E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Ackermann Lando
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7568-7622-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Flucht aus Lübeck
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-7568-7622-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erweiterte Neuausgabe - An einem eisigen Frühlingstag im Jahr 1363 verlassen drei junge Menschen ihre Heimatstadt Lübeck, das mächtige Haupt der Hanse: Der Bäckersohn Lando, vom vermeintlichen Vater ungeliebt. Seit dem Tod der Mutter wandelt Lando am Abgrund. Die Schankmagd Immeke ist seit ihrem siebenten Lebensjahr auf sich allein gestellt. Sie flieht vor Zudringlichkeiten und einem trostlosen Leben. Elias, ein Novize ohne Wurzeln, der verzweifelt das Wissen der Welt aufsaugt. Sie stehen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. Gemeinsam suchen sie einen Ort, der ihnen Schutz und ein besseres Leben gewährt. Doch ein fanatischer Mönch, dessen dunkles Geheimnis der Novize enthüllt hat, ist ihnen auf den Fersen und sinnt auf Rache. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe des 2012 erschienenen Romans "Lando und der Mönch des Todes"
Anja Ackermann ist Kinder- und Jugendbuchautorin und wurde 1968 in der Hansestadt Lübeck geboren. Seit mehr als zehn Jahren veröffentlicht sie Bücher in verschiedenen Publikumsverlagen, vom Bilderbuch bis zum Jugendroman. Neben dem Schreiben unterrichtet sie Erwachsene mit Beeinträchtigungen. Anja Ackermann hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann am Stadtrand von Lübeck.
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1
Die Tage nach Mutters Tod waren trostlos und fad wie ungesalzene Gerstengrütze. Lando wischte sich über die Augen. Er seufzte und schob Brennholz in den Backofen. Wie glühende Zungen leckten die Flammen an den Aststücken. Es rauschte und knackte. Funken sprühten. Sein Vater, der Bäckermeister Johan van Ehlen, saß auf der Ofenbank, einen Krug Gewürzbier in den gewaltigen Händen, und starrte ins Leere. Einzig Dietrich, der Geselle, schuftete und hetzte, dass ihm Schweißtropfen die Schläfen hinabrannen. »Ich schaff die viele Arbeit nicht, Meister«, klagte er ein um das andere Mal, doch der Bäckermeister schwieg, als sei er vor Kummer stumm und taub geworden. Lando beobachtete, wie sich Feuer in Holz fraß und es in verkohlte Stücke und graue Asche verwandelte. »Tagträumer«, schnaubte Dietrich und drohte mit der Faust. Lando riss sich von den tanzenden Flammen los, griff nach dem Reisigbesen und wirbelte mit ihm über die Steinplatten. Alles, was seine Mutter im Haus geleistet hatte, war ihm zugefallen, selbst das Kochen, Waschen und Saubermachen. Manches Mal meinte er, ihre Schritte auf der Stiege zu hören. Dann lauschte er und blickte erwartungsvoll auf die ausgetretenen Holzstufen. Er konnte nicht begreifen, dass sie diese nie mehr hinabsteigen würde. »Tölpel!«, donnerte der Geselle. »Hör auf! Der Dreck, den du aufwirbelst, gerät mir in den Teig.« Wenige Tage später bestimmte Dietrich ihn dazu, das Backwerk zum Markt zu bringen und feilzubieten. »Weshalb ich?«, rief Lando. »Warum machst du das nicht?« »Weil ein Geselle in der Backstube steht und backt und nicht seine Zeit auf dem Markt vergeudet und Brot feilbietet.