Abbott | Aus der Balance | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Reihe: Pulp Master

Abbott Aus der Balance


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-946582-19-9
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Reihe: Pulp Master

ISBN: 978-3-946582-19-9
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dara hat ihr Leben im Schatten ihrer glamourösen Mutter verbracht. Zusammen mit ihrer Schwester Marie und ihrem Ehemann Charlie - dem ehemaligen Starschüler ihrer Mutter - leitet Dara jetzt die Ballettschule, die ihre Mutter einst gründete. So kultiviert ihre geschlossene Welt auch sein mag, ist sie doch auch geprägt von rücksichtslosem Ehrgeiz und einem intensiven Wettbewerb, den die Schwestern zwischen ihren Elevinnen und Eleven befördern. Als nach einem Brand ein Bauunternehmer in ihr Leben tritt, um die Sanierung vorzunehmen, überwindet er die sorgsam bewachten Grenzen dieser Welt und setzt eine Kettenreaktion aus Verlangen, Verführung und Verrat in Gang. Mit allen Mitteln des Schauerromans beschwört Megan Abbott die Atmosphäre eines Unheils in Rosé - Neid und Eifersucht, sexuelles Verlangen und Erniedrigung - und entwickelt eine Geschichte verhängnisvoller Familienbande und des psychosozialen Netzes aus Macht und Weiblichkeit dahinter.

Die 1971 in Detroit geborene Abbott studierte an der University of Michigan, promovierte an der New York University in anglo-amerikanischer Literatur und lehrte sowohl an der State University of New York als auch an der New School University. Abbott ist Autorin von nunmehr zehn Romanen; ihre Texte erschienen in der New York Times, im Guardian, im Wall Street Journal und im Los Angeles Times Magazine. Sie wurde für zahlreiche Preise nominiert.

Abbott Aus der Balance jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I
Wir drei

