E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Zimmer Handbuch Bewegungserziehung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-451-81913-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grundlagen für Ausbildung und pädagogische Praxis
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-451-81913-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Renate Zimmer ist Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit und Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück. Auf dem Gebiet der Bewegungserziehung ist sie die bekannteste und erfolgreichste Expertin im deutschsprachigen Raum. Ihre Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Für ihr bildungspolitisches Engagement wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
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2 Kindheit heute: Bewegte Kindheit
Kinder nehmen ihre Umwelt als Bewegungswelt wahr, nicht immer stoßen sie dabei bei den Erwachsenen auf Verständnis. Kindheit ist eine bewegte Zeit, in keiner anderen Lebensstufe spielt Bewegung so eine große Rolle wie in den ersten Lebensjahren. Vor allem die ersten sechs Jahre können als Zeit eines ungeheuren Betätigungs- und Bewegungsdrangs, unaufhörlicher Entdeckungen und ständigen Erprobens und Experimentierens bezeichnet werden. Das Kind eignet sich seine Umwelt über seinen Körper und seine Sinne an. Schritt für Schritt ergreift es von ihr Besitz. Dabei enthält jeder Tag aufs Neue Herausforderungen und Aufgaben: Treppen hochsteigen, eine Mauer erklettern, einen Zaun überwinden, in Pfützen springen, über Bordsteinkanten balancieren.
Das Kind entdeckt die Welt über sein eigenes Tun. Es braucht allerdings auch ausreichend Gelegenheiten, diesen elementaren Bedürfnissen nachkommen zu können. Es braucht sie in seiner familiären Lebenswelt genauso wie bei jeder Form institutioneller Bildung und Erziehung.
Die Lebensbedingungen in unserer hochtechnisierten, motorisierten Gesellschaft engen den kindlichen Bewegungsraum jedoch zunehmend ein. Ständig steigender Medienkonsum und eine Verarmung der unmittelbaren kindlichen Erfahrungswelt tragen dazu bei, dass das Kind in seinem Bedürfnis nach Eigentätigkeit und Selber-Ursache-Sein immer mehr eingeschränkt wird. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erhalten anthropologische Überlegungen zur Bedeutung von Bewegung und Spiel als elementare kindliche Betätigungsformen ein besonderes Gewicht.
Die Frage nach der Bedeutung von Spiel und Bewegung ist nur dann zu beantworten, wenn man eine bestimmte Vorstellung von Entwicklung hat. Abhängig sind solche normativen Vorgaben in erster Linie vom Menschenbild, vom Bild des Kindes, das implizit immer vorhanden ist, wenn man sich Gedanken über Erziehung, Entwicklung und ihre Förderung macht. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Kind als noch unselbstständiges, hilfsbedürftiges Wesen betrachtet wird, dessen Entwicklung durch die Erwachsenen gesteuert, gelenkt und beeinflusst werden muss, oder ob Kinder als neugierige, aktive, selbsttätige Menschen begriffen werden, die durch eigene Erfahrung und unbeirrbares Tätigsein Schwierigkeiten meistern und Unabhängigkeit und Selbstständigkeit entwickeln.
Dieser Aspekt, der auch in den derzeit aktuellen Bildungskonzepten eine wichtige Rolle spielt, wird im folgenden Abschnitt aufgearbeitet. Anschließend werden die Merkmale einer sich verändernden Kindheit, die die Aneignung der Welt durch Spiel und Bewegung begrenzen, aufgezeigt und Konsequenzen für die Bildung und Erziehung von Kindern abgeleitet.
2.1 Spiel und Bewegung – elementare Betätigungs- und Ausdrucksformen des Kindes
Spiel und Bewegung stellen grundlegende kindliche Betätigungsformen, zugleich aber auch elementare Medien ihrer Erfahrungsgewinnung und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten dar.
Bewegung ist ein Grundphänomen menschlichen Lebens, der Mensch ist von seinem Wesen her darauf angewiesen. Die Bewegungsentwicklung beginnt bereits im Mutterleib, und erst mit dem Tod hört jede Bewegung auf. Der Begriff umfasst so unterschiedliche Dinge wie laufen, essen, Klavier spielen, malen und Fußball spielen, sogar Gefühle kann man als »innere Bewegung« verstehen. Bewegung bedeutet also zunächst einmal keineswegs nur sportliche Betätigung und ist auch nicht vornehmlich auf die Fortbewegung bezogen. Sogar bei absolutem Stillstand unseres Körpers sind wir dennoch in Bewegung: Das Herz klopft, das Blut kreist in unserem Körper, die Lungen atmen etc. Im Laufe der Entwicklung verändert sich nicht nur der Stellenwert, den vor allem großräumigere, ganzkörperliche Tätigkeiten einnehmen, so können ältere Menschen zum Beispiel lange Zeit entspannt in einem Sessel sitzen und das »Nichtstun« genießen, während für Kinder das »Stillsitzen« meist eine große Strafe und Belastung darstellt.