« Dietrich knallte einen Teigklumpen auf die Arbeitsplatte. »Schweig und füg dich. Sonst sage ich es deinem Vater, wenn er aus seinem selbstsüchtigen Halbschlaf erwacht.« Lando knirschte mit den Zähnen. Es war ein Elend, der Jüngste der Familie zu sein. Wie gern würde er wie seine großen Brüder Thorwald und Harmen das Elternhaus verlassen und bei Meister Klambeck in die Lehre gehen. Er würde den Ofen in dessen Backstube anfeuern und Brotlaibe in der durchwärmten Diele formen. »Du bleibst hier und hilfst, wo es nötig ist«, hatte Vater ihm stattdessen vor einem Jahr eröffnet. »Wir sind nicht wohlhabend genug, um auch noch das Lehrgeld für dich aufzubringen.« So war es denn Vaters Geiz gewesen, der Lando an das Haus band und wie einen Knecht schuften ließ. Und jetzt sollte er auch noch Backwerk auf dem Markt verkaufen. In der zugigen Holzbude, die auf dem Bäckermarkt als Verkaufsstand diente, froren einem die Zehen ab. Nie hatte er verstanden, wie seine Mutter es im Winter dort ausgehalten hatte. Wolllappen hatte sie sich morgens um die Lederschuhe gewickelt, bevor sie in die hölzernen Trippen geschlüpft war. So war sie losgestapft mit ihrem Karren voller Brot. Dreimal am Tag war Lando zu ihr auf den Bäckermarkt gelaufen und hatte ihr Feldsteine gebracht, die er im Ofen für sie gewärmt hatte. Sie hatte sie in die rot gefrorenen Hände genommen, an ihren Bauch gedrückt und ihm still zugelächelt. Nie wieder würde sie lächeln. Die Kälte war schuld an Mutters Schicksal. Sie hatte den Husten gebracht, dann das Fieber und schließlich den Tod. Ein Hauch von Frost lag in der Luft. Über den Dächern der Stadt kletterte die Sonne das Himmelsgewölbe empor und tauchte die farbig geschlämmten Fronten der Backsteinhäuser in hellrotes Morgenlicht. Lando zog mit steif gefrorenen Händen den Brotkarren über einen Bohlenweg. Er musste achtsam sein, denn wie leicht geschah es, dass eines der runden Brote vom Karren purzelte. Je näher er der Stadtmitte kam, desto mehr Karren, beladen mit Gemüse, Brotlaiben und Fässern, rumpelten mit ihm den Marktbuden entgegen. Frauen, eingewickelt in wollene Umhänge, trugen Körbe und klapperten auf hölzernen Trippen an ihm vorbei. Lando fühlte einen Stich in seinem Herzen, als er die Bäckerbuden im Schatten der hochaufragenden Kirche Sankt Marien erreichte. Seit er denken konnte, hatte hier seine Mutter das Backwerk feilgeboten. »Endlich, Lando! Das Roggenbrot ist schon seit dem Vormittag aus. Hast du mir auch ordentlich Nachschub mitgebracht?«, so hörte er ihre Stimme in seinem Innern. Hatte er erwartet, sie würde in der Holzbude stehen und ihm zunicken? Glaubte er, ihr Tod war nur ein Hirngespinst, ein böser Traum, weiter nichts? Ein Schlag auf seinen Rücken holte ihn in die zugige Wirklichkeit des Bäckermarktes zurück. Alle Stände, bis auf den seinen, waren schon aufgebaut und beschickt. Brote und Kuchen türmten sich auf den Auslagen. Lauthals wurden Mandelhörnchen, Krumme Krapfen und Roggenbrot angepriesen. »Gott zum Gruß, mein junger Freund«, rief eine scheppernde Stimme, die nur einem gehören konnte. Lando fuhr herum. »Meister Friedolf! Gott schenke Euch einen guten Morgen!« »Gleichfalls, gleichfalls, Lando.