My unfair Lady
E-Book, Deutsch, 279 Seiten
ISBN: 978-3-95461-116-4
Verlag: Lektora GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zu den Dingen, die Luise nie mit Alkohol machte, zählten: den Rausch bereuen und Wunden desinfizieren.
Zwei Partygirls entdecken in der U-Bahn den König aller Spießer, wetten, ob sie es schaffen, ihn aus dem Nadelstreifenanzug zu kriegen – und in einen Diskodress. Doch Ian Günter möchte viel lieber seine Möbel mit dem Geodreieck ausrichten und den Spatzen dabei zuschauen, wie sie sich vor Langeweile von der Regenrinne fallen lassen.
Es sind mindestens ein Einbruch, ein nackter Dudelsackspieler, eine Dusche in Lackfarbe, ein Hund in Polizeiuniform, der Mount Everest aus Sahne und eine sturzbetrunkene, sprechende Fliege notwendig, um das zu einem Happy End zu führen.
Nach seinem Spiegel-Bestseller „Hinfallen ist wie Anlehnen, nur später“ legt Poetry Slammer Sebastian 23 mit „Die Sonnenseite des Schneemanns“ nun eine moderne Liebesgeschichte vor, einfühlsam und dabei wie immer gewohnt skurril-humorvoll erzählt.
Autoren/Hrsg.
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1.Der Himmel unter Berlin
Um exakt sechs Uhr morgens passierte etwas direkt neben seinem Kopf. Eine kalt glänzende Zylinderfeder drehte sich gerade so weit, dass ein winziger Metallstift in die Kerbe einer Krone rutschte und eine Blattfeder nach oben schob. Auf diese Weise kam der Klöppel frei und schlug wie ein Berserker auf zwei kleine Glocken ein. Um nicht zu sagen: Ein Wecker klingelte. Ruckartig schreckte Ian Günter aus seinem Schlaf hoch und mit derselben Handbewegung wie jeden Morgen schaltete er den Wecker aus, der sich sofort wieder beruhigte. Sieben Stunden Schlaf, so hatte Ian gelesen, sind ein guter Durchschnittswert für einen Erwachsenen. Also schlief er fortan immer sieben Stunden, jede Nacht. Außer heute. Heute waren es nicht mal drei geworden. Am Vorabend war das Finale der Dartweltmeisterschaft übertragen worden und Ian hatte sich mithilfe eines Energydrinks in neonheller Dose bis ganz zum Schluss um kurz nach Mitternacht wachhalten können. Bis dahin war er aber so voller Zucker, Koffein und Adrenalin, dass er danach noch stundenlang wach lag und in seinem Bett steckte wie ein Pfeil in der Wand neben der Dartscheibe. Jetzt war es plötzlich schon Morgen, behauptete der Wecker zumindest. Vor dem Fenster hing ganz reguläres Wetter für diese Jahreszeit, in einer für diesen Stadtteil Berlins derart normalen Straße, dass die Spatzen vor Langeweile scharenweise von den Regenrinnen fielen. Ian streckte sich unter der Bettdecke ein letztes Mal, bis er die Form seines Anfangsbuchstabens erreicht hatte. Das »I« in seinem Vornamen wurde allerdings wie ein »J« gesprochen und dieses »J« war der Haken an der Sache. Ian hatte nie den Moment gefunden, seine Mutter zu fragen, warum man ihn nicht gleich Jan genannt hat. Es war fast, als hätten seine Namensgeber gewollt, dass er sich sein Leben lang für seinen seltsamen Namen rechtfertigen musste. Ian schüttelte den Gedanken ab und gähnte, wobei er sich die Hand vor den Mund hielt, obwohl er alleine lebte. Sein Gesicht war glatt wie frisch rasiert; er war die Sorte Mann, die drei Wochen brauchte, um sich einen Dreitagebart wachsen zu lassen. In der Schule war er deswegen gehänselt worden, besonders von Martin Hüser aus der Parallelklasse. Der hatte sich auch gerne einen Spaß daraus gemacht, auf dem Pausenhof Ians Namen falsch auszusprechen. »Iiiiih-Aaaaan! Iiiiih-Aaaaan!