Zwamborn | Wir sehen uns am Ende der Welt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Zwamborn Wir sehen uns am Ende der Welt

Eine ungewöhnliche Expedition durch die Schweiz, England und Berlin
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-312-00679-3
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine ungewöhnliche Expedition durch die Schweiz, England und Berlin

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-312-00679-3
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jens, der Wandergefährte und Freund der Erzählerin, ist spurlos verschwunden. Ein Rätsel, niemand weiß etwas. Sie sucht seine Lieblingsorte auf, wandert gemeinsam begangene Routen ab und stößt dabei auf die Arbeiten des bedeutenden Schweizer Alpengeologen Albert Heim (1879–1937). Seinen Anspruch, aus den Gesteinsschichten der Berge die Geschichte der Menschheit herauszulesen, nimmt sie auf, um Spuren vom Verbleib ihres Freundes freizulegen. Am Ende bleibt Jens unauffindbar, aber die Reise befreit die Erzählerin von ihrer Trauer und führt sie zu ihrer eigenen, verschütteten Sehnsucht. Eine ungewöhnliche Expedition durch die Schweiz, England und Berlin, hinein in eine wundersame Berg- und Erinnerungslandschaft.

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3
Im Sommer zwei Jahre vor Jens’ Verschwinden landete ich mehr oder weniger zufällig im Depot der Naturwissenschaftlichen Sammlung in Innsbruck. Ich weiß nicht mehr, woher ich die Adresse hatte, aber ich glaube, ich habe im Telefonbuch nachgeschlagen und dabei aus Versehen die falsche Anschrift notiert. Wie dem auch sei, nach einer langen Zugfahrt fand ich mich nicht vor dem Tiroler Landesmuseum wieder, sondern in der Feldstraße am Rand eines Gewerbegebiets. Zwischen der Nummer zwei, einem hohen, weißen Haus, und dem grünen Baucontainer einer Sandhandlung, auf den eine unordentliche Sechs gepinselt war, ragte ein zweistöckiger dunkelbrauner Block ohne jede Ähnlichkeit mit einem Museum auf. Auf der Suche nach einer Tür umrundete ich das verspiegelte Gebäude, doch im Erdgeschoss war gar kein Eingang. Über eine Treppe an der Seite gelangte ich schließlich auf eine Galerie, wo neben der Tür von Hausnummer vier ein Schild stand: Nachtfalter. Ich drückte auf die Klingel und ein doppeltöniges Summen erklang. Es dauerte lange, dann machte mir eine alte Dame mit rabenschwarzem Haar und einem erstaunten Gesichtsausdruck die Tür auf. Meine Frage, ob dies das Museum sei, beantwortete sie mit einem knappen Nein. Die Sammlung sei nicht öffentlich zugänglich, nur auf schriftlichen Antrag. Nachtfalter seien mein Forschungsgebiet, versuchte ich sie zu erweichen. Die Frau zögerte, bat mich zu warten und verschwand in einem langen, weißen Gang, in dem Trockenblumen standen. Kurze Zeit später trug ich meinen Namen und die Uhrzeit ins Besucherbuch ein. Nachname, Datum, rein ins Gebäude, später erneut unterschreiben, wieder raus aus dem Gebäude. Der letzte Besucher hatte sich vor mehreren Monaten dreißig Minuten im Depot aufgehalten. «Aber höchstens eine Stunde, nicht länger», erklang es bissig. «Meine Assistentin bummelt heute Überstunden ab, und ich kann jederzeit woandershin gerufen werden.» Wir gingen an etlichen offenen Türen vorbei, hinter denen ich Hunderte Holzkommoden sah. Die Frau ließ mich in einem großen Saal am Ende des Ganges zurück. Schwer fiel die Tür ins Schloss. Ich sah mich um, las auf den unzähligen Dosen um mich her die Namen von Alpenschmetterlingen. Die Schachteln standen dicht an dicht, damit kein Licht hineinfallen konnte. Die Kupferknöpfe, an denen man sie einzeln herausziehen konnte, bildeten eine waagerechte Linie bis zum hinteren Ende des Raums. Auf der linken Seite waren die Schmetterlinge