Ahrends | Bleib sauber! Band 2 | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 460 Seiten

Ahrends Bleib sauber! Band 2

Kalter Krieg & Gewissen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8190-6773-0
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Kalter Krieg & Gewissen

E-Book, Deutsch, 460 Seiten

ISBN: 978-3-8190-6773-0
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Politische Essays und Feuilletons aus vierzig Jahren, die vor allem in der ZEIT, aber auch in anderen überregionalen Zeitungen und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk veröffentlicht wurden. In den vergangenen vierzig Jahren habe ich in Essays und Feuilletons immer wieder auf ethische Aspekte der zweigeteilten Erfahrungen Bezug genommen. Hab mich gefragt, wie es hier und drüben gelang, ein guter Mensch zu sein und seine Würde zu wahren. Wie es gelang, sich zu emanzipieren und zu entwickeln. Wie bezog man sich hier und drüben auf die gemeinsame deutsche Vergangenheit und Zukunft? Wie griff die Teilung in Lebensläufe ein, in Familien? Wie in die Sprache? Wie in die Arbeitswelt, wie in die Künstle? Ich glaube, dass wir aus unseren Niederlagen gelernt haben, wir Deutschen. Ich bin in diesen Lernprozess hineingeboren und damit aufgewachsen, hatte daran teil, ob ich wollte oder nicht. Die aktiven Varianten waren mir lieber als die passiven. Lieber als die Pflicht-Lehrstunden zu den Beschlüssen der allwissenden Partei waren mir meine Proben aufs Exempel. Auf diese Deutsche Demokratische Republik und auf das, was sich dort von selbst verbot.

Martin Ahrends wurde 1951 in Berlin geboren, Abitur 1970 in Potsdam, Studien der Musik, Philosophie, Theaterregie in Berlin, Redakteur einer Zeitschrift für ernste Musik, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Komischen Oper. Nach einem politisch begründeten Arbeitsverbot: 1982 Ausreiseantrag, dem 1984 stattgegeben wurde. In Hamburg zwischen 1986 und 94 Redakteur und freier Mitarbeiter der Wochenzeitung DIE ZEIT, seither freier Autor. Neben zahlreichen publizistischen Arbeiten auch literarische Texte: Erzählungen, Essays, Romane u. a. bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, bei Wallstein in Göttingen und im Aufbau Verlag Berlin. Mitglied des P.E.N.
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Männerbund Stasi


