Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-906907-35-2
Verlag: edition bücherlese
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Zimmermanns Debut Was der Igel weiß ist ein Roman über Freundschaft, Tierethik und den Glauben an moralische Ideale. Das Manuskript wurde mit einem Werkbeitrag der Zentralschweizer Kantone ausgezeichnet.
Zielgruppe
Lesende, die sich für gesellschaftliche Themen interessieren.
Autoren/Hrsg.
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2
Eines Morgens hob Georg den Achermann hoch, einfach so, ich kann mich nicht erinnern, dass es einen Anlass gegeben hätte, und hängte ihn an einen Kleiderhaken vor unserem Klassenzimmer. Achermann war eins fünfzig und wog so gut wie nichts. Die Regenjacke, in der er steckte, hielt der Belastung stand. Verzweifelt versuchte er, den Reißverschluss zu öffnen. Schließlich gab er auf und ließ die Arme hängen. Georg verzog keine Miene, er sah aus, als hätte er bloß einen herrenlosen Rucksack aus dem Weg geräumt. Einige lachten. Vielleicht habe auch ich gelacht, das ist gut möglich. Es war die Zeit, in der sich die Verhältnisse klärten, ein dreiviertel Jahr nachdem wir das Gebäude mit der roten Fassade zum ersten Mal betreten hatten. Anja und Isabelle verbrachten die Pausen im Innenhof. Umringt von Jungs aus der Neunten, pflegten sie ihre Sonnenbrillen in Zeitlupe vom Kopf zu nehmen, in den Ausschnitt zu stecken und unerreichbar zu sein. Andere Mädchen trugen Bücher auf den verschränkten Armen, wann immer man sie antraf, traten ohne Not zur Seite, um Platz zu machen. Die Normalen und Braven, die Bockigen, die Eifrigen, sie alle hatten einander und ihren Platz im Gefüge gefunden. Auch die Jungs. Ab und zu hatte es eine Rauferei gebraucht, nun wussten wir, wer wo hingehörte. Achermann ganz nach unten und Georg, der den Unihockeyball so hart schlagen konnte wie kein Zweiter, an die Spitze. Nichts tat er lieber, als nach dem Sportunterricht mit einem Tuch um die Hüften in der Umkleide zu stehen und Reden zu halten: Der FC Luzern habe die Finalrunde verpasst, weil der Trainer eine Pfeife sei. Die Schweiz brauche eine starke Armee und er, Georg Weber, werde Oberleutnant wie sein Vater. Niemand widersprach. Die Schule thronte am Hang des Stanserhorns. Dahinter der Wald, wo sich im Herbst der Nebel verfing. Deo et Juventuti stand in schwarzen Buchstaben über dem Haupteingang geschrieben. An das Gebäude schloss das Kloster der Kapuziner an, die das Gymnasium über hundert Jahre lang geführt hatten. Kurz bevor ich eintrat, war die Schule dem Kanton übergeben worden, aber viele der Ordensleute blieben als Lehrer tätig. Manchmal trugen sie Hemd und Hose, für gewöhnlich standen sie im braunen Habit vor uns, mit weißem Strick um den Bauch, ein Anblick, an den ich mich ebenso schnell gewöhnte wie an die Gerüche, die im Gebäude herrschten. Das Treppenhaus zu betreten, fühlte sich an, als würde man in eine Höhle geraten, besonders wenn es draußen geregnet hatte und der Schmutz von fünfhundert Schuhsohlen auf den Stufen lag. In den Fluren müffelten Spannteppiche und im neu renovierten dritten Stock, wo sich unser Klassenzimmer befand, roch es nach Leim. Der Raum war groß. Zwölf Pulte in drei Reihen, ganz hinten stand ein abgewetztes Sofa. An den Wänden hingen geometrische Lehrsätze, die unsere Vorgänger auf braunes Packpapier gezeichnet hatten. Am ersten Tag hatte Pater Konrad drei Töpfe mit Kakteen auf die Fensterbank gestellt und erklärt, man müsse ein Schulzimmer mit Pflanzen bestücken, um sich darin behaglich zu fühlen. Konrad war unser Klassenlehrer, unterrichtete Mathematik und gebrauchte Wörter wie behaglich und bestücken, die er mit rauchiger Stimme aussprach. Während Pater Zyrill oder Madame Dubois bei der kleinsten Störung einschritten und die Übeltäter umsetzten, lächelte Konrad bloß, hielt den Zeigefinger sanft an die Lippen, egal wie laut wir schwatzten. Ich saß neben Georg, ganz außen in der dritten Reihe. Das waren die besten Plätze, wir hatten den kürzesten Weg zum Sofa. Dort schlugen wir in den Pausen die Beine übereinander und breiteten die Arme aus. Für andere blieb nichts frei. Einem Fisch gleich hing Achermann am Kleiderhaken und begann zu schluchzen. »Voll fies«, sagte ein Mädchen, unternahm jedoch ebenso wenig wie die anderen. Vielleicht hatte ich gelacht, wie immer, wenn Georg etwas Überraschendes tat, aber je länger ich Achermann dort hängen sah, desto weniger konnte ich es ertragen. Also ging ich zu ihm hin, sodass er sich an meiner Schulter festhalten und hochziehen konnte. Ihm schien das Manöver noch peinlicher zu sein, als am Haken zu hängen. Ohne mich anzublicken, stieg er von meinem Rücken und rannte die Treppe hinunter. Georg hingegen sah mich an, mit diesem boshaften Grinsen, das er so gut draufhatte, den einen Mundwinkel hochgezogen, den Rest des Gesichts unbewegt. »Ein Retter in der Not«, sagte er. »Ja, okay.