«, hatte er gerufen und es wie das Geräusch eines Esels klingen lassen. Dann hatte Martin Hüser immer lauthals über seinen eigenen Witz gelacht. Und ein paar der anderen Kinder auch. Im Prinzip viele der anderen Kinder. Also im Grunde die meisten der anderen Kinder. Genauer gesagt: alle, bis auf Ian. Das war lange her. Jetzt kam es Ian eher praktisch vor, sich nicht wie sein Großvater zweimal am Tag rasieren zu müssen. Und Martin Hüser hatte er schon hundert Jahre nicht mehr gesehen. Zu den Dingen, die Ian Günter nicht mit Klassentreffen machte, zählten: Einladungen kriegen und hingehen. Ian riss sich aus seinen verschlafenen Gedanken, setzte sich auf und ließ die Füße in die Hausschuhe aus Loden gleiten. Sein eierschalenweißer Pyjama mit blauen Knöpfen saß gerade und glatt. Nur an seinem leicht verstrubbelten Kurzhaarschnitt konnte man erahnen, dass er vor einer Minute noch geschlafen hatte. Müde sah er sich um. Sein gesamtes Schlafzimmer sah aus, als habe man es für das Fotoshooting eines Möbelhauses präpariert. Alle Möbel schienen mit dem Geodreieck ausgerichtet worden zu sein, selbst die Gesamtausgabe von Kishons Kurzgeschichten lag parallel zu den Kanten des Nachttischs. Ian hatte das Buch von seinem besten Freund Mario geschenkt bekommen, der, wenn man es denn präziser sagen wollte, auch sein einziger Freund war. Gelesen hatte er darin noch nicht, obwohl Mario ihm sehr ausführlich vom speziellen Humor des Autors berichtet hatte. Aber Mario wirkte auf Ian ohnehin immer sehr begeisterungsfähig. Von sich selbst sagte Ian, dass er keine Stimmungskanone sei, sondern eher eine Stimmungskartoffel. Er stand auf, darauf achtend, den ersten Schritt mit dem rechten Fuß zu machen, und lief in die Küche. Wie jeden Tag hatte er Wasser, Filter und Kaffeepulver schon am Abend eingefüllt, so dass ein Knopfdruck reichte, um die Maschine zu starten. Bis sein Kaffee fertig wäre, würden ziemlich genau sechs Minuten vergehen. Zeit genug, seine Morgentoilette zu verrichten und in den bereithängenden Nadelstreifenanzug zu schlüpfen. Geduscht wurde jeweils schon abends, um morgens Zeit zu sparen. Beim letzten Zischen der Maschine stand er plangemäß wieder in der Küche, um sich den herb duftenden Kaffee in die schon wartende Tasse zu füllen. Zeit für das erste Lächeln des Tages. Zumindest bis er bemerkte, dass der Kaffee heute ziemlich dünn schmeckte. Die Mundwinkel rutschten vom Haken und glitten zu Boden. Ein Blick in die Tasse bestätigte seinen Verdacht: heißes, klares Wasser. Er musste gestern im Zuckerrausch das Kaffeepulver vergessen haben. Nach einem kurzen ratlosen Moment hängte Ian einen Beutel Kamillentee in die Tasse. Den mochte er eigentlich überhaupt nicht, sondern trank ihn nur, wenn er Bauchschmerzen hatte. Aber ein bisschen Strafe musste sein, befand er. Ein ungetoastetes Toastbrot mit zuckerreduzierter Himbeermarmelade später war Ian im Wirtschaftsteil der FAZ versunken. Allein das Rascheln der Seiten erfüllte den schmalen Raum, ansonsten hing