Die Stasi konnte sich verstehen als die eigentliche revolutionäre Garde, keine Hilfstruppe, sondern eine Eliteeinheit, von der Sieg oder Niederlage des DDR-Sozialismus abhing. Der Lohn waren rare Güter wie Telefon, Auto, Wohnung, aber auch ein Studienplatz, ein guter Posten im Berufsleben - all dies konnte die Stasi rasch und sicher verschaffen - und außer ihr eben niemand. Sie hatte alles in ihrer Hand, was das Land zu bieten hatte, konnte verweigern oder zuteilwerden lassen, was stete Mangelware war, einschließlich exklusiver Reisen, Einkaufs- und Urlaubsmöglichkeiten. Sie hatte alle Mittel, zu erpressen und zu bestechen und für den Notfall die Drohung mit dem Stasi-Knast bei der Hand. Dabei unterlag sie keinerlei öffentlicher Kontrolle und keinen zivilen Rechtsnormen.
Das hatte durchaus auch erotische Komponenten. Wer bei der Stasi war, hatte seine besonderen Möglichkeiten, mit dem anderen Geschlecht umzuspringen. Einer jungen Zeichen-Lehrerin wird unter dem Vorwand, sie plane, die DDR zu verlassen, von der Volkspolizei der Ausweis abgenommen. Wenig später kommt ein Herr in ihre Wohnung, erzählt, er habe eine Siebdruckerei (Vorsicht vor Leuten, die etwas drucken dürfen!) und bietet ihr Aufträge für Druckvorlagen an. Er gibt sich großzügig, lässt einen hohen Vorschuss da, lädt sie später zum Essen ein. Man schläft miteinander. Man fährt dann öfter zusammen in die Interhotels (Vorsicht vor Leuten, die hier unkontrolliert ein und ausgehen!), zufällig sind gerade "BRD-Bürger" dort zu Gast, mit denen sich zu unterhalten der großzügige Herr der immer noch ahnungslosen Lehrerin nahelegt. Sie erwacht erst, als er sie nach Leipzig gebracht hat, um sie einer zwielichtigen "Dame" vorzustellen, die sie einkleiden und ihr ein Zimmer besorgen soll, wo sie ausgesuchte Messegäste empfangen kann.
Jetzt erst stellt sie ihm Fragen und erfährt, dass sie sich als "geeignet" erwiesen habe und ihren Ausweis natürlich umgehend zurückbekommen könne, wenn... Die junge Frau flieht in ihre Wohnung und wird dort täglich von Besuchen nun auch weniger netter Herren, von Anrufen (Vorsicht vor Leuten, die einem ein Telefon besorgen können!) und allerart mysteriösen Zwischenfällen heimgesucht. Eines Tages ist die Wohnung verwüstet, die Wände sind mit obszönen Sprüchen und Zeichnungen bedeckt. Natürlich findet die Polizei keine Spuren. Bald darauf hält man ihr Akt-Fotos vor, die ihr Freund gemacht hat, und die bei dem Einbruch verschwunden sind: Sie habe die Absicht gehabt, die Fotos zu verkaufen, leugnen wäre zwecklos ... Sie verlässt ihre Wohnung, um unterzutauchen, um sich als Tramperin mit wechselnder "Bleibe" den zudringlichen Herren zu entziehen. Wenig später ist sie reif für die Psychiatrie.
Eine junge Genossin hat eben ihr Philosophiestudium beendet und einen Band mit Gedichten bei einem knallroten DDR-Verlag untergebracht; diese Gedichte zeugen, wie sie selbst später sagt, von ihrer einstigen naiven Sozialismus-Gläubigkeit.
Kurz vor dem Erscheinungstermin des Bandes kommen zwei Herren zu ihr, die sich als Mitarbeiter der Staatssicherheit vorstellen und mit ihr über ihre beruflichen und politischen Perspektiven reden wollen. Sie schlagen ihr vor - da sie ja nun als Dichterin Zugang zu Künstlerkreisen habe -, gelegentlich mit ihr "Kaffee zu trinken" und über dies und das zu plaudern, was von Interesse für die Behörden sei. Sie rechnen so fest mit ihrer Zusage, dass sie noch dreimal kommen und sich abschlägigen Bescheid holen, bevor sie aufgeben - nicht ohne eine Drohung zu hinterlassen: "Sie glauben doch nicht, dass Sie hier ohne uns etwas werden können." Die Dichterin nimmt's als albernen Wutanfall beleidigter Beamter, womit sie das Kapitel für abgeschlossen hält.
Nun ruft der Verlagsdirektor an, ihr Buch könne aus technischen Gründen nicht erscheinen; sie glaubt's. Viel später erfährt sie, dass die längst gedruckten Bände im Verlagskeller verschimmeln. Von nun an beginnt ihr schöner Glaube zu bröckeln. Bis man ihr schließlich auf dem Treppenflur auflauern und sie ohrfeigen wird, auf dass sie endlich begreife: Man will sie als Dichterin nicht haben, man will sie nun überhaupt nicht mehr haben, nachdem sie ein Buch mit Tonbandprotokollen im Westen veröffentlicht hat. Man lässt sie plötzlich reisen; sie flieht nach Amerika ("In der Bundesrepublik bin ich nicht weit genug weg!") und alpträumt von Ost-Berliner Treppenfluren.

