E-Book, Deutsch, Band 3646, 320 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
Eine Biographie
E-Book, Deutsch, Band 3646, 320 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
ISBN: 978-3-8412-1802-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Edda Ziegler, Autorin zahlreicher Publikationen, darunter Biographien über Heinrich Heine und Theodor Fontane. Zuletzt erschienen: »›Verboten – verfemt – vertrieben‹. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus« (2010) sowie die Studie »Buchfrauen. Frauen in der Geschichte des deutschen Buchhandels« (2014).
Autoren/Hrsg.
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Prolog
To begin with the beginning
»Meine Kinderjahre«, das Erinnerungsbuch des alten Fontane, entsteht in einer krisenhaften Lebenssituation. Die Arbeit an »Effi Briest« löst im Schreiber eine lebensbedrohliche Depression aus, in der altes Konfliktpotential noch einmal aufbricht. Er überwindet Schreibhemmung und Krise, indem er seine Kindheit aus dem Dunkel des Unbewußten hebt und sich mit ihr aussöhnt. An der Erinnerung hat Fontane sich gesund geschrieben. In ihrem Mittelpunkt steht die Zeit in Swinemünde, wohin die Familie zog, als Theodor, der Älteste, sieben Jahre alt war. Die Spiele des Kindes in Haus und Hof, an Strand und Strom werden zu Kernszenen seiner Autobiographie: »Das Haus, zumal die eigentlichen Wohnräume, waren, das mindeste zu sagen, anfechtbar, entzückend aber waren Hof und Garten. […] Da spielten wir halbe Tage lang und legten Burgen an oder turnten am Reck oder brachen Planken aus dem Zaun und zogen auf Raub in die Nachbargärten. Schöner aber als alles das war, für mich wenigstens, eine zwischen zwei Holzpfeilern angebrachte, ziemlich baufällige Schaukel. Der quer überliegende Balken fing schon an, morsch zu werden, und die Haken, an denen das Gestell hing, saßen nicht allzu fest mehr. Und doch konnt ich gerade von dieser Stelle nicht los und setzte meine Ehre darin, durch abwechselnd tiefes Kniebeugen und elastisches Wiederemporschnellen die Schaukel derartig in Gang zu bringen, daß sie mit ihren senkrechten Seitenbalken zuletzt in eine fast horizontale Lage kam. Dabei quietschten die rostigen Haken, und alles drohte zusammenzubrechen. Aber das gerade war die Lust, denn es erfüllte mich mit dem wonnigen und allein das Leben bedeutenden Gefühle: Dich trägt dein Glück.« Fontane-Leser kennen die Szene. Garten und Schaukel aus dem Swinemünder Elternhaus erscheinen – poetisiert und aristokratisiert – im Eingangskapitel von »Effi Briest«. Dort kündigt die kindhafte Heldin, ganz »Tochter der Luft«, noch in derselben Szene eine »Liebesgeschichte mit Entsagung« an, ihre eigene Geschichte. Hier, im Erinnerungsbuch, scheint der kindliche Held, der die lustvolle Gefahr des Steigens und Fallens auf schwankendem Grund ebenso sucht wie Effi, sein weibliches alter ego, noch geborgen im Urvertrauen »Dich trägt dein Glück«. Die Adler-Apotheke in Swinemünde, Hauptschauplatz der »Kinderjahre«. Foto, um 1870. Die Frage: Was ist Leben, was ist Glück? beschäftigt Fontane ein Leben lang. »Gott, was ist Glück? Eine Grießsuppe, eine Schlafstelle und keine körperlichen Schmerzen – das ist schon viel!« So einfach wie im Romanfragment »Allerlei Glück« nimmt sich die Sache für die Gestalten der Fontaneschen Romane in der Regel nicht aus. Für sie mischt sich ins Glück meist störend die Notwendigkeit des Verzichts. Und schon das Kinderglück des kleinen Theodor steht auf brüchigem Fundament, denn die familiäre Realität läßt ihn Geborgenheit und Vertrauen oft schmerzlich vermissen. Das sorglos schaukelnde Kind aus der Autobiographie ist mehr Bild ungestillter Sehnsucht als erlebte Wirklichkeit. Dieser näher kommt die Unsicherheit, die das Auf und Ab der Schaukel auch vergegenwärtigt, ängstigend und anziehend zugleich. Der kleine Held der »Kinderjahre« ist diesem ambivalenten Spiel verfallen wie sein Vater, dessen Spielsucht die Familie zugrunde richtete. Doch des Kindes Spiele heißen nicht L’hombre, Whist, Boston und Pharao, sondern Schaukeln und Verstecken. »[…] eigentliches Versteckspiel nach meiner damaligen Anschauung war etwas viel Großartigeres, Poetisch-Phantastischeres und jedenfalls gleichbedeutend mit einem völligen stundenlangen Verschwinden, wozu der riesige Heuboden, den wir auf unserem Hofe hatten, eine nicht zu übertreffende Gelegenheit bot. Bis unter den First eines langen Stallgebäudes lag das Heu dicht aufgeschichtet, und in die tiefen und engen Löcher, die sich hier und da zwischen den Dachbalken und der Heumasse befanden, ließ ich mich leise hinabgleiten. Da saß ich dann endlos, unter beständigem Herzklopfen, vor Enge und Schwüle beinahe erstickend und immer nur durch die glückselige Vorstellung aufrechterhalten: »Und wenn sie dich suchen bis an den Jüngsten Tag, sie finden dich nicht.