Sie tanzten. Fast ihr ganzes Leben lang. Sie tanzten, sie unterrichteten Tanz, und sie unterrichteten gut, wie es vor ihnen auch schon ihre Mutter getan hatte.
»Jedes Mädchen möchte Ballerina werden ...«
Das stand in ihrer Broschüre, auf ihren Postern, auf ihrer Webseite; der Satz rollte in eleganter Schreibschrift über den Bildschirm. Die Ballettschule Durant, gegründet 1986 von ihrer Mutter, einer ehemaligen Solistin des Alberta Ballet, nahm die oberen beiden Stockwerke eines gedrungenen, rostfarbenen Ziegelbaus im Stadtzentrum ein. Das Ge­bäude gehörte ihnen, seit ihre Eltern in einer Blitzeis-Nacht vor über zehn Jahren ums Leben gekommen wa­ren, als ihr Auto über den Mittelstreifen des Highway ge­schleudert war. Als ein ambitionierter Lokalreporter er­fuhr, dass es ihr zwanzigster Hochzeitstag gewesen war, schrieb er einen Artikel über sie und behauptete, sie hätten sich selbst im Tod noch an den Händen gehalten.
Hat einer von ihnen in diesen letzten Momenten die Hand nach dem anderen ausgestreckt, fragte der Reporter sich und seine Leserschaft, oder haben sie sich schon vorher an den Händen gehalten?
Nach all diesen Jahren hatte die wie eine Sage weitergetragene Geschichte vom Tod der Eltern für die Schülerinnen noch immer etwas unsagbar Romantisches – weniger für Marie, die, nachdem sie während der Beerdigung ne­ben ihrer Schwester Dara heftig geschluchzt hatte, be­harrlich behauptete: Ich habe sie nicht ein einziges Mal Händchen halten sehen.
***
Doch die Familie Durant hatte immer exotisch auf andere gewirkt, selbst damals, als Dara und Marie noch kleine Mädchen waren, die die Vortreppe dieses großen, alten Hauses mit den wegfaulenden Holzornamenten auf der Sycamore auf- und abschwebten, des Hauses, das alle das  Pfefferkuchenhaus nannten. Dara und Marie mit ihren langen Hälsen und den leisen Stimmen. Beide mit dem gleichen Haarknoten und dem entenhaften Gang, in kratzige Wintermäntel gehüllt, ihre rosa Strumpfhosen Farbtupfer im Schnee. Selbst ihre Namen stellten sie heraus: Sie klangen elegant und europäisch, obwohl ihr Vater Elektriker und Wohnzimmertrinker und ihre Mutter mit Mayonnaisesandwiches zu jeder Mahlzeit aufgewachsen war, wie sie ihren Töchtern immer mit wehmütigem Kopf­schütteln erzählte. Vom Kindergarten bis in die fünfte oder sechste Klasse waren Dara und Marie auf eine gruslige, alte katholische Schule auf der East Side gegangen, worauf ihr Vater be­standen hatte. Bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter verkündete, ab sofort werde sie sie zu Hause unterrichten, damit sie nicht die primitiven Lebensauffassungen der Schule verinnerlichten. Anfangs sperrte sich ihr Vater dagegen, doch dann kam er sie eines Tages vor der Schule abholen und sah einen Jungen – den gemeinsten aus der fünften Klasse mit einem Muttermal wie eine frische Verbrennung über dem linken Auge —, wie er versuchte, Marie die Hose herunterzuziehen, lila Cordsamt, passend zu Daras rosafarbenem. Marie stand einfach da, starrte ihn an, be­rühr­te ihre Stirn mit den Fingern, als wäre sie verwirrt, fasziniert. Ihr Vater scherte so schnell aus, dass sein Buick auf Bordstein und Gras zum Stehen kam. Alle sahen es. Er packte den kleinen Jungen am Hosen­boden und schüttelte ihn, bis die Nonnen herbeigeeilt kamen. Was für eine Schuleführen Sie hier eigentlich?, be­schwerte er sich. Auf der Fahrt nach Hause verkündete Marie laut, es habe ihr überhaupt nichts ausgemacht, was der Junge gemacht habe.
Davon hat mein Bauch gekribbelt, sagte sie dann auf dem Rücksitz wesentlich leiser zu Dara. Ihr Vater sprach tagelang nicht mit Marie. Er rief die Rektorin an und wetterte so laut, dass sie ihn oben in ihrem Stockbett hören konnten. Maries Gesicht glänzte im Mondlicht von Tränen. Marie und ihr Vater waren Dara beide ein Rätsel. Ein Rätsel und irgendwie gleich. Primitiv, nannte ihre Mutter sie insgeheim. Sie gingen nie wieder hin.
Zu Hause war der Unterricht jeden Tag anders. Man wuss­te nie, was drankam. An manchen Vormittagen holten sie den riesengroßen Globus aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters, Dara und Marie drehten ihn und ihre Mutter erzählte ihnen dann etwas über das Land, auf dem ihr Finger landete. (Singapur ist das sauberste Land der Welt. Die Strafe für Vandalismus sind Stockhiebe.) Manchmal musste sie im Arbeitszimmer etwas in dem stockfleckigen Lexikon nachschlagen, dessen Einband vom Alter weich ge­wor­den war. Oft schien es, als erfände sie Sachen (In Frankreich gibt es zwei Sorten von Toiletten ...), und sie lachten darüber, alle drei, es waren Witze, die nur ihnen ge­hör­ten.