Eine Krankenschwester heiratet den Sohn des Rektors jener „juristischen Hochschule“ Golm, die eigentlich die Hochschule der Stasi ist, sie genießt Privilegien, die sie nicht als solche erkennt. Als sie sich scheiden lässt, bedient sich ihr Ex-Mann, der wie sein Vater für das MfS arbeitet, geheimdienstlicher Mittel, um sich an ihr zu rächen. Fortan ist ihre Welt voller tückischer Überraschungen, deren Ursachen sie nicht klären, deren Urheber sie nicht nachweisen kann, wenn sie in Panik davon erzählt, wirkt sie unglaubwürdig, zumal die Stasi das Gerücht streut, sie sei eine der Ihren. Zuletzt traut sie niemandem mehr, auch ihren eigenen Kindern nicht. (Vgl. meine Erzählung „Verlorenwasser“.)
Drei authentische Geschichten von Stasi-Opfern der eher alltäglichen Art; es gibt andere. Immerhin illustrieren die Bespiele ein wichtiges Charakteristikum der ehemaligen Behörde: Sie ist ein Brennpunkt der Virilität in einer sonst eher entmannten Gesellschaft. Hier können sich all jene männlichen Antriebe austoben, die in der sozialistischen Planwirtschaft sonst brachliegen würden. Hier, und nur hier kann Mann etwas unternehmen, hier gibt es wirkliche Strapazen, wirkliches Grauen, das entgolten wird durch handgreifliche Macht über Menschen. Die Stasi gibt der Männerseele solcherart Nahrung wie es zu anderer Zeit und andernorts allerart Geheimbünde leisten mit der Ehre und Privilegierung einer Mitgliedschaft, der Rache gegen Verräter, der heilige Verschwiegenheit, der Schicksalsgemeinschaft, wehrhafte, ehrhafte Männlichkeit im Dienst der Sicherheit. Eine Lebensdimension, die im eher kleinkarierten sozialistischen Alltag die große Ausnahme war, eine Art Krieg im Frieden, obendrein ohne das Risiko, dabei draufzugehen. Selbst Schicksal spielen für andere, die den Tentakeln der Geheim-Macht zum Spielzeug werden, aber auch: ein Schicksal erleiden, sich mit Schuld plagen, mit Skrupeln, den eigenen Abgründen gründlich zu begegnen. Auch dies Privilegien der Geheimbündler.
Wo schon nicht im Hellen, Produktiven, so ließ sich bei der Behörde doch im Dunkeln, Destruktiven dem Leben einiges abgewinnen, da war dann auch Masochismus im Spiel, Lust an der eigenen Schlechtigkeit, deren Gebot es ist, das Liebste zu verraten, zu zerstören, zu vertreiben. Die Behörde zog Männer an, deren ungelebte produktive Energien zu einer traurig-komischen Schlechtigkeit verkommen waren.
Der junge Mann aus der DDR, der am 12. November 1987 die Frankfurter Oper anzündete, und über dessen Motiv das Gericht und die Presse lange und vergeblich rätselten (er selbst gab vor Gericht immer wieder zum Besten, ihm sei die eigene Tat völlig rätselhaft), vertraute mir eine beinahe unglaubliche Stasi-Story an.
Ich besuchte Michael W. wenige Tage nach seiner Verurteilung zu sieben Jahren Haft in der Vollzugsanstalt Schwalmstadt. Hier erzählte er mir, dass er genau dies - eine langjährige Haftstrafe - mit der Brandstiftung bezweckt habe, um seinen gegnerischen Verfolgern zu entkommen. Er sei von der Stasi beauftragt, eine militärische Untergrundorganisation mit aufzubauen, eine Terrorgruppe, die der Bundesrepublik empfindliche Schläge versetzen könne. Dafür habe er Tamilen angeheuert, die ihrer Nationalitätenkonflikte wegen unverdächtig seien, einen so "naheliegenden" Auftraggeber zu haben.
Den ersten Kontakt habe er im Ostberliner Gefängnis Rummelsburg geknüpft, als Mitgefangener getarnt. In den Tamilen Bibu habe er sich verliebt, der aber habe ihn "verraten". Er habe ihn "hinrichten" müssen. Vor Bibus Rächern sei er in den sicheren Knast geflohen.
Weshalb nicht zurück in die DDR? Michael W. verweist auf ein ehernes Prinzip: Nie die Spur ins eigene Nest legen. Vielleicht wollten ihn seine Genossen nicht zurückhaben. Gleichviel, was an dieser - mit vielen glaubhaften Details ausgeschmückten - Geschichte wahr und was erfunden ist: W.s Erzählungen und seine Briefe aus dem Strafvollzug geben ein Paradebeispiel jener unheilvollen Verquickungen männerbündlerischer, sexualneurotischer Phantasien, die bei manchem Stasi-Mann im Spiel waren. Gemeint ist zum Beispiel die Art, wie W. von jenem geheimnisvollen Alten erzählt, der sein Lehrer war. Bei ihm lernte er Wagner lieben, hier keimten seine homosexuellen Neigungen, hier wurde er in die höheren Weihen des "Systems" eingeführt, von dem er einem imaginären Freund aus dem Gefängnis schreibt: "Ja, mein lieber Spatz, ich habe etwas aufgebaut, in das man ohne meine Genehmigung nie eindringen kann. Es ist etwas, das man nicht lahmlegen, unterbinden oder gar abbrechen kann; es ist ein System, das sich durch unendlich viele Sicherungen schützt, die auf den leisesten Verdacht von Feigheit, Faulheit, Betrug und Lüge reagieren und bei Bedarf jedes menschliche Hindernis aus dem Weg räumen."
Gemeint ist eine bestimmte männertypische Mentalität, zu der auch die folgende, von W. erzählte Geschichte passt: Einmal, als er längst bei der "Truppe" gewesen sei, habe es ein anderer gewagt, ihm sein Mädchen zum Tanz zu entführen, woraufhin er mit den "Jungs" angerückt sei, um den Nebenbuhler zu entkleiden und ihn nackt und gefesselt auf den Bahnhofsplatz zu setzen... Stasi-Männer waren von Staatswegen legitimiert, ihre sexuellen und Macht-Fantasien Wirklichkeit werden zu lassen. Im Dienst der Arbeiterklasse. (EMMA vom 1. Juli 1990,...



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