E-Book, Deutsch, 267 Seiten
Aderholz / Bröse / Gläser Autoritäre Entwicklungen, extrem rechte Diskurse und demokratische Resonanzen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-9082-6
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 267 Seiten
ISBN: 978-3-7799-9082-6
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
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Gudrun Hentges, Prof. Dr., ist Professorin für Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität Köln.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Entsteht eine europäische Rechte in der politischen Krise der EU?
Überlegungen zur Bedeutung der europäischen Ebene für die Entwicklungen der antidemokratischen Rechten
Daniel Keil
Einleitung
In der jüngeren Literatur zum Aufstieg rechter antidemokratischer Parteien und Bewegungen oder zu autoritären Tendenzen in und gegen Demokratien wird häufig eine neue gesellschaftliche Spaltungslinie zwischen Nationalstaat und globalisierter Ökonomie diagnostiziert (vgl. Hooghe/Marks 2018). Je nach Ansatz erscheint diese Spaltungslinie als ökonomisch oder kulturell geprägt: als Gegensatz von Globalisierungsverlierer:innen vs. Gewinner:innen (vgl. Zürn 2020, S. 164; Jörke/Nachtwey, 2017, S. 153; Widmann 2016) oder von Kosmopolit:innen vs. Kommunitarist:innen bzw. Green-Alternative Liberals vs. Traditional-Authoritarian-Nationalists (vgl. Schäfer/Zürn 2021; Zürn 2020; Ingleheart/Norris 2017). Diese Dichotomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse droht allerdings das komplexe Verhältnis von transnationalen und nationalstaatlichen Strukturen zu stark zu vereinfachen.
Sozialräumlich komplexere politische Ordnungsgefüge wie die Europäische Union (EU) haben die politischen Arenen gesellschaftlicher Konflikte und damit die Bedingungen für die Formierung politischer Akteur:innen stark verändert, auch für solche aus dem autoritären, rechten Spektrum. Diese greifen zwar häufig selbst strategisch auf die Behauptung einer Spaltung zwischen Nation und globaler Ökonomie zurück, haben darüber hinaus aber vielfältigere Strategien in der räumlich diversifizierten politischen Konstellation entwickelt.
Im Folgenden soll daher eine Perspektive dargestellt werden, die die Bedeutung der europäischen Ebene für die Entwicklung rechter Parteien und Bewegungen sichtbar macht. Dies dient auch zur Begründung der These, dass die heterogene Rechte ein europäisches Projekt ausbaut, das sich sowohl als Gegenprojekt zur EU versteht als auch selbst europäisch agiert. Dieses rechte europäische Projekt formiert sich in widersprüchlichen Prozessen im Kontext der Polykrise der EU und ist selbst stetigen Wandlungen unterworfen, die einerseits aus den gesellschaftlichen Transformationen durch Krisen und andererseits aus den damit verbundenen inneren Konflikten resultieren. Strategisch zielt das rechte europäische Projekt vor allem auf die Zerstörung demokratischer, konsensorientierter Institutionen und damit auf die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft.
Um die Besonderheiten des europäischen rechten Projekts zu erfassen, folge ich zunächst methodisch in Teilen der historisch-materialistischen Politikanalyse (vgl. Buckel et al. 2014). Da diese ein Instrumentarium bereitstellt, um die Formierung verschiedener gesellschaftlicher Akteur:innen zu gesellschaftlichen Projekten in konkreten politischen Kämpfen zu analysieren, werde ich zunächst den dabei verwendeten, aus neogramscianischen und staatstheoretischen Theorien stammenden Projektbegriff skizzieren. Daran schließt eine Kontextanalyse an, um die multiplen Krisenprozesse zu bestimmen, die auf die Formierung von politischen Kräften zu Projekten im Rahmen der von der EU strukturierten politischen Arenen einwirken. Es folgt eine Akteur:innenanalyse anhand von drei Ereignissen: Europawahl 2019, Coronakrise 2020?ff. und Konferenz für die Zukunft Europas 2021 bis 2022. Auf der Basis der Analyse von Reden, Textdokumenten, Manifesten und anderen Verlautbarungen rechter Parteien und Akteur:innen sowie von Berichten und Zeitungsartikeln werden Strategien, Ideologie-Elemente und Widersprüche des rechten europäischen Projekts herausgearbeitet.