durchnumeriert. Ihre Artgenossen in den Regalen zu meiner Rechten warteten in Zigarrenkisten und bunten Verpackungen aufs Nadeln. Ich nahm eine Schachtel aus dem Regal. Fünf identisch aufgespießte Rote Apollos. Dem ersten von links fehlte ein Fühler und dem mittleren ein Bein, das ich nach einem gründlicheren Blick in einer Ecke der Kiste entdeckte. Ich musste an den Apollofalter denken, der in Vnà langsam über den Bach geflogen war, und ich wunderte mich darüber, dass Ritterfalter sich kurz vor dem Tod zusammenlegten – mit gekreuzten Vorder- und Hinterbeinen und die Zunge wie eine Uhrfeder nach innen aufgerollt. Die Menge an Insekten überwältigte mich derart, dass ich nicht wusste, welche Schachtel ich öffnen sollte. Wie benommen ging ich an den Regalen entlang, suchte Halt bei den roten Punkten auf den Dosen. Die Schmetterlinge waren nach den Himmelsrichtungen geordnet: links die westlichsten Arten, oben die aus dem Norden, rechts die östlichen Exemplare und unten die südlichen Typen. Punkt zwölf Uhr holte mich die übellaunige Konservatorin aus dem Depot ab. Sie begleitete mich in Richtung Ausgang, doch unterwegs trafen wir Herrn Erlebach. Er fragte mich, warum ich die Nachtfalter sehen wolle. Ich sei eigentlich nur aus Versehen im Depot gelandet, erklärte ich. «Na so was. Aber wenn Sie schon mal da sind, ich kümmere mich gerade um ein paar Neuanschaffungen.» Im Trockenschrank lagen auf Spannbrettern aus Balsaholz die Körper von Schmetterlingen Seite an Seite in den Rinnen und warteten auf ihre Bestimmung und Beschriftung. Mit einem Bleistift, in dem eine Nadel steckte, zupfte Erlebach die Flügel einer einheimischen Gefleckten Keulenschrecke auf einem weiteren Spannbrett gerade. Zuvor hatte die Schrecke einen Tag in einem Einmachglas auf einem feuchten Wattebett gelegen. «Die Flügel und Beine dürfen beim Spannen nicht zu trocken sein, sonst gehen sie kaputt», erklärte er und schob die Klappe des Trockenschranks hoch. Manche Käfer waren so klein, dass ich sie zwischen den Nadeln suchen musste. «Und dann haben wir da noch den gefrorenen Vorrat.» Erlebach öffnete die bis oben hin mit Vesperdosen und anderen Plastikschachteln gefüllte Tiefkühltruhe, Hunderte von Exemplaren garantierten noch jahrelang Arbeit. Hinter dem Raum mit den Insekten war ein weiterer Raum, wo die Vögel ausgestopft wurden. Erlebach nahm eine Tüte mit Knochen vom Regal, von einer Eule, wie sich herausstellte, und schüttete sie mir in die Hand. Sie waren federleicht. In einer Schublade waren identische Amseln aufgereiht. Ein Stock unter ihren Schwänzen verhinderte, dass die Vögel verrutschten. «Tierpräparate dienen der Wissenschaft», sagte Erlebach. «Man kann sie in die Hand nehmen und stapeln, und sie lassen sich leicht transportieren.» Ich hatte mir nie Gedanken über Vögel gemacht, die noch nach ihrem Tod verreisten, doch anscheinend war es gang und gäbe, Bälge in Umschlägen um die ganze Welt zu verschicken. Erlebach selbst bekam jeden Monat mehrere Sendungen. Er begleitete mich durch den Gang. Ich las die Namensschilder der Mitarbeiter neben ihren Türen. An einer der letzten hing ein Zettel, auf dem stand: bin da komme gleich bis morgen Das Papier am Ende jeder Zeile war völlig zerstochen. Hinter komme gleich steckte eine goldene Reißzwecke. Erlebach, dem nicht entgangen war, dass dieses primitive Benachrichtigungssystem meine Aufmerksamkeit erregt hatte, fragte, ob ich je von Peter Morass gehört hätte. «Morass ist einer der begabtesten Taxidermisten der Welt», erklärte er, weil mir der Name nichts sagte. «Er hat jahrelang Vögel für den japanischen Kaiser präpariert. Seit seiner Rückkehr nach Europa beschäftigt er sich hauptsächlich mit Säugetieren.» Erlebach klopfte an. «Deine Stechuhr ist