E-Book, Deutsch, Band 10, 464 Seiten
Reihe: Midnight Breed
ISBN: 978-3-8025-8541-8
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lara Adrian lebt mit ihrem Mann in Neuengland. Seit ihrer Kindheit hegt sie eine besondere Vorliebe für Vampirromane. Zu ihren Lieblingsautoren zählen Bram Stoker und Anne Rice.
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1 »Die Sprengladungen sind scharf, Lucan. Die Auslöser sind bereit. Auf dein Kommando ist hier alles zu Ende.« Lucan Thorne stand schweigend im dunklen, schneebedeckten Hof des Bostoner Anwesens, das so lange die Operationsbasis für ihn und seinen kleinen Kader von Waffenbrüdern gewesen war. Über hundert Jahre lang waren sie jede Nacht von hier zu zahllosen Patrouillen aufgebrochen, um für Sicherheit zu sorgen und den brüchigen Frieden aufrechtzuerhalten zwischen den ahnungslosen Menschen, denen die Tagesstunden gehörten, und den Raubtieren, die sich in der Dunkelheit heimlich, manchmal todbringend unter sie mischten. Lucan und seine Ordenskrieger sorgten schnell und tödlich für Gerechtigkeit und hatten Niederlagen nie gekannt. Bis heute Nacht. »Dafür wird Dragos bezahlen«, knurrte er durch die Spitzen seiner hervortretenden Fänge. Lucans Augen glühten bernsteingelb, als er über den weiten Rasen auf die helle Kalksteinfassade des Herrenhauses im neugotischen Stil starrte. Ein Gewirr von Reifenspuren überzog den Boden, sie stammten von der Verfolgungsjagd mit der Polizei, die am Morgen das hohe Eisentor des Anwesens durchbrochen hatte und vor der Tür des Hauptquartiers mit einem Kugelhagel zu Ende gegangen war. Im Schnee waren noch die Blutspuren zu sehen, wo die Polizei drei Terroristen niedergemäht hatte, die einen Bombenanschlag auf das UN-Gebäude in Boston verübt hatten und dann vom Tatort geflohen waren, verfolgt von einem Dutzend Polizeifahrzeugen und jedem Nachrichtensender der Stadt. All das – von dem Anschlag auf eine Regierungsinstitution der Menschen zu der von den Medien live übertragenen Verfolgungsjagd der Tatverdächtigen durch die Polizei bis zum gesicherten Gelände des Hauptquartiers – war vom großen Gegenspieler des Ordens inszeniert worden, einem machtbesessenen Vampir namens Dragos. Er war nicht der erste Stammesvampir, der von einer Welt träumte, in der die menschliche Spezies nur dazu da war, dem Stamm in Angst zu dienen. Aber wo andere vor ihm mit weniger Einsatz versagt hatten, hatte Dragos erstaunliche Geduld und Initiative bewiesen. Fast sein ganzes langes Leben hatte er die Samen seiner Rebellion sorgfältig gesät, sich im Geheimen Anhänger in der Stammesbevölkerung herangezogen und jeden Menschen zu seinem Lakaien gemacht, der ihm bei der Ausführung seiner perversen Ziele dienlich sein konnte. Lucan und seine Brüder hatten Dragos verfolgt, seit sie vor anderthalb Jahren hinter seine Pläne gekommen waren. Es war ihnen gelungen, ihn zurückzutreiben, jeden seiner Schachzüge zu vereiteln und seine Operation empfindlich zu stören. Bis heute. Heute war es der Orden, der zurückgedrängt und in die Flucht getrieben wurde, und Lucan gefiel das ganz und gar nicht. »Wann kommen sie voraussichtlich im provisorischen Hauptquartier an?« Die Frage war an Gideon gerichtet, einen der beiden Krieger, die mit Lucan zurückgeblieben waren, um in Boston alles abzuschließen, während der Rest des Hauptquartiers bereits zu einem Zufluchtsort im Norden von Maine unterwegs war. Gideon blickte von seinem kleinen Palmtop auf und sah Lucan über den Rand seiner blau verspiegelten Sonnenbrille an. »Savannah und die anderen Frauen sind jetzt seit fast fünf Stunden unterwegs, also dürften sie in etwa dreißig Minuten vor Ort sein. Niko und die anderen Krieger sind nur ein paar Stunden hinter ihnen.« Lucan nickte, grimmig, aber erleichtert, dass der abrupte Umzug so gut verlaufen war. Es gab noch diverse Dinge, um die sie sich kümmern mussten, aber vorerst waren alle in Sicherheit, und der Schaden, den Dragos dem Orden hatte zufügen wollen, war auf ein Minimum begrenzt worden. Neben Lucan bewegte sich etwas. Tegan, der andere Krieger, der mit ihm zurückgeblieben war, kam von seiner letzten Überprüfung des Grundstücks zurück. »Gibt es Probleme?« »Alles im grünen Bereich.« Tegans Gesicht zeigte keine Emotion, nur grimmige Entschlossenheit. »Die Cops in ihrem Zivilfahrzeug beim Tor sind immer noch in Trance und schlafen. So gründlich, wie ich ihnen die Erinnerungen gelöscht habe, dürften sie wohl erst nächste Woche wieder aufwachen. Und dann werden sie einen mordsmäßigen Kater haben.« Gideon stieß einen Grunzlaut aus. »Besser, ein paar Cops schlafen als ein öffentliches Blutbad mit Beteiligung jeder Polizeiwache der Innenstadt und der Bundespolizei.