E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Arabische Welten
Adimi Was uns kostbar ist
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-85787-966-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Arabische Welten
ISBN: 978-3-85787-966-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kaouther Adimi, geboren 1986 in Algier, lebt und arbeitet seit 2009 in Paris. Sie veröffentlichte bisher drei Bücher, die zahlreiche Auszeichnungen erhielten. Ihr dritter Roman, 'Nos richesses' (Seuil, 2017), war für den Prix Goncourt nominiert.
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Aufzeichnungen von Edmond Charlot Algier, 1935–1936
12. Juni 1935
Ich bekomme einmal eine Glatze. Mit zwanzig Jahren habe ich wenigstens diese Gewissheit. Vor dem Philosophieunterricht bei Jean Grenier im Gymnasium von Algier: zur Täuschung die wenigen Haare auf die Seite kämmen. Dieser Lehrer ist unglaublich. Er unterrichtet nicht, er erzählt. Wenn er zu reden anfängt, wissen wir nie, worauf wir uns einstellen sollen. Er denkt unsere Gedanken mit, er zwingt uns, unsere Überlegungen so weit wie nur möglich auszudehnen. Als wir ihn einmal über sein letztes Werk befragten, hat er sich Streifzüge zu den verschiedenen darin erwähnten Inseln ausgedacht. Meine Jahre in der Jesuitenschule (diesem Konzentrationslager!) liegen lange, sehr lange zurück.
23. Juli 1935
Wieder in Algier nach einem kurzen Paris-Aufenthalt. Diskussion mit meinem Vater spätabends in der Küche. Ich erzählte ihm von meiner tiefen Bewunderung für Adrienne Monnier, deren aussergewöhnliche Leihbibliothek in der Rue de l’Odéon 7 ich besuchen konnte. Aberhunderte von Bänden. Alles kann man dort finden! Und welch eine aussergewöhnliche Frau, diese Madame Monnier … Sie hat mir anvertraut, dass sie mit nur ein paar tausend Franc angefangen hat. Das Gleiche sollte man in Algerien machen. Mein Vater ist einverstanden, aber in kleinerem Massstab, meint er. Ja, kleiner, aber trotzdem in diesem Geist. Das heisst eine Buchhandlung, die Neues und Altes verkauft, die Werke ausleiht und die nicht einfach ein Laden wäre, sondern ein Ort der Begegnung und Lektüre. Gleichsam ein Ort der Freundschaft und zusätzlich mit einem Bezug zum Mittelmeerraum: Schriftsteller und Leser aus allen Mittelmeerländern ohne Unterschied in Sprache oder Religion sollen kommen, die Leute von hier, von dieser Erde, diesem Meer, und sich vor allem den Algerianisten widersetzen. Etwas ganz anderes machen!
18. September 1935
Grossvater Joseph aus Ghardaia zurück. Beim Abendessen erzählte er mir, wie er sich Kamele für seinen Wüstenritt gemietet und einen Löwen- und Pantherjäger zum Schutz vor möglichen Räubern dabeihatte. Ein merkwürdiger Mann, der für seinen Beruf als Händler lebt und mehr erfindet als beschreibt. Grossmutter schüttelte verärgert den Kopf. Bis in die Nacht hinein redeten wir über Literatur und Malerei und tranken. Er schenkte mir ein Exemplar mit einer Widmung von Roland Dorgelès und erzählte, dass dieser Roman, bevor er den Prix Femina erhielt, im Rennen um den Goncourt erst in der letzten Runde gegen Proust verloren hatte. Dorgelès’ Verleger verwendete trotzdem eine Bauchbinde mit der Aufschrift . Ich bin von Grossvaters Bildung beeindruckt, er, der nicht studiert hat. Grossmutter ist bald schlafen gegangen, hat mir aber versprochen, am Sonntag mit mir auf den Friedhof Saint-Eugène zum Grab meiner Mutter zu gehen.
9. Oktober 1935
Als ich Bücher ins Regal einordnete, fand ich zehn übrig gebliebene Dosen mit Lakritzbonbons wieder, wie ich sie einmal in einem Sommer an die Händler der Stadt verkauft hatte. In kurzärmligem Hemd war ich in glühender Hitze von einem Lebensmittelladen zum nächsten gegangen, um ein paar Sou zu verdienen. Mindestens ein Jahr wird es dauern, bis sie aufgebraucht sind. Ich werde meinen Freunden davon abgeben. Haben Lakritzbonbons ein Verfalldatum, oder halten sie ewig wie Bücher?
14. Oktober 1935
Ich trug die Einkäufe der Nachbarin nach Hause. Sie bedankte sich und sagte, dass ich sehr nett sei, aber einen Vogelblick hätte, sogar den eines Adlers, der sie gleich verschlingen wolle. Zum Glück lachen Sie, fügte sie hinzu, sonst hätte man Angst vor Ihnen. Was man so alles zu hören bekommt. Ich liess mir keinen Ärger anmerken und setzte meine Brille wieder auf, um Haltung zu bewahren.
