Aho | Einsam | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1

Reihe: Die Juhani-Aho-Reihe

Aho Einsam

Novelle
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96130-579-7
Verlag: apebook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Novelle

E-Book, Deutsch, Band 1

Reihe: Die Juhani-Aho-Reihe

ISBN: 978-3-96130-579-7
Verlag: apebook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



'Einsam' ist eine Novelle von Juhani Aho, die eindrücklich das aussichtslose Zurückgeworfensein auf sich selbst des Protagonisten darstellt. Juhani Aho, eigentlich Johannes Brofeldt (11. September 1861 - 8. August 1921), war ein finnischer Schriftsteller und Journalist. Er wurde zwölf Mal für den Nobelpreis für Literatur nominiert.

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II.
Ich habe sie gekannt, als sie noch ganz klein war. Das erstemal sehe ich sie, als mich der Bruder in die Familie einführt und mich als seinen besten Freund vorstellt. Die Mutter ist eine stille, freundliche Witwe, von mildem, sanftem Aussehen und mit ergrauendem Haar. Sie scheint nur für ihre Kinder zu leben. Man bringt Kaffee, und den Brotkorb trägt ein kleines, helläugiges Mädchen, das mir offen in die Augen sieht und sich nicht im geringsten bemüht, seine Lachlust zu bezwingen. Ihre Verneigung besteht aus einem kurzen, ruckweisen Knicks, gleichsam aus Zwang gemacht und aus Gnade geschenkt, der aber seine bestimmte Zeit hat, ebenso wie die kurzen Kleider. Zwei schwarze Flechten reichen ihr bis in die Taille hinab. Du wirst sicher viele Herzen brechen, wenn du nur erst erwachsen bist, denke ich im Vorübergehen. Wir werden gute Bekannte. Ich besuche die Familie oft, und die Kleine geht um dieselbe Zeit zur Schule, wie ich auf die Universität gehe. Entweder hole ich sie ein, oder ich mäßige meine Schritte, wenn ich sie um die Straßenecke biegen sehe. Oft, wenn ich sie nicht bemerkt habe, bekomme ich einen Schneeball in den Rücken. Und wenn ich mich dann nach ihr umwende, ballt sie schon lachend einen zweiten in ihren rotgefrorenen Händen zusammen. Sie ist so morgenfrisch, den Hut auf dem einen Ohr, während der Muff an einer Schnur an der Seite hängt wie eine Jagdtasche. Zuweilen geschieht es, daß ich ihr um acht Uhr begegne, wenn ich von einem Trinkgelage heimkehre, das die ganze Nacht gewährt hat. Sie ahnt nicht, woher ich komme, springt an mir vorüber und pufft mich im Vorbeigehen. Wenn ich dann nach Hause komme und mich entkleide, alles, was mir von der durchwachten Nacht anhängt, abwasche und mich auf mein unberührtes Bett lege, steht sie in Gedanken einen Augenblick vor mir, gleich einem kleinen, reinen Vogel, den man kennt und den man oft vor sich über den Weg huschen sieht. Sie ist offenbar stolz auf ihren erwachsenen Kavalier, der sie oft gar bis an die Schultüre begleitet. Wenn sie mir begegnet, läßt sie es sich nicht nehmen, mir eine Verbeugung zu machen, und ich lüfte den Hut wie vor einer erwachsenen Dame. Und oft springt sie aus dem Mädchenschwarm auf der anderen Seite der Straße auf mich zu und gibt mir ihre Bücher zu tragen, um sich vor ihren Freundinnen mit ihrer Bekanntschaft zu brüsten. Wenn es ihr einfällt, kann sie wohl sagen: »Kommen Sie doch, bitte, bald einmal zu uns!« Natürlich steht mein Name in ihrem Stammbuch und daneben ein Gedicht, und ich glaube, daß ich zu jener Zeit ihr »Ideal« war. Ich verlobe mich, und als ich mit meiner Braut die erste Visite mache, ist sie nicht zu bewegen, in den Salon zu kommen. Die Mutter will sie hereinholen, aber sie antwortet nur: »Nein, ich komme nicht!