« Der klapperdürre Paternostermacher verneigte sich übertrieben tief vor ihm. Immer, bevor Meister Friedolf sich morgens an seine Arbeit gesetzt und Bernsteine zu kleinen Perlen für Gebetsketten gedrechselt hatte, war er in aller Frühe zu Mutters Stand gekommen, um sein Brot bei ihr zu kaufen. Es sei das beste, hatte er stets behauptet. Dagegen sei das Backwerk der anderen reinster Schweinedreck. Der Paternostermacher stellte sich auf die Zehenspitzen. »So mich meine trüben Augen nicht täuschen, ist Eure Frau Mutter schon wieder nicht hier. Ist sie denn noch immer leidend?« Er wippte auf den Füßen. Seine kleinen Fuchsaugen blickten umher. Lando wusste, wie sehr Meister Friedolf seine Mutter geschätzt hatte. Wie sollte Lando ihm beibringen, was mit ihr geschehen war? Er kramte in seinem Kopf nach sanften Worten, doch fand er nur Traurigkeit und Leere. Um Zeit zu gewinnen, begann er, das Dachgestänge der Bude abzuladen. Als das Schweigen ihm unerträglich wurde, stieß er hervor: »Tot ist sie! Tot und begraben.« Er ließ zwei Holzstangen neben den Karren fallen und biss sich auf die Unterlippe, bis sie schmerzte. Meister Friedolf erbleichte. Er bekreuzigte sich und schien gleichzeitig in sich zusammenzusacken. Mit den Fingerspitzen rieb er sich den Nasenrücken und murmelte: »So, so, sie hat uns also verlassen, die gute Heilwig.« Er ließ die Arme hängen, als gehörten sie nicht mehr zu ihm. »Tot und begraben«, wiederholte er. »Soso.« »Ja, tot und begraben!«, rief Lando lauter, als er wollte. Meister Friedolf zuckte zusammen. Wut kochte in Lando hoch, Wut auf Meister Friedolf und seine Trauer. Er wollte das nicht auch noch ertragen. Er hatte wahrhaftig genug mit sich selbst zu tun. »Wie ist es geschehen?«, fragte Meister Friedolf leise. Er bohrte seinen Zeigefinger in eines der zahlreichen Löcher seines Mantels. »Sie litt an bösem Husten und hatte beim Atmen stechende Schmerzen«, erzählte Lando. »Gekrümmt hat sie sich und …« »Hat sie dir noch etwas sagen können?«, unterbrach Meister Friedolf ihn. »Nein. Nichts. Sie ist ohne ein Wort gegangen.« Lando fuhr sich über die Augen. »Und die Letzte Ölung?«, fragte der Paternostermacher zaghaft. »Hat sie noch beichten können?« »Nein.« Lando schüttelte heftig den Kopf. Er wollte die Bilder vertreiben, wollte nicht mehr daran denken, wie er seinen Vater immer wieder angefleht hatte, einen Priester zu holen. Wie der nur abgewinkt und gesagt hatte: »Sie stirbt nicht, verflucht!«, sich abgewandt und das Zimmer so überstürzt verlassen hatte, als sei er auf der Flucht. »So ist sie ohne Beichte …« Meister Friedolf blinzelte mit Tränen in den Augen. »Oh, heilige Jungfrau Maria. Lass sie nicht der Hölle anheimfallen. Sie hat es nicht verdient.« »Sie ist nicht in der Hölle!«, behauptete Lando. »Versündige dich nicht«, flüsterte Meister Friedolf und wedelte wild mit den Händen. »Das kannst du nicht …« »Sie ist nicht in der Hölle«, beharrte Lando. »Ein Engel ist mir an ihrem Sterbebett erschienen.« »Ein Engel?« Meister Friedolf sah ihn aus schmalen Augen an. »Wann hast du einen Engel gesehen? Wie sah er aus?« »Er war groß, hell, fast weiß«, log Lando, »und wunderschön. Schöner als alles Irdische. Schöner als alles, was ich bisher gesehen habe. Er hat Mutter an die Hand genommen und zu mir gesagt: ›Fürchte dich nicht. Ich führe sie in das himmlische Reich. Sie wird ein Engel werden und dich immer beschützen‹. Ja, das hat er gesagt.« Eine Träne floss, verharrte kurz in einer von Meister Friedolfs Lachfalten und suchte sich dann ihren Weg bis zum Kinn, an dem sie hängen blieb. Seine Lippen verzogen...