stehengeblieben.» Morass erschien in der Tür, er trug einen Henriquatre und eine viel zu enge Hose. «Dürfen wir uns kurz mal umsehen?» Morass nickte. Als er sich dann mit einer unerwartet langsamen Stimme für die Unordnung entschuldigte, nahm mich das gleich für ihn ein. Sobald er den Mund aufmachte, wirkte er jünger. Seit kurzem stopfe er Fell und Gefieder mit Polyesterschablonen aus einem Spezialgeschäft in den Niederlanden aus. Das gehe doppelt so schnell wie das Modellieren mit Draht und Stroh. Doch ein Problem gebe es mit den Schablonen: Die Tiere würden alle in dieselbe Richtung blicken. Also müsse er immer wieder eine Kopfstellung anpassen und aus einem nach links gewandten Hirsch einen machen, der nach rechts blicke. Darüber musste er selbst lachen, anschließend zeigte er mir das Präparat eines tauchenden Eisvogels mit einem Weißfisch im Schnabel. «Die Wassertropfen zwischen den Federn habe ich aus Glas gemacht», sagte er und strich dem Vogel über den blauen Kopf. Morass liebte seine Arbeit, er sagte, es sei «ein einziges Abenteuer, keine zwei Tage sind gleich», und erzählte, wie er einmal zwei tote Bären aus einem italienischen Zoo in seinem Kleinbus über die Grenze geschmuggelt habe. Niemand habe etwas gemerkt, nicht einmal die auf Leichengeruch abgerichteten Hunde der Zöllner. In seiner Werkstatt gab es kaum Elektroapparate, bloß einen Föhn, um die Federn der Vögel trocken zu blasen. Außer der Gefriertrocknung machte Morass fast alles von Hand. Er wies auf ein großes Gerät ganz hinten. «Die ideale Technik, um Haustiere ruck-zuck auszustopfen.» Er lachte entschuldigend. «Bis die gefriergetrockneten Katzen oder Hunde ihr Fell verlieren, ist der Besitzer meist so weit, dass er ein neues Haustier möchte.» Bevor wir uns verabschiedeten, zeigte Morass mir seinen Vorrat an Glasaugen, die er in Tschechien blasen ließ. Sie waren alle verschieden. Die Iris war nicht schwarz, sondern ein Loch, durch das Licht fiel, als könnten die toten Tiere wirklich sehen. Und die Augen waren nicht rund, sondern an der Unterkante abgeflacht. Morass wühlte vorsichtig mit dem Zeigefinger darin herum und nahm schließlich zwei heraus, sie waren hellblau mit braunen Pünktchen in der Iris und schwerer als erwartet. «Wenn Sie erraten, von welchem Tier sie stammen, schenke ich sie Ihnen.» Ich wusste es nicht, tippte auf einen Fisch, war mir aber nicht sicher und fragte nach einer Weile: «Ein Hecht?» Ob das stimmte, weiß ich nicht, jedenfalls bekam ich die Augen; ich gab Morass die Hand, versprach ihm, die Geschichte mit den Bären für mich zu behalten, trug die Uhrzeit ins Buch ein und verließ das Depot. Ich glaube, nicht lange danach merkte ich, dass in jedem naturhistorischen Museum, das ich besuchte, ganz egal wo, immer dieselbe Gestalt zwischen den Schaukästen auftauchte. In London fiel mir der Mann zum ersten Mal auf, kurze Zeit später sah ich ihn in Paris, in Brüssel und in Wien. Er trug einen feinmaschigen Panama mit einem schwarzen Hutband. Unter diesem Hut verbarg sich sein Gesicht, er hatte einen langen weißen Bart, der über den ebenfalls weißen Hemdkragen fiel. Jackett und Hose waren aus einem leichten, locker fließenden Stoff, vermutlich hochwertiges Leinen, das mit den Jahren nur schöner wird. Häufig benutzte er einen Gehstock. Ich fotografierte diesen Mann mit Hut immer wieder, ließ die...


Zwamborn, Miek
Miek Zwamborn ist 1974 in Südholland geboren. Sie lebte längere Zeit im Engadin und ist Übersetzerin des Schweizers Arno Camenisch, Dichterin, Schriftstellerin und bildende Künstlerin. Zwamborn lebt und arbeitet in Amsterdam. Wir sehen uns am Ende der Welt ist ihr erster Roman, der in deutscher Sprache erscheint.



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