6. November 1935
Jean Grenier fragte jeden von uns, was er einmal nach der Schulzeit machen wolle. Ich antwortete, ich sei von allem Gedruckten begeistert. Da machte er mich darauf aufmerksam, dass in Algier Platz für einen Verlagsbuchhändler sei und ich meine Chance wahrnehmen solle. Ich warf ein, dass ich nicht die Mittel hätte, ein Geschäft zu eröffnen. Er sagte: »Wenn man sich zu zweit oder zu dritt zusammentut und etwas wagt, dann kann man ohne weiteres scheinbar Unerreichbares schaffen.« Und weiter: »Wenn Sie einen Verlag aufmachen, schenke ich Ihnen einen Text.« Ich bot ihm Lakritzbonbons an, was ihn sehr amüsierte.
24. Dezember 1935
Wehmütig, deprimiert. Habe in dem Karton mit den Familienfotos gewühlt, die mein Vater gerade in den Schreibtisch räumt. Die Fotos haben etwas unter Feuchtigkeit gelitten: dieses hier, mein Urgrossvater väterlicherseits, Marinebäcker bei der französischen Flotte, 1830 in Algier gelandet. Ebenfalls ein Hochzeitsfoto meiner Eltern. Auf der Rückseite steht mit Bleistift das Datum: 6. April 1912. Dahinter einfach nur . Er, Victor Charlot, wirkt hart, stolz, der Schnurrbart ein umgekehrtes V, die Krawatte festgezurrt. Sie, Marthe Lucia Grima, schön, sehr schön, wirkt verlegen. Sie sind dreiundzwanzig beziehungsweise achtzehn Jahre alt. Und dann ein alter Zeitungsausschnitt vom 5. August 1919, der den Tod meiner Mutter anzeigt. Diagonal gelesen, damit es nicht zu schmerzlich wird: . Sich wieder fangen. Die Literatur hingegen wird mich nie verlassen. Mein Vater brachte mir mehrere Bücher. Ich weiss nicht, wie ich meinen Lesehunger befriedigen sollte, wenn er nicht einen Bücherservice bei Hachette leiten würde.
6. Januar 1936
Ich denke wieder an das, was mir Monsieur Grenier gesagt hat. Mit ein paar Freunden darüber gesprochen. Jean Pane und Madame Couston – seit sie Witwe ist, legt sie Wert darauf, so genannt zu werden – sind begeistert. Ich träume Tag und Nacht davon.
12. Februar 1936
Beim Abendessen gab mir meine Grossmutter einen Zettel, den sie beim Aufräumen gefunden hatte. Dabei lächelte sie schelmisch. Es war die Notiz eines ehemaligen Lehrers an der Jesuitenschule. . Ein Kommentar, der mich in meinem Entschluss bestärkt, nicht an die Universität zurückzugehen, sondern mich mehr der Literatur zu widmen.
2. März 1936
Ich rechne hin und her. Ich habe kaum Ersparnisse: gerade einmal das, was ich mit ein paar Kursen an einer Handelsschule verdient habe.
4. März 1936
Madame Couston möchte sich nicht zu sehr bei der Sache engagieren, denn sie hat nur wenig Zeit dafür, sie muss ihre Kinder allein erziehen. Es ist mir gelungen, 12 000 Franc zusammenzubringen. Das müsste für unser Vorhaben eigentlich genügen: eben für einen Verlag, eine Buchhandlung und was weiss ich! Ein Abenteuer ohne Wüste und Panther, aber trotzdem ein Abenteuer.
9. März 1936
Die Runde in der Familie gemacht, sie ermutigen mich, sind aber nicht einverstanden mit meiner Wahl. Sie sahen mich schon als PTT-Angestellten. Trotzdem glaubte ich, einen Funken Stolz in den Augen meines Vaters zu sehen, der mir zwar kein Geld geben kann, aber verspricht, mir alle Bücher zu überlassen, die er von Hachette bekommen kann. Mein Bruder Pierre hat applaudiert. Grossvater versteht nicht. Für ihn ist die Beschäftigung mit Büchern ein wunderbares Vergnügen, aber auf keinen Fall Arbeit. »Schau doch, was dein Vater verdient, einen Hungerlohn …« Er denkt, dass ich auf einem Irrweg bin, und ich habe sogar gehört, wie er zu meiner Grossmutter sagte, den Weinoder Obsthandel hätte ich wählen sollen, wenn ich wirklich etwas verkaufen wolle.
11. März 1936
Den Nachmittag in dem privaten Lokal der Musikgesellschaft verbracht, im Quartier Belcourt, mit Sicard, Camus, Poignant, Bourgeois und den Schauspielschülern des vor kurzem gegründeten Théâtre du Travail. Sie üben leidenschaftlich , ein Stück in vier Akten, das sie als Skizze aufgeschrieben haben. Das Geschehen spielt zur Zeit des spanischen Arbeiteraufstandes in einer zweigeteilten Kleinstadt: auf der einen Seite die Bourgeois, auf der anderen die Proletarier. Sie versammeln sich in einem Wirtshaus, um im Radio die Wahlresultate zu hören, die bald verkündet werden. Die Rechte gewinnt. Im gleichen Moment erfahren sie, dass streikende, bewaffnete Bergleute in die Stadt eindringen. Geschäftsleute werden getötet, ein Lastwagen explodiert … Die Regierung schickt Truppen und Bombenflugzeuge, die auf die Bergleute...