E-Book, Deutsch, 408 Seiten
Abedi Die längste Nacht
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-401-80466-8
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 408 Seiten
ISBN: 978-3-401-80466-8
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Unser Abiball fand im Sankt-Pauli-Stadion statt; auf der VIPEtage, einem riesigen Saal mit Blick auf das Spielfeld. Trixie war im Festkomitee gewesen und hatte wegen der hohen Eintrittskosten im Vorfeld einen wahren Shitstorm über sich ergehen lassen müssen. Auch Danilo hatte die Location elitär und die Kosten übertrieben gefunden, aber inzwischen waren alle hellauf begeistert. Der Saal war festlich geschmückt, mit weißen Decken, Lüstern und Silberbesteck auf den langen Tischen, einem gigantischen Büfett und unzähligen kleinen Lichtern an den Decken. Es herrschte eine glamouröse, glitzernde Stimmung und jetzt, wo die offiziellen Reden hinter uns lagen und das Büfett abgegrast war, schwirrte Trixie mit einem Caipi in der einen und einer Flasche Sekt in der anderen Hand über die Tanzfläche. Sie trug ein kurzes knallrotes Flatterkleid und dazu ihre Krümelmonster-Handtasche aus türkisem Plüsch, die ich ihr vor ein paar Jahren zum Geburtstag genäht hatte. Ihre Schuhe lagen am Rand der Tanzfläche und Trixies braune Locken hatten sich längst aus ihrem Gefängnis aus Klammern und Spangen gelöst. Sie fielen ihr wild über die Schultern und ihr Gesicht glühte wie eine Hundertwattbirne kurz vor dem Durchknallen. Trixie war dauerhigh und brauchte dafür nicht mal Drogen. Manchmal fragte ich mich, wie der gelassene Danilo es mit ihr aushielt, aber wahrscheinlich zog ihn genau diese Gegensätzlichkeit an, und Trixie hatte auch eine andere Seite. Sie war der solidarischste Mensch, den ich kannte, konnte ein echter Kumpel sein, und sie und Danilo waren für mich die vollkommene Mischung.
Auf der Tanzfläche heizten zwei junge DJs die Stimmung auf. Der obligatorische erste Tanz galt den Vätern und Töchtern. Auch mein Vater hatte mich an der Hand zur Tanzfläche geführt. Ich hatte ihn noch nie tanzen sehen und war erstaunt, wie geschmeidig er sich bewegte. Es fühlte sich gut an, in seinen Armen zu sein, er strahlte Wärme aus und eine große Zärtlichkeit, die ich so noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Irgendetwas in ihm schien mich fester halten und nicht mehr loslassen zu wollen. Ich schloss die Augen und für einen Moment war ich sein kleines Mädchen; sicher, beschützt und geborgen.
»Schön siehst du aus«, flüsterte er mir ins Ohr. »Und dein Kleid ist einfach unglaublich. Ich habe nicht gewusst, dass meine Tochter eine Künstlerin ist.«
Mein Vater war sparsam mit Komplimenten, er sagte nie etwas, das er nicht meinte, und das machte mich umso stolzer. Nähen war meine große Leidenschaft, schon in der Grundschule hatte ich meine erste Nähmaschine gehabt, als einziges Kind unter Erwachsenen Schneiderhandwerkskurse besucht, und die Bücher in meinem Regal enthielten keine Geschichten, sondern Schnittkonstruktionen, Anleitungen und Techniken der Kostümbildnerei.
Mein Kleid hatte ich selbst entworfen. Es war aus Taft, graublau wie meine Augen, im Rücken geschnürt, ärmellos und mit winzigen Silberpailletten, die ich in stundenlanger Handarbeit auf den unterfütterten Rock genäht hatte. Der Saum ging mir bis zu den Knien, für meine 159 cm Körpergröße die perfekte Länge. Trixie nannte mich scherzhaft den laufenden Meter, und mein Exfreund Chris hatte mich gern damit aufgezogen, dass ich in der Kinderabteilung einkaufen gehen konnte.
Er war es jetzt, der meinen Vater beim Tanzen ablöste. Chris und ich hatten am Anfang des Jahres etwas miteinander gehabt, aber es hatte nicht wirklich funktioniert. Außer, dass es Spaß machte, Sex mit Chris zu haben, teilten wir kaum etwas, und dass ich nicht in ihn verliebt war, merkte ich vor allem daran, dass ich keine Nacht bei ihm verbringen wollte, ganz egal wie sehr Chris mich bat zu bleiben. Genervt von seiner immer größer werdenden Anhänglichkeit hatte ich irgendwann Schluss gemacht. Er war verletzt gewesen, aber locker ließ er trotzdem nicht. Mehrfach versuchte er, wieder bei mir zu landen, mit dem Effekt, dass ich immer gereizter wurde und gleichzeitig ein schlechtes Gewissen bekam – ein Zwiespalt, der sich sofort wieder einstellte, als Chris’ Finger jetzt über meinen Rücken nach oben wanderten und zögernd meine Haare berührten.
Vor ein paar Tagen war ich noch einmal beim Friseur gewesen. Meine natürliche Haarfarbe war Blond, aber ich fand, sie passte nicht zu mir, weshalb ich mich in verschiedenen Etappen von einem hellen Braun zu Schokoladenfarben und schließlich zu Hennarot durchgearbeitet hatte – Trixies Warnungen, ich würde mir die Haare ruinieren, zum Trotz.
