Abraham | Der Leuchtturm | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Abraham Der Leuchtturm


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-99027-308-1
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-99027-308-1
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Ar-Men, der Leuchtturm, von dem hier erzählt wird, ist eine Legende: viele Kilometer vor der bretonischen Küste, so weit wie kein anderer, steht er einsam und stolz in den Fluten des Atlantiks, auf einem schmalen Felsen, der nur bei Ebbe aus dem Wasser ragt. Und auch dieses Buch und sein Autor sind legendär: 1959 heuert der Schriftsteller Jean-Pierre Abraham auf Ar-Men als Wärter an und bleibt mit wenigen Unterbrechungen bis 1962 auf seinem Posten in der »Hölle der Höllen«, wie der Leuchtturm unter Seeleuten genannt wird. Die Aufzeichnungen, die er dabei niederschreibt, erscheinen 1967 als Buch, das Buch macht ihn berühmt. In präzisen poetischen Bildern und kurzen, dichten Sätzen beschreibt es den Alltag unter Extrembedingungen, das Entzünden und Löschen des Feuers, das Warten der Maschinen, das Streichen der Wände, die kleinsten Verrichtungen, die nötig sind, um den Turm gegen das Wüten des Meeres zu verteidigen. Es erzählt aber auch von der Einsamkeit inmitten der großen Leere, den Abenteuern der Selbsterforschung, den inneren Abgründen wie der Schönheit des Augenblicks. Es zeigt den Menschen im Ringen mit sich und der Natur, im Tosen und Toben der Elemente und im Erschrecken über die Stille, wenn der Sturm sich legt.

1936 in Nantes geboren, studierte Literatur an der Sorbonne und debütierte als Autor, ehe er als Leuchtturmwärter anheuerte. Er blieb dem Meer und der Bretagne als Schriftsteller und Journalist bis zu seinem Tod 2003 tief verbunden. Seine Asche wurde im Archipel Glénan verstreut.
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25. Dezember, 4 Uhr


Martin hatte in der Küche sämtliche Reservelampen angezündet. Er hatte ein Laken über den alten Tisch gebreitet, das gesamte Geschirr hervorgekramt. Er machte sich mit ernster Miene und Bedacht zu schaffen. Das Ohr dicht am Funkgerät, bekamen wir Bruchstücke der Weihnachtsmette aus der Kathedrale von Monaco zu hören. Orgelklänge. Eine Stimme: »Ihr Seeungeheuer und Tiefen der Meere, Feuer, Hagel, Schnee, Nebel, / du Sturmwind, der sein Wort vollzieht, / All ihr Berge und Hügel, Bäume, Zedern; / Ihr wilden Tiere und alles Vieh, / Kriechend Gewürm und gefiederte Vögel!, Lobet ihn …«

Bei Tisch gingen wir betont höflich miteinander um. Martin war es gelungen, ein Omelett, Pommes frites und einen süßlichen Reiskuchen zu fabrizieren. Und da ein Rest Rum blieb, versuchten wir zum Abschluss einen Pflaumentee zu kochen, wie es auf der Insel der Brauch ist. Er schmeckte nach Schwefel. Wir fühlten uns wohl. Nach dem endgültigen Verstummen des Radios griff ich zu meiner Mundharmonika und setzte das Programm fort. Gab die alten Melodien zum Besten. Martin bat mich mehrmals, das eine Seemannslied zu spielen … Während er mir zuhörte, nahm sein Gesicht seltsame Züge an.

Wir vertrauten einander, wozu also viel reden? Wohl umgab uns allerlei Lichterglanz und eine schwache Wärme, die wir möglichst lange im Raum hielten. Doch über Vertraulichkeiten sind wir beide hinaus. Es genügt, sich dies einzugestehen, um sich auf bloße Andeutung hin zu verständigen.

Martin ist zu Bett gegangen und ich in den Dienstraum, um diesem Morgen entgegenzusehen. Soeben wurde eine Flagge des Nebelhorns von einer Sturzwelle fortgerissen.

Ich bin ganz ruhig. Für den Augenblick herrscht Waffenruhe. Die Schimmer sind in ihrer jetzigen Form wahrhaft unschuldig, von aufrichtiger Tiefe. Noch einmal empfinde ich die Gnade dieser Nacht. Ich habe das Buch über das Zisterzienserkloster heraufgebracht, beschreite das steinerne Gemäuer nun mit neuer Gelassenheit. Jahrelang sind da Menschen im Kreis gewandelt, treppauf, treppab, vom Schlafsaal zur Kirche, von der Kirche zum Kreuzgang, vom Kreuzgang in den Kapitelsaal, fern jedes vernünftigen Lebens. Wie Vieh. Zuletzt mussten sie auf ihren Wegen die geringste Veränderung der Luft, das zarteste Flackern auf den Mauern hingenommen haben, als wäre nichts gewesen.