« »Kannst du laut sagen«, sagte Lucan und erinnerte sich an den Schwarm von Cops und Reportern, die am Morgen das Grundstück überflutet hatten. »Wenn das heute eskaliert wäre, wenn einem von den Cops oder FBI-Agenten eingefallen wäre, dass sie sich im Haus umsehen wollen … Scheiße, ich brauche euch beiden sicher nicht zu sagen, wie schnell uns das alles um die Ohren geflogen wäre.« Tegans Augen blickten ernst in der Dunkelheit. »Schätze, das haben wir Chase zu verdanken.« »So ist es«, antwortete Lucan. Er war über neunhundert Jahre alt, aber er wusste, den Anblick von Sterling Chase, wie er aus dem Herrenhaus direkt ins Fadenkreuz Dutzender schwer bewaffneter Polizisten und Bundesagenten geschlendert war, würde er für den Rest seines Lebens nicht vergessen. In diesem Augenblick hätte er mehrere Tode sterben können. Wenn nicht durch die adrenalinbefeuerte Panik der bewaffneten Männer, die im Hof versammelt waren, dann durch die halbe Stunde in der prallen Morgensonne. Aber offensichtlich war das Chase völlig egal gewesen, als er sich von den menschlichen Behörden Handschellen anlegen und wegführen ließ. Indem er sich ergeben, sich persönlich geopfert hatte, hatte er dem Orden kostbare Zeit erkauft. Er hatte die Aufmerksamkeit von dem Herrenhaus und dem, was darunter verborgen war, abgelenkt und Lucan und den anderen die Chance gegeben, das unterirdische Hauptquartier zu sichern und die Evakuierung seiner Bewohner einzuleiten, sobald die Sonne untergegangen war. Nach einer Reihe falscher Entscheidungen und persönlichen Versagens, zuletzt ein misslungener Anschlag auf Dragos, durch den Chases Gesicht ungewollt nationale Schlagzeilen gemacht hatte, war er der Letzte seiner Krieger, von dem Lucan die Rettung erwartet hätte. Was er heute getan hatte, war absolut erstaunlich, praktisch ein Selbstmordkommando. Allerdings war Sterling Chase schon eine ganze Weile auf einem selbstzerstörerischen Trip. Vielleicht war das seine Art, die Sache ein für alle Mal zu beenden. Gideon fuhr sich mit der Hand über seinen stacheligen blonden Schopf und fluchte. »Der verdammte Spinner. Ich kann gar nicht glauben, dass er das wirklich getan hat.« »Das wäre meine Aufgabe gewesen.« Lucan sah von Gideon zu Tegan, dem Krieger, der schon bei der Gründung des Ordens in Europa dabei gewesen war und ihm Jahrhunderte später dabei geholfen hatte, das Hauptquartier in Boston aufzubauen. »Ich bin der Anführer des Ordens. Wenn sich schon jemand opfern musste, um die anderen zu retten, hätte ich es sein sollen.« Tegan beäugte ihn grimmig. »Was denkst du, wie lange Chase es noch geschafft hätte, gegen seine Blutgier anzukämpfen? Ob er bei den Menschen im Knast sitzt oder frei auf der Straße herumläuft – er ist ein Junkie. Er ist verloren, und er weiß es. Er wusste es, als er heute Morgen aus dieser Tür ging. Er hatte nichts mehr zu verlieren.« Lucan stieß einen Grunzlaut aus. »Und jetzt sitzt er irgendwo in Polizeigewahrsam, mitten unter Menschen. Er hat uns heute zwar vor der Entdeckung gerettet, aber was, wenn sein Durst ihn überkommt und er die Existenz des Stammes verrät? Dann hätte er mit einem heroischen Moment Jahrhunderte strengster Geheimhaltung zunichtegemacht.« Tegans Miene war kalt und ernst. »Ich schätze, wir werden ihm eben vertrauen müssen.« »Vertrauen«, sagte Lucan. »In letzter Zeit hat er oft genug bewiesen, dass man ihm nicht wirklich trauen kann.« Aber jetzt hatten sie keine andere Wahl. Dragos hatte äußerst effektiv demonstriert, wie weit er in seinem Hass auf den Orden gehen würde. Das Leben von Menschen oder Angehörigen seiner eigenen Spezies bedeutete ihm gar nichts, und heute hatte er gezeigt, dass er bereit war, ihren Machtkampf in der Öffentlichkeit auszutragen. Das war extrem gefährlich, mit unglaublich hohen Risiken verbunden. Und jetzt war es persönlich geworden. Dragos hatte einen Punkt überschritten, von dem es kein Zurück mehr gab. Lucan sah zu Gideon hinüber. »Es ist Zeit. Drück auf den Auslöser. Bringen wir’s hinter uns.« Der Krieger nickte leicht und wandte sich wieder seinem Palmtop zu. »Ach, verdammte Scheiße«, murmelte er, und sein britischer Akzent klang durch. »Na, dann wollen wir mal.« Seite an Seite standen die drei Stammesvampire in der kalten, dunklen Nacht. Der Himmel über ihnen war klar und wolkenlos, endlose Schwärze, gesprenkelt von Sternen. Alles war ganz still, als hätten Erde und Himmel in diesem Augenblick innegehalten zwischen der Stille einer perfekten Winternacht und dem ersten tiefen Grollen der Explosion, die sich jetzt etwa hundert Meter unter den Füßen der Krieger ausdehnte. Es schien sich ewig hinzuziehen. Kein bombastisches Spektakel mit Lärm, Feuer und Ascheregen, sondern eine leise und doch gründliche Zerstörung. »Der Wohntrakt ist versiegelt«, meldete Gideon düster, als der Donner wieder abebbte. Er berührte den Touchscreen seines Palmtops, und eine weitere Reihe von Detonationen drang von tief unter dem schneebedeckten Boden zu ihnen herauf. »Der Waffenraum, die Krankenstation...