Stille neben den hellblauen Gardinen und über dem schwarz gerahmten Kindheitsfoto seiner Mutter. Auch hier im Wohnzimmer war alles geometrisch angeordnet und nicht ein einziges Staubkorn zu finden. Da achtete Ian sehr genau drauf, seit er gelesen hatte, dass Hausstaub zu etwa 80 Prozent aus winzigen Hautpartikeln besteht, von denen ein Mensch pro Tag etwa zwei Gramm verliert. Menschliche Haut erneuert sich ständig und die abgestorbenen Zellen lösen sich und tanzen noch eine Weile im gelben Licht, das durch die Fenster fällt, bevor sie sich auf die Möbel und den Boden legen. Mit Feudeln, einem Handfeger und einem Kehrblech ging Ian jeden Abend gegen seine Haut vor und achtet tunlichst darauf, sich dabei nicht einzuatmen. Um 6:37 Uhr fiel ihm das Brot aus der Hand, als er gerade einen interessanten Artikel über die schrumpfenden Exportzahlen Kanadas las. Wie es die ehernen Gesetze der Gravitation und des Pechs vorschreiben, drehte sich die Marmeladenseite nach unten und landete mit einem leisen Schmatzen auf Ians linkem Hosenbein. Ian starrte einen Moment lang stumm auf das Unglück. »Toll gemacht, Ian«, murmelte er schließlich und klopfte sich sarkastisch auf die Schulter. Privat duzte er sich, auch wenn er ein bisschen sauer auf sich war. Ian legte die FAZ entgegen seinen Gewohnheiten ungefaltet in den Papiermüll und eilte ins Schlafzimmer, um den Zeitplan einzuhalten. Der Wechsel von Hose und passendem Jackett dauerte wenige Minuten, dafür wurde das Zähneputzen eingespart. Lieber als Ersatz ein Kaugummi auf dem Weg als Unpünktlichkeit, dachte Ian und merkte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Um 6:47 Uhr stieg er in seine schwarzen Lederschuhe mit den dünnen Schnürsenkeln und dem milden, rauen Geruch, den er so mochte. Zu den Dingen, die Ian Günter machte, wenn er alleine war, zählten: an seinen Schuhen riechen und sich hinterher dafür schämen. Wobei er nicht sagen konnte, vor wem. Um 6:49 Uhr schloss Ian die Tür hinter sich, vier Minuten später als geplant. Die Zinken des Schlüssels griffen trotzdem perfekt in die Zylinder des Schlosses, zwei Umdrehungen des kalten Metalls zwischen seinen Fingern und die Wohnungstür war gesichert. Er atmete noch einmal tief ein und ging dann mit eiligen, aber vorsichtigen Schritten die Treppe runter. Pro Jahr sterben in Deutschland über tausend Menschen bei Stürzen auf Treppen, hatte Ian gelesen. Das sind fast drei pro Tag. Und am unteren Ende der Treppe wartete ja auch noch die Außenwelt. Und sein Chef. Seinem Chef Herrn Hagens traute Ian locker zu, dass er für vier Minuten Verspätung noch einmal die eigentlich seit dem Mittelalter eingemottete Streckbank aus dem Keller holte. Herr Hagens hätte sich sicher fantastisch mit Martin Hüser verstanden. Luise trug eine halbvolle Bierdose der Marke Oettinger in der rechten Hand wie einen Staffelstab. Sie dachte gerade nicht so viel nach, sondern schwitzte lieber ein bisschen an den Oberschenkeln und unter den Achseln. Zu den Dingen, die Luise nicht mit Alkohol machte, zählten: den Rausch bereuen und Desinfektionsmittel herstellen. Auf der Rolltreppe griff Caro nach der Bierdose in Luises Hand und nahm einen großen Schluck. Caros Wollmütze fiel bei der schnellen Bewegung fast von ihrem...