Mich dünkt, ich hatte einst alle Voraussetzungen, die simple Zuversicht dieser Mönche zu erlangen. Was habe ich daraus gemacht? Ich bin mir sicher, dass sie dank ihrer Art, ungestalte Steine aneinanderzufügen, um darin das Licht einzufangen, es darin kreisen zu lassen, Gott schauten: sie zwangen ihn, seine Größe und Unergründlichkeit, sein unvermitteltes Antlitz zu offenbaren. Ihr Glaube war ohne Zuckerguss. Im Morgengrauen triumphierte der klare Geist.

Und ich? Ich werde bei Anbruch des Tages noch zu müde sein, irgendetwas zu schauen; die Lider werden schwer sein, der Geschmack im Mund bitter. Meist ist am frühen Morgen alles verloren.

13. Januar


»Du bist verrückt«, sagt Martin, »du bist erbärmlich. Ich habe dich satt.« Wir haben einigen Krach, weil ich beschlossen habe, nach dieser Dreiwochenschicht auf den Landgang zu verzichten. Die Idee kam mir heute morgen bei der Überfahrt, als ich Ar-Men am Horizont größer werden sah. Martin und ich kehrten zusammen zum Leuchtturm zurück. Mit fahler Miene, nachdem wir am Vorabend, es war unser erster gemeinsamer Landurlaub, der Charmeoffensive der Inselbewohner erlegen waren. »Die Wärter von Ar-Men auf Kneipentour! Setzt euch her, Jungs, trinken wir einen!« Da konnte man schwerlich ablehnen. Bei Tagesanbruch lagen sie dann hinter uns auf dem Boden.

Ich gehe erst in frühestens fünfzig Tagen wieder an Land: Ich verbringe einfach auch die zehn Urlaubstage zwischen den beiden Dreiwochenschichten hier draußen.

»Und ich habe genug von deinen ewigen Launen«, sagt Martin. Bin ich launisch? Er doch auch. Weshalb diese plötzliche Heftigkeit? Ich habe erklärt: »An Land wartet niemand auf mich.« Auch auf ihn wartet da keiner.

14. Januar


Es herrscht bittere Kälte. Der Wind kommt aus Nordost. Die See ist ruhig. Nur das Sirren des Feuers, draußen zeitweilig das Gekreische von Vögeln. Am Horizont der rötliche Schein der übrigen Leuchtfeuer. Zweifellos lässt der Nebel nicht mehr allzu lang auf sich warten.

Das alles ist lächerlich, im Grunde weiß ich mit mir nichts anzufangen. Wollte man fünfzig Tage durchhalten, müsste man sich an irgendeine ernsthafte Studie machen. Ich hätte mir Bücher mitnehmen sollen. Der Entschluss fiel gestern etwas vorschnell. Man hüte sich eben vor Katzenjammer. Selbst schuld.

Was mich an der Sache dennoch reizt, weiß ich genau: Man tut einfach nichts, überlässt sich unverwandten Blickes, ganz unverhohlen dem Sog der Kräfte. Nicht zum ersten Mal wiege ich mich in solch edlem Vorhaben.

»Vom Leben werden wir hier draußen nichts gehabt haben«, meinte Martin, wieder besänftigt, zu mir. Ich kenne sein Haus, war einmal dort. Er ist auf dem Festland nahe der Pointe du Raz geboren, teilt mit Mutter und Schwester seit eh und je ein schmales Gebäude, in dem schöne alte Möbelstücke glänzen. Ringsum kahle Felder, erste Dünen und ein Horizont, der das Meer ankündet. Auch dort wüten die uns wohlbekannten Seestürme, acht Monate im Jahr. Gut möglich, dass sie auf der verbrauchten Erde noch schauriger sind. Martin dürfte sich da wohlfühlen, ich stelle mir das wenigstens so vor. Ich habe die Bekanntschaft seiner Mutter gemacht, einer kleinen, sehr gebrechlichen Frau; sie hat mir ein wenig über ihn erzählt. Er besitzt einen riesigen schwarzen Hund, den er stundenlang durch die Heide treibt. So er nicht gerade einen Flecken seines Gartens umgräbt, trist wie ein Moor. Mitunter bringt er selbstgezogene Kartoffeln, einen Hasen oder ein Huhn mit auf den Leuchtturm: Zeugenschaft einer anderen Existenz, allem zum Trotz.