Wir sind drei, pflegte ihre Mutter zu sagen. (Sie waren drei, und dann irgendwann vier, aber das war, bevor Charlie kam und vor allem anderen.) Aber hauptsächlich ging es den ganzen Tag – jeden Tag – ums Ballett. Ihr Vater war wegen der Arbeit so oft und so lange weg. In diesem Umspannwerk oder auf jenem Flugplatz, machte Sachen mit Glasfaser – keine von ihnen wusste es so genau. Wenn er nicht da war, trugen sie den ganzen Tag Ballettanzüge und tanzten Stunde um Stunde im Übungsraum, über den Flur im ersten Stock, im von Gestrüpp überwucherten Hinterhof. Sie tanzten den ganzen Tag, bis ihre Füße glühten, kribbelten, taub wurden. Es war egal. So erinnerte sich Dara jetzt daran.
Hauskatzen. So nannte ihre Mutter sie immer, was lustig war, wenn man darüber nachdachte, denn ihre Mutter war diejenige, die sie bei sich zu Hause behielt. Nicht eine einzige Übernachtung bei Freundinnen, kein Campingausflug, keine Geburtstagsfeier einer Nachbarin, ihre ganze Kindheit lang nicht. Sie sorgten selbst für ihren Spaß. An einem Valentinstag schnitten sie gemeinsam Karten aus verblasstem Tonpapier aus, und ihre Mutter erteilte ihnen eine Unterrichtsstunde über die Liebe. Sie sprach über all die verschiedenen Arten der Liebe und wie sie sich veränderte und drehte und dass man sie nicht aufhalten konnte. Liebe ändere sich immer für einen.
Ich bin verliebt, sagte Marie, wie immer, und meinte damit den Jungen aus der Fünften mit dem Muttermal, der ihr die Hose heruntergezogen und der sich einmal unter ihrem Pult versteckt und versucht hatte, ihr einen Stift zwischen die Beine zu stecken.
Das ist keine Liebe, sagte ihre Mutter und streichelte Maries babyweiche Haare, strich mit der Handfläche über Maries ewig rosige Wangen. Dann erzählte sie ihnen ihre Lieblingsgeschichte, die von der berühmten Ballerina namens Marie Taglioni, deren Anhängerschaft ihr derart ergeben war, dass sie zweihundert Rubel – seinerzeit ein Vermögen – für ein Paar ihrer ausrangierten Spitzenschuhe bezahlte. Nach dem Erwerb kochten sie die Spitzenschuhe, richteten sie an und aßen sie mit einer besonderen Soße.
Das, erklärte ihnen ihre Mutter, ist Liebe.
Jetzt, mehr als zwei Jahrzehnte später, gehörte die Ballettschule Durant ihnen. Den ganzen Tag, sechs Tage die Woche in den letzten über zehn Jahren unterrichteten Dara und Marie in den beengten, heimeligen Räumen desselben aschgrauen Gebäudes, in dem einst ihre Mutter regiert hatte. Feuchtheiß und mit stechendem Geruch im Sommer und eisig, mit vom Schnee getrübten Fenstern im Winter, blieb das Studio immer gleich und verfiel langsam, aber stetig. Oftmals schimmelte es, und nächtlicher Regen bildete an der Decke nässende Blasen in allen Ecken, aus denen es den Schülerinnen und Schülern auf die Nasen tropfte. Doch das spielte keine Rolle, denn die Schülerschar kam immer. Über hundert Mädchen und ein paar Jungen, von drei bis fünfzehn Jahren, Ballett-Einführung I bis Fortgeschrittene IV. Und eine Warteliste für den Rest. In den vergangenen sechs Jahren hatten sie vierzehn Mädchen und drei Jungen auf erstklassige Ballettschulen weitergeschickt und sechsunddreißig auf wichtige Wettbewerbe vorbereitet. Jeden Sommer stellten sie zwei zusätzliche Lehrkräfte ein, für die Wochenenden sogar drei, aber während des Schuljahrs waren es nur Dara und Marie. Und natürlich Charlie: einst der Vorzeigeschüler ihrer Mutter, ihr Sohn-Ersatz, ihr Seelensohn. Und jetzt Daras Ehemann. Charlie, der wegen seiner Verletzungen keinen Unterricht mehr geben konnte, der aber vom Büro aus die Ge­schäfte führte. Charlie, in den so viele...


Die 1971 in Detroit geborene Abbott studierte an der University of Michigan, promovierte an der New York University in anglo-amerikanischer Literatur und lehrte sowohl an der State University of New York als auch an der New School University.

Abbott ist Autorin von nunmehr zehn Romanen; ihre Texte erschienen in der New York Times, im Guardian, im Wall Street Journal und im Los Angeles Times Magazine. Sie wurde für zahlreiche Preise nominiert.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.