« und ritzt Bilder auf die betauten Fensterscheiben. Ich sehe das alles durch die Türspalte und höre die Mutter schelten: »Anna, besudele das Fenster doch nicht so!« Meine Braut sitzt am Sofatisch und besieht Photographien. Ich empfinde eine augenblickliche Schwäche in meinen Gefühlen. Ihre Züge erscheinen mir, von vorn gesehen, so grob und alltäglich. Am nächsten Tage erzählt mir der Bruder lachend, daß meine Braut, die Lehrerin an der höheren Töchterschule ist, in Annas Augen »häßlich« und »hochmütig« sei, und daß niemand in ihrer Klasse sie »ausstehen« könne. »Wie kann man auch nur einen solchen Geschmack haben!« Auf mehrere Jahre verschwindet sie aus meinen Augen und Gedanken. Ich mache mein Examen, ziehe aufs Land und komme nur selten nach Helsingfors. Ich habe aus dieser Zeit kein anderes Bild von ihr als das eines heranwachsenden, gewöhnlichen Schulmädchens in den oberen Klassen der finnischen höheren Mädchenschule. Sie ist schüchterner als früher, und wenn der Bruder sie einmal mit irgendeiner »Flamme« neckt, so geht sie beleidigt fort und zeigt sich nicht mehr. Vor einem Jahre sehe ich sie zum erstenmal in ihrer jetzigen Gestalt. Ich habe genug von den Verhältnissen und dem Leben auf dem Lande und in den kleinen Städten, wo ich seither Lehrer gewesen bin. Meine Verlobung ist längst aufgehoben, neue Verbindungen sind wieder abgebrochen. Es bietet sich mir eine Gelegenheit, ins Ausland zu reisen, und ich komme im Frühling nach Helsingfors, um Französisch zu lernen. Ich komme dorthin mit der inneren Leere, die in der Einsamkeit des Landes, in den entlegenen Winkeln der kleinen Städte, wo die Lebenskraft gleichsam eintrocknet, entsteht, und unter welcher der Geist schwindet und leidet. Alle Bande waren zerrissen, meine Eltern waren gestorben, und ich hatte keine Angehörigen, die mir nahe standen. Ich hatte gegen niemand Verpflichtungen, und ich konnte sorgenfrei leben, konnte noch einmal nach einem langen Zwischenraum das Leben in der großen Welt genießen, ehe ich mich ganz dem Alter übergab. Ich kam mit ungefähr denselben Gefühlen wie das erstemal als junger Student. Ich gehe geradeswegs nach dem alten, bekannten Hause und schelle. Ein erwachsenes junges Mädchen öffnet die Tür. Ich habe noch das deutliche Gefühl, daß ihre Züge, ihre Augen, ihr langes Haar, ihr rundlicher Busen, ihr schlanker Wuchs, – daß dies alles sich in diesem einen Augenblick mit einem einzigen Schlage in meine Sinne einbrennt, wie in die Platte des Photographen. Ich verliebe mich auf der Stelle in sie. Mit den zähen Gefühlen eines gereiften, erfahrenen Mannes klammere ich mich an ihr fest. Sie scheint mir alles das zu besitzen, was ich bisher vergebens gesucht habe. Nicht ein einziger kleiner Zug, nicht eine Bewegung, auch nicht ein Tonfall in ihrer Stimme, der mich stört oder verletzt. Wenn ich früher liebte, habe ich oft eine Erschlaffung in meinen Gefühlen empfunden, eine Art von Intervallen. Ich konnte Fehler an diesen anderen finden, konnte sie kühl beurteilen, und immer hatte ich eine Ahnung, daß meine Liebe verschwinden würde, – wie sie es auch tat. Und ich war mir stets klar darüber, weshalb ich diese andere liebte. Jetzt kann ich die Gründe nicht finden, ich kann meine Meinung nicht definieren. Sie ist nur so, wie sie ist. Sie hat sich beim ersten Atemzug in mein Blut geschlichen, hat sich durch jede Ader, jeden Nerv gedrängt wie ein junger Wein, der verjüngt und Kraft gibt. »Ah! Guten Tag!