15. Januar


Wie heißt doch eben jener Mönch, dessen Geschichte ich vor langer Zeit gelesen habe? Sie stand in die Mauern einer Kapelle gehauen, in groben, unbeholfenen Lettern. Ich glaube, er kam aus Irland und war in einem »steinernen Trog in See gestochen«.

Gerne würde ich wieder einmal alleine lossegeln, zwischen den Inseln Houat, Hoëdic kreuzen und in den kleinen kristallklaren Buchten mitten unter den Vögeln ankern! Abermals jenen Augenblick im Morgengrauen erleben, da man das Boot klarmacht, der Anker gelichtet ist, es gilt, blitzschnell ans Heck zu eilen und das Steuer zu ergreifen, jenen kurzen Moment, wo das losgemachte, noch ungesteuerte Schiff auf der Stelle tanzt, seinen Kurs sucht und alle Segel schlagen.

Nicht die See ist da von Belang, sondern der Raum, der sie zu seinem Spielball macht, und was man an Bord eines winzigen Seglers so zu sehen bekommt.

Ganz besonders liebte ich die Rückfahrt. Ich gehöre nicht zu jenen, die unbeirrt hinaussegeln, um dem Meer ihre Verbitterung aufzuzwingen.

Mich erfüllen eher vorsichtige Vorstellungen.

16. Januar


Der Wind aus Nord ist ziemlich stark, die See kaum bewegt. Die Leuchttürme von Ouessant sind nicht zu sehen. Die Luft im Treppenhaus ist klirrend kalt, schneidend. Die eisige Atmosphäre verschafft mir Klarheit. Ich wurde für eine schlichte, kühle, obschon von täglichem Ungemach keineswegs verschonte Welt geschaffen. Ich möchte jetzt mit großem Bedacht vorgehen, nicht auf ein beliebiges Wort setzen. Wäre dies denn die Wüste, den Schritt dämpfen, alle Ungeduld im Keim ersticken …

Im Lichtkreis der Lampe: die Wüste in all ihrer Leidenschaftlichkeit, Bescheidenheit, Widerwärtigkeit. Ich sage mir: Ich war einem sehr alten Brandmal auf der Spur. Den Satz verstehe ich selbst kaum.

Bei Zündung des Leuchtfeuers blinkte im düsteren Nordosten, in langen Intervallen, noch ein winziger Punkt: der Leuchtturm von Saint-Matthieu. Nun ist er verschwunden. Selbst das Signallicht der Bouée Occidentale ist nicht mehr klar zu erkennen.

Das Aufkommen dieser behäbigen, sonderbaren Dünung samt dem dumpfen Grollen, das die Stille zwischen den Wogen trübt: Immer wieder sah ich dieses Phänomen dem Nebel auf geheimnisvolle Weise vorangehen. Und wie jedes Mal brennen mir die Augen.

Ich kenne ihn genau. Schon als Kind konnte ich sein Kommen lange voraussehen. Ich nahm gleichsam eine Abnützung der Luft wahr. So kam es, dass mich gerade dann, wenn alle Welt wegen der besonders leuchtenden Landschaften in Verzückung geriet, vor dem Grau schauderte, das ich dahinter erahnte. Ich hatte tiefe Achtung vor den in der Gegenströmung, den matten Farben erkennbaren Vorboten. Im Grunde verließ mich selten der Mut.

Auch bestimmte Gemälde von Vermeer mochte ich gerade darum, weil ich den Nebel an den Fenstern förmlich fühlte, diesen vom Sonnenlicht durchweichten, von den Scheiben gerade...


Abraham, Jean-Pierre
1936 in Nantes geboren, studierte Literatur an der Sorbonne und debütierte als Autor, ehe er als Leuchtturmwärter anheuerte. Er blieb dem Meer und der Bretagne als Schriftsteller und Journalist bis zu seinem Tod 2003 tief verbunden. Seine Asche wurde im Archipel Glénan verstreut.

Waldinger, Ingeborg
1956 in der Steiermark geboren, studierte Romanistik und Germanistik und lebt als Journalistin und Übersetzerin in Wien.

1936 in Nantes geboren, studierte Literatur an der Sorbonne und debütierte als Autor, ehe er als Leuchtturmwärter anheuerte. Er blieb dem Meer und der Bretagne als Schriftsteller und Journalist bis zu seinem Tod 2003 tief verbunden. Seine Asche wurde im Archipel Glénan verstreut.



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