Bewegung hat in Abhängigkeit von den Lebensbedingungen, der jeweiligen Situation und dem Lebensalter auch unterschiedliche Bedeutungen. Von der Alltagswirklichkeit des Menschen ausgehend, unterscheidet Grupe (1982) vier unterschiedliche Bedeutungsdimensionen:
1. Die instrumentelle Bedeutung, indem ich mit meiner Bewegung etwas erreichen, herstellen, ausdrücken, darstellen und durchsetzen, aber auch erfahren, erproben und verändern kann. Bewegung wird im Alltag, im Sport, im Arbeitsleben, im sozialen Umgang mit anderen funktional und instrumentell benutzt, als eine Art »Werkzeug«, um etwas zu erreichen, durchzusetzen, herzustellen: Rad fahren, zur Straßenbahn laufen, tanzen, Klavier spielen … Dies alles schließt meist sehr unauffällig Bewegung ein. Erst bei Ermüdung oder Erschöpfung spüre ich meinen Körper.
2. Die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung, indem ich durch meine Bewegung etwas über meine Körperlichkeit, über die materiale Beschaffenheit der Dinge und über die Personen meiner Umgebung erfahre. Dies kann sowohl im Sinne der instrumentellen Bedeutung geschehen, indem Bewegung gezielt auf Erfahrungssuche und Erfahrungsgewinn ausgerichtet ist, als auch eher beiläufig und intuitiv erfolgen.
3. Die soziale Bedeutung, indem ich durch Bewegung Beziehungen zu anderen Menschen aufnehme (kommuniziere), oder indem ich etwas über Bewegung zum Ausdruck bringe. Jemandem zuwinken, sich umarmen gehören zu den Bewegungen, die einen Mitteilungscharakter annehmen und oft zu Ritualen werden. Ihre sozialen Bedeutungen muss man erst lernen, und ebenso sind Regeln in einem Spiel auf soziale Übereinkünfte angewiesen, damit alle Mitspieler sie in der gleichen Weise verstehen und anwenden.
4. Die personale Bedeutung, indem ich in meiner Bewegung und durch sie mich selbst erlebe und erfahre, mich aber auch verändern und verwirklichen kann.
In den jeweiligen Entwicklungsstufen und Lebensabschnitten des Menschen können diese Bedeutungsdimensionen der Bewegung durchaus ein unterschiedliches Gewicht einnehmen.
Bezogen auf die Bedeutung, die Bewegung für die kindliche Entwicklung hat, können die Funktion von Bewegung noch weiter ausdifferenziert werden. Im Kleinkindalter herrscht zum Beispiel die explorative Funktion vor: Kinder erkunden ihre dingliche und räumliche Umwelt über ihren Körper, sie schaffen »Produkte«, in dem sie Bewegungsfertigkeiten erwerben und stolz darauf sind (z.?B. auf den Händen stehen zu können oder einen »Purzelbaum« zu machen). Sie vergleichen ihre Leistungen aber auch miteinander, wollen schneller laufen als andere.
Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern
Personale Funktion: | Den eigenen Körper und damit sich selbst kennenlernen; sich mit den körperlichen Fähigkeiten auseinandersetzen und ein Bild von sich selbst entwickeln |
Soziale Funktion: | Mit anderen gemeinsam etwas tun, mit und gegeneinander spielen, sich mit anderen absprechen, nachgeben und sich durchsetzen |
Produktive Funktion: | Selbst etwas schaffen, herstellen, mit dem eigenen Körper etwas hervorbringen (z.?B. eine Bewegungsfertigkeit wie auf den Händen stehen oder einen Ball auf ein Ziel werfen) |
Expressive Funktion: | Gefühle und Empfindungen in Bewegung ausdrücken, körperlich ausleben und gegebenenfalls verarbeiten |
Impressive Funktion: | Gefühle wie Lust, Freude, Erschöpfung und Energie empfinden, durch Bewegung spüren |
Explorative Funktion: | Die dingliche und räumliche Umwelt kennenlernen und sich erschließen, sich mit Objekten und Geräten auseinandersetzen und ihre Eigenschaften erkunden, sich den Umweltanforderungen anpassen bzw. sich eine Situation passend machen |
Komparative Funktion: | Sich mit anderen vergleichen, sich miteinander messen, wetteifern und dabei sowohl Siege verarbeiten als auch Niederlagen ertragen lernen |
Adaptive Funktion: | Belastungen ertragen, die körperlichen Grenzen kennenlernen und die Leistungsfähigkeit steigern, sich selbstgesetzten und von außen gestellten Anforderungen anpassen |
Bei dieser Beschreibung von Funktionen, die Bewegung im Rahmen kindlicher Entwicklung einnehmen kann, muss beachtet werden, dass es sich um unterschiedliche Sichtweisen auf ein und dieselbe Sache handelt, die allein aus analytischen Gründen getrennt worden sind. Zum Teil ergänzen sich die Aspekte, sie können sich überlagern, und oft sind mit einer Tätigkeit auch mehrere Funktionen zugleich verbunden.
Bewegungserziehung bei Kindern kann – entsprechend ihren pädagogischen Zielvorstellungen – unterschiedliche der genannten Aspekte in den Vordergrund stellen. Dies hat Konsequenzen sowohl hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise als auch im Hinblick auf die Auswahl der Inhalte: Bei stärkerer Betonung der explorativ erkundenden Funktion werden vor allem offene Bewegungsangebote, bei denen Kinder selbst Materialien ausprobieren und ihre Verwendungsmöglichkeiten herausfinden können, bevorzugt. Die komparative Funktion wird dagegen eher bei Spielen, die Wettbewerbscharakter haben, angesprochen.
In welcher Weise die...