« »Was okay?« »Lass ihn in Ruhe. Er hat dir nichts getan.« »Was geht dich das an?« Eine einfache Frage und ich kannte die Antwort: Nichts geht es mich an. Georg hätte mich angestarrt und ich wäre seinem Blick ausgewichen. Dann hätte es geklingelt und die Sache wäre vergessen gewesen. Ich hatte es schon oft gesagt: Vergiss es, kein Problem. »Wichser«, murmelte ich. Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinen?«, fragte er. War Georg wütend, wechselte er in einen besonderen Slang, eine Mischung aus Zitaten und Wendungen, die er irgendwo aufgeschnappt hatte. Es war seine Art, die Sprache zu verlieren, ein Warnsignal. Er sei ein Wichser, wiederholte ich, und diesmal sah ich ihm in die Augen. Er kam auf mich zu, krallte die Finger in mein T-Shirt und drückte mich gegen die Wand. Sein Atem roch wie die Pfützen in alten Autoreifen. »Pass er auf. Will er Schläge?« »Wichser, Wichser!«, schrie ich, und ein wenig Spucke traf Georgs Gesicht. Mit der einen Hand hielt er mich noch immer fest, mit der anderen strich er über seinen Mund. Hinter ihm sah ich die anderen im Halbkreis stehen, eine Mischung aus Anspannung und Vorfreude in den Gesichtern. Wo blieb Pater Konrad? Sonst saß er Minuten vor dem Unterricht am Lehrerpult und sortierte seine Unterlagen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, vielleicht kam er in diesem Moment den Flur entlang. Nichts. Ich richtete meinen Blick wieder auf Georg, sah seine Nase zucken, als hätte sich eine Fliege daraufgesetzt, und mir wurde klar, dass ich aus der Sache nicht mehr rauskommen würde. Ansatzlos wie ein geübter Boxer drosch er mir die Faust unter die Rippen. Ich ging in die Knie und rang um Luft. Der Schmerz war heftig. Noch heftiger war die Wut, die in mir aufstieg, der blinde Zorn des Unterlegenen. Ich wollte schreien, es ging nicht. Also atmen. Einmal, zweimal, tief. Ich hob den Kopf. Georg stand nur einen Meter von mir entfernt, die Eier auf der Höhe meiner Augen. Ich ballte die Faust, jetzt war er dran. Alle Kraft, die ich besaß, legte ich in diesen Schlag, doch ich war zu langsam, mein Arm zu kurz. Georg wich zurück, zögerte einen Moment. Dann rammte er mir das Knie ins Gesicht. Wofür auch immer ich zu kämpfen glaubte: Es war vorbei. Anja, unsere Klassensprecherin, half mir auf die Beine, mit ernster Miene, als gehörte das zu ihren Aufgaben. Emil verglich meine Kampfkunst mit der eines Faultiers auf Valium, wofür er ein paar Lacher erntete. Dann kam Isabelle die Treppe hoch, hängte ihren Regenschirm an einen Haken, sah mich an, blickte zu Georg und sagte, wir seien Kinder. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich auf der Toilette. Meine Oberlippe schwoll an, aus der Nase kam Blut. Nachdem ich es eine Weile lang auf mein Shirt hatte tropfen lassen, tastete ich den Nasenrücken ab. Danach drehte ich den Hahn auf, hielt den Kopf unter das Wasser, rieb mir das Gesicht, blickte in den Spiegel und sah, dass immer noch Blut aus den Nasenlöchern trat. Also setzte ich mich in eine der Kabinen, formte Klopapier zu Kügelchen und steckte sie mir in die Nase. Mein Großvater hatte einmal mit bloßen Händen einen Hund erschlagen. Als Kind war ich tausendmal auf seinen Schoß geklettert, um die Geschichte erzählt zu bekommen: Früher Nachmittag, die Tour ist beinahe zu Ende, noch zwei Briefe sind zu verteilen. Großvater öffnet das Tor, geht durch den Garten, und da steht diese riesige Bordeauxdogge vor ihm, den Kopf geduckt, die Stirn so breit wie die eines Stiers. Großvater bewegt sich nicht. Er wartet. Er weiß, die Lage ist ernst, und er formt die Hände über dem Kopf zu einer gewaltigen Faust. Das Tier knurrt, von den Lefzen tropft der Sabber. Die Muskeln spannen an, der Hund rennt los und springt. Oh, das hätte er nicht tun sollen! Dieses Geräusch, als die Wirbelsäule splitterte, vergesse er sein Lebtag nicht, hatte Großvater gesagt, die Finger zusammengeschoben, und die Knöchel knacken lassen. Ich riss Papier von der Rolle, rieb mir die Augen trocken, betrachtete meine schwachen Hände, krampfte sie zu Fäusten und hämmerte gegen die Kabinenwand. Weshalb hatte ich nicht einfach den Mund gehalten? »Alles klar da drin?« Ich hatte niemanden hereinkommen gehört. Vor Schreck atmete ich ein, als wäre ich aus einem Albtraum erwacht. Ein Krächzen drang aus meiner Kehle. »Du meine Güte! Sorry«, sagte die Stimme. Es klang nicht wie eine Entschuldigung, wer immer da...