« Und sie fanden mich auch wirklich nicht, gaben zuletzt alles Suchen auf, brachen das Spiel ab und gingen in die Küche, wo sie, Schemel und Fußbänke an den Herd rückend, unter Verwünschungen gegen mich ihr Vesperbrot verzehrten. Ich aber, wenn ich an dem Stillwerden in Hof und Garten merkte, daß man die Jagd auf mich aufgegeben hatte, wand mich aus meinem Heuloche wieder heraus und erschien nun unter ihnen mit dem Ausdruck höchster Geringschätzung. Ich tue wieder die Frage, worin wurzelt da das Glück?« Wie beim Schaukeln so beim Verstecken: das Spiel ist Leidenschaft, ist Passion. Der Freiraum, den das Kind sich damit zu gewinnen sucht, hat seinen Preis. Der Wunsch nach Ungebundenheit, versinnbildlicht in der hochfliegenden Schaukel, wird mit Absturzgefahr erkauft; die scheinbare Geborgenheit in der Heuhöhle mit körperlicher Bedrängnis und sozialer Isolation. Doch die Lust am »völligen Verschwinden« verschafft dem Kind ein Gefühl von Macht über die, vor denen es sich verbirgt. Der Autor selbst sieht in diesen Erinnerungen Schlüsselszenen seiner Autobiographie: »Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre ›stecke der ganze Mensch‹. Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden, und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten.« Kindheitsgeschichte als Lebensgeschichte, Kinderspiel als Urszene literarischen Schaffens: Wie sich das Kind auf dem Dachboden des Elternhauses versteckt, um sich zumindest für ein paar Stunden aus einer problematischen Realität zu befreien, so verbirgt sich später der Schriftsteller in seiner fiktiven literarischen Welt, bereit, für diesen Ort innerer Geborgenheit eine unsichere Existenz mit materieller Not und sozialer Ausgrenzung auf sich zu nehmen. Wie das spielende Kind aus der Gemeinschaft der Gefährten und der Familie verschwindet in die Welt seiner Phantasie, so später der Romancier in das Versteck-Sprachspiel seiner Texte mit all ihren Anspielungen und untergründigen Beziehungen, Vieldeutigkeiten und offenen Stellen. Der Ausbruch in einen Freiraum der Phantasie gibt schon dem Kind das Gefühl machtvoller Überlegenheit. In den wilden Seeräuberspielen und waghalsigen Verfolgungsjagden der »Kinderjahre« erscheint der kleine Theodor stets als unangefochtener, siegreich strahlender Held – ein Glück, das allerdings nur in der Einsamkeit dieser fiktiven Gegenwelten Bestand hat. Daß hinter dieser Lust am »völligen Verschwinden« aus der Realität auch ein Fluchtimpuls steckt, die Angst, erkannt zu werden in all den Fährnissen des eigenen Selbst, das bleibt unausgesprochen. Konfrontiert mit der Wirklichkeit, gerät dies illusionäre, dem Erzähler im Rückblick selbst fragwürdige Glück immer wieder in Gefahr. Es in die Realität hinüberzuretten erweist sich als schwierig. Aus der konflikthaften Ambivalenz beider Welten resultiert letztlich die Krisenhaftigkeit von Fontanes Existenz. Briefe und Tagebücher bezeugen immer wieder seine Selbstzweifel, denen er mit Spott, Ironie und Sarkasmus zu begegnen sucht und mit nüchterner Mitleidslosigkeit gegen sich selbst. Die Versöhnung mit dem Kinder-Ich erst erlaubt ihm, dem Auf und Ab seiner Phantasiewelten nachzugeben. Erst damit ist das kreative Potential des Schriftstellers endgültig gesichert. Daß er fähig ist, es in den Mühen der täglichen Schreibarbeit mit unendlichem Fleiß umzusetzen ins literarische Werk, dazu hat wohl auch das an Ordnung, Leistung und sozialem Aufstieg orientierte Vorbild der Mutter beigetragen. Ihr steht Fontane allerdings bis zuletzt ziemlich reserviert gegenüber. »Meine Kinderjahre«, Blatt 2 des Manuskripts. Nicht zufällig gelingt erst dem Fünfundsiebzigjährigen nach der späten Krise, in der die Absturzgefahr noch einmal bedrohlich nahe rückt, mit den »Kinderjahren« der erste Verkaufserfolg und mit »Effi Briest« das Meisterwerk, das ihn zum größten deutschen Romancier seines Jahrhunderts macht. Die Identität des Schriftstellers Fontane ist mit den Spielen des Kindes aufs