Chris beugte sich zu mir herunter. »Fahr nicht«, hörte ich seine raue Stimme an meinem Ohr. »Lass uns Zeit miteinander verbringen. Gib uns noch eine Chance, Vita.«
Er legte seinen Finger unter mein Kinn, damit ich den Kopf hob, aber ich entzog mich. Ich wollte nicht, dass Chris mir ansah, wie sehr es mich wegdrängte. Nicht nur von ihm, sondern auch aus Hamburg, aus meinem Leben und meinem Elternhaus, in dem aus allen Winkeln diese stumme Trauer kroch und jegliche Form von Lebendigkeit im Keim erstickte. Mein Vater schien imstande, die Trauer abzuschütteln, wenn er das Haus verließ. Jedes Mal, wenn ich ihn morgens mit seinem schwarzen BMW aus der Garage fahren sah, kam er mir vor, als wäre er auf der Flucht. In der letzten Zeit war es besonders auffällig gewesen, wie stark er unser Zuhause mied. Sein müdes Gesicht wirkte noch ausgezehrter als sonst, doch auf meine Nachfrage, was ihm Sorgen machte, bekam ich eine deutliche Antwort: »Nichts, worüber ich sprechen möchte. Tu mir den Gefallen, und lass es gut sein.«
Dinge gut sein zu lassen, auch wenn sie alles andere als gut waren, darin hatte mich jahrelange Übung zur Meisterin gemacht. In dieser Hinsicht waren mir meine Eltern das beste Vorbild gewesen.
Ich bat Chris, uns einen Gin Tonic zu holen, und lehnte mich an den Pfeiler, erleichtert, für einen Moment allein mit mir und meinen Gedanken zu sein.
Mein Vater unterhielt sich gerade mit Trixies Eltern. Er sah gut aus in seinem dunklen Anzug, und dass er älter als die meisten Väter war, merkte man ihm nicht an. Seine sechzig Jahre standen ihm und er machte aus der Ferne betrachtet einen lässigen, unbeschwerten Eindruck. Empfänge und öffentliche Veranstaltungen war er gewohnt, und er wirkte im Kreis von anderen immer gelöster als zu Hause.
Er nickte und lachte über etwas, das Trixies Mutter ihm ins Ohr sagte, während meine Mutter allein an der Bar saß und sich an ihrem Mineralwasser festhielt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt mitkommen würde, aber im Grunde war sie auch nicht wirklich hier. Ihre Augen verloren sich in den Lichtern über der Tanzfläche. Sie schien wie immer in eine andere Welt, in eine andere Wirklichkeit zu blicken, und ich wusste, dass in dieser Wirklichkeit meine Schwester lebte.
Ich war noch klein gewesen, als Livia starb, vier Jahre alt. Meine Schwester war siebzehn gewesen. Sie hatte einen Autounfall gehabt, ein Freund hatte am Steuer gesessen, der Wagen war gegen eine Leitplane geprallt, das war so ziemlich alles, was ich wusste. Erinnerungen an die Zeit mit Livia hatte ich keine mehr, dafür jede Menge Fragen.
Wie hatte meine Schwester ausgesehen? Was hatte sie gerne gegessen? Welche Musik hatte sie am liebsten gehört? Was waren ihre Hobbys gewesen? Mochte sie Bücher? Was für einen Charakter hatte sie gehabt? Sah ich ihr ähnlich? Hatte sie mit mir gespielt? Hatte ich sie geliebt? Hatte sie mich geliebt? Und vor allem: Hatten meine Eltern sie geliebt? Denn wenn ja: Warum gab es dann nicht das kleinste Andenken an sie? Warum hatten wir nicht mal ein Foto, warum gab es nicht mal ein Grab?
Wann mir diese Fragen zum ersten Mal in den Kopf gekommen waren, weiß ich nicht mehr. Angefangen, sie zu stellen, hatte ich erst mit zwölf oder dreizehn. Aber sie waren an meinen Eltern abgeprallt wie Dartpfeile an einer Betonmauer. Selbst mein Vater hatte sich bei diesem Thema bis auf wenige Ausnahmen rigoros gesperrt.
»Deine Schwester Livia war ein wunderbarer Mensch. Sie hat dich geliebt, und wir haben sie geliebt. Nach ihrem Tod sind wir umgezogen, damit wir irgendwie ein neues Leben anfangen konnten. Und das muss reichen, Vita.«
Es reichte mir nicht mal im Ansatz, aber mir war klar, dass ich mich damit abfinden musste, und wenn ich meine Großeltern fragte, erhielt ich zur Antwort: »Das ist die Angelegenheit deiner Eltern, da mischen wir uns nicht ein.«
Ich war mir irgendwie immer sicher gewesen, dass es meine Mutter war, um derentwillen mein Vater das Tabu aufrechterhielt, und als ich sie an diesem Abend ansah, war sie mir fremder als je zuvor. Mit ihren sechsundfünfzig Jahren zählte auch sie zu den älteren Müttern. Sie war neununddreißig gewesen, als ich zur Welt kam, und ich konnte mir vorstellen, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Auf dem Hochzeitsporträt meiner Eltern, das ich in einer Schublade meines Vaters gefunden hatte, war sie jedenfalls eine strahlende, unfassbar junge Braut. Jetzt war es weniger das Alter als das Unglück, das sie zeichnete. Ihre blasse Haut wirkte transparent, als könne man durch sie hindurchsehen, aber ihre eingefrorenen Gesichtszüge ließen es nicht zu, und an diesem Abend war sie maskenhafter denn je. Kerzengerade saß sie auf dem Barhocker, ihre schmalen Schultern waren...