« ruft sie und streckt erfreut ihre Hand aus. Die Äußerung, daß sie ja schon eine erwachsene Dame ist und daß ich sie kaum wiedererkannt hätte, schwebt mir auf der Zunge. Aber ein gewisses Etwas hindert mich daran. Ein dunkles Bedürfnis, mich selbst zu überreden, daß der Altersunterschied doch nicht so groß ist. Höchstens fünfzehn Jahre, – was ich in aller Geschwindigkeit ausrechne, während ich hinter ihr in den Salon trete. Sie läuft hinaus, um die Mutter zu rufen, wendet sich in der Tür um und sieht mich an. Diese Bewegungen und Wendungen geschehen gleichsam in mir, und mein Blut gerät bei einer jeden in Wallung. Ich habe dieselben Empfindungen wie vor Jahren, als ich mich zum ersten Male verliebte. Meine Liebe ist ebenso gefühlvoll, und mein Benehmen ebenso kindlich. Ich suche sie wie durch Zufall überall zu treffen, wo ich nur kann, ersinne alle möglichen Vorwände, um die Familie zu besuchen, und des Abends, ehe ich schlafen gehe, wandle ich oft vor ihrem Fenster auf und nieder. Ich vernachlässige alle meine Beschäftigungen, kümmere mich nicht um meine Vorbereitungen zur Reise oder um die Erlernung der Sprache, um derentwillen ich eigentlich hierhergekommen bin. Die Stunden bei meiner Lehrerin sind ungefähr ebenso wie früher in der Schule. Ich bemühe mich, mit so wenig wie möglich durchzukommen. Der Frühling kommt, die See geht auf, und ich müßte mit einem der ersten Dampfer nach Lübeck fahren. Ich schiebe die Reise bis auf weiteres auf. Im Süden ist es jetzt zu warm, Paris ist während der ersten Ausstellungswochen zu überfüllt und so weiter. Hin und wieder machen wir Spaziergänge zu zweien, schauen vom Observatoriumsberg auf das Meer hinab, das blaut und glänzt, und auf den Hafen, in den die Boote hineingleiten, wo die Segel flattern, und der von den weißschimmernden Häusern am Strandmarkt eingefaßt ist. Wir sitzen des Vormittags vor der Kapelle, wo sich die Menschen in farbigen Sommerkleidern um den Springbrunnen drängen. Kleine Mädchen verkaufen frischgepflückte Blumen, und jedesmal, wenn wir dort sind, erlaubt sie, daß ich ihr einen blauen Veilchenstrauß überreiche. Sie steckt ihn an ihre Brust, atmet den süßen Duft ein und vergißt die Blumen im selben Augenblick. Aber ich bin glücklich und kann meine Augen nicht von den Veilchen wenden, die dort im Knopfloch an ihrem Busen ruhen. Wüßte ich nur, ob sie mich liebt oder ob sie schon einen anderen hat. Und plötzlich überkommt mich eine Angst, auf so lange Zeit fortzureisen, irgendwohin dort hinter den Horizont jenseits der Berge und der fernen Meere! »Manchmal habe ich gar keine Lust, Finnland zu verlassen«, sagte ich eines Tages. Sie aber bemerkte nichts in meiner Stimme oder in meinen Blicken. Sie grüßte einen vorübergehenden langen, hübschen Studenten dort am Springbrunnen, befeuchtete ihre Lippen mit dem Glase und sagte ganz sorglos, indem sie die ganze Zeit den Studenten nicht aus den Augen läßt: »Aber warum denn nur? Es muß doch schön sein, hinauszureisen und die weite Welt zu sehen – – –« »Es ist auch wohl zu viel verlangt, daß sie sich jetzt schon in mich verliebt haben sollte«, tröstete ich mich. Aber der Gedanke, daß sie hierbleibt und vielleicht verlobt ist, wenn ich zurückkomme, quält mich mehr und mehr. Ich bin eifersüchtig auf alle, denn ich sehe, daß man bereits anfängt, aufmerksam auf sie zu werden. Oft wenden sich die Spaziergänger um und sehen ihr nach. Die...



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