Dabei wird auf die hegemonietheoretisch inspirierte qualitative Inhaltsanalyse (vgl. Caterina 2018) sowie auf ideologiekritische (vgl. Beyer/Schauer 2021) und auf wissenspolitologische Überlegungen (vgl. Nullmeier 1993) zurückgegriffen, mittels derer das vorliegende Material geordnet und analysiert wurde. Das Material ist dabei als Produktion eines spezifischen Wissens über Europa und die EU sowie deren Krise zu verstehen, wobei politische, ideologische und strategische Positionen impliziert sind. Dabei wurde analysiert, welche inhaltlichen Topoi mit „Europa“ als Rahmen verbunden werden und welche Vorstellungen über Gesellschaft darin enthalten sind. So werden (ideologische) Konvergenzen und Widersprüche auf europäischer Ebene sichtbar. Gezeigt werden soll damit die Bedeutung Europas für Ideologie, Strategie und Praxis der heterogenen europäischen Rechten.
Theoretische Grundlagen: Der neogramscianisch-staatstheoretische Begriff des Projekts1
Um die Formierung von heterogenen Akteur:innen in politischen Kämpfen zu verstehen – die europäische Rechte ist sehr heterogen –, wurde in neogramscianischen und staatstheoretischen Arbeiten der Begriff des Projekts entwickelt (vgl. Kannankulam/Georgi 2012). Er verweist auf eine mehrdimensionale Konstellation gesellschaftlicher Akteur:innen in einem historisch-spezifischen Institutionssetting, das selbst einer eingehenden Analyse unterworfen werden muss. In kapitalistischen Gesellschaften nimmt die Aushandlung über die Allgemeinheit eine spezifische Form an: die des Staates. Diese spezifische politische Form ist nicht als Apriori einer Analyse zu setzen, sondern selbst erklärungsbedürftig (vgl. Buckel/Martin 2019). So ist die Organisierung kapitalistischer Gesellschaften in Nationalstaaten aus einer Vielzahl historischer Kämpfe entstanden. Die kapitalistische Reproduktionsweise2 weist einige besondere Charakteristika auf, die konstitutiv für die „Besonderung der Politik“ (ebd., S. 244) sind: Die Privatproduktion von Waren, der Warentausch, das Privateigentum an Produktionsmitteln bei gleichzeitiger Freisetzung der unmittelbaren Produzent:innen von Eigentum und Besitz an Produktionsmitteln, die Warenförmigkeit der Arbeitskraft usw. inhärieren eine spezifische Klassenstruktur und damit ökonomische Herrschaft. Gleichzeitig impliziert Warentausch ein Gegenübertreten von rechtlich Gleichen, die einen gewaltfreien Akt des Tausches vollziehen (vgl. Keil 2021a). In dieser Zersplitterung der Produktionsweise stellt sich der Zusammenhang erst vermittelt her. Zugleich fußt diese Form auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht herzustellen oder zu garantieren vermag. Daher braucht es eine „auf die Ordnung und den Erhalt der Gesellschaft insgesamt gerichtete Tätigkeit“ (ebd., S. 246), den Staat. Dieser steht „außerhalb des Verwertungsprozesses“ und die „physische Zwangsgewalt erfährt eine von allen gesellschaftlichen Klassen getrennte Institutionalisierung“ (ebd.). Damit konstituiert sich im Reproduktionsprozess durch die Handlungen der Menschen eine relationale Trennung von Politik und Ökonomie, von ökonomischer Macht und politischer Herrschaft (vgl. Keil 2021a). Die Praxen verselbständigen sich zu sozialen Formen, die es ermöglichen, dass die gesellschaftlichen Widersprüche prozessieren können. Die sich derart materialisierende gesellschaftliche „subjektlose Gewalt“ (Gerstenberger 2017) ist dadurch gekennzeichnet, dass alle gesellschaftlichen Klassenfraktionen vom unmittelbaren Zugriff auf die institutionalisierte Gewalt ausgeschlossen sind. In dieser relativen Trennung von Politik und Ökonomie ist auch der spezifische institutionelle Aufbau des Staates begründet. Er ist kein monolithischer Block, sondern besteht aus differenten staatlichen Apparaten, deren Zusammenhang nicht a priori besteht. Die Staatsapparate bilden ein Ensemble, dessen innere Einheit sich über gesellschaftliche Kämpfe und Kompromisse herstellt (vgl. Jessop 2016).
An dieser Stelle setzt der Projekt-Begriff an, um die gesellschaftlichen Kräfte einzuordnen und ins Verhältnis zu setzen. Die in politischen Konflikten...