verkrümelt, und meine Ahnen waren Asche. Was hatte ich hier zu suchen?

Die Vergangenheit war Wurzelgemüse.

Ich rollte mich auf den Bauch.

Dann ein Rauschen wie das einer Welle, die sich an einem Strand brach. Ein Hauch von Rauch und flackernder Feuerschein auf der Scheibe. Ich warf das Plumeau ab. Drei Schritte später stand ich am Fenster. Der Wind hatte wieder aufgefrischt; eine viehische Brise stieg mir in die Nase. Unten sah ich meinen Gastgeber, er stand mit einer Bockflinte unter dem Arm auf der Galerie und qualmte eine Zigarette, den Blick auf das Vorfeld der Mühle gerichtet. Dort hatten sich Fackelträger versammelt: Typen mit Crewcut und Backpfeifengesicht, Frauen mit Botero-Figur und buntschillernder Frisur. Sie grölten:

»Es weht ein Wind von Osten her,

wo tote Helden schlummern;

er bringt uns echtes Combat-Flair,

dazu Kanonenwummern.

Der Ruhm, die Ehre und das Blut,

das zählt für unsereinen,

der Boden und das Hab und Gut:

Wir sind mit uns im Reinen.«

So ging es Strophe um Strophe weiter, wobei sie ruckten und zuckten wie einst Michael Jackson. Im Hintergrund stand eine Limousine mit Kettengliedern auf dem Kühlergrill. Im Schein des wickblauen Abblendlichts krähte der Unisex-Gesangverein zum letzten Mal den Refrain:

»Scheiß auf die Kunst,

kotz auf Kultur!

Oh, Pest und Ruhr,

oh, Feuersbrunst!«

Danach Stille. Fackeln flackerten, Funken stoben. Die Limousine setzte im Bogen zurück. Bremslichter flammten...


Ahrens, Henning
Henning Ahrens lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte diverse Lyrikbände sowie die Romane 'Lauf Jäger lauf', 'Langsamer Walzer', 'Tiertage' und 'Glantz und Gloria'. Für S. Fischer übersetzte er Romane von Richard Powers, Kevin Powers, Khaled Hosseini. Zuletzt erschien sein Roman 'Mitgift'.

Henning AhrensHenning Ahrens lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte diverse Lyrikbände sowie die Romane 'Lauf Jäger lauf', 'Langsamer Walzer', 'Tiertage' und 'Glantz und Gloria'. Für S. Fischer übersetzte er Romane von Richard Powers, Kevin Powers, Khaled Hosseini. Zuletzt erschien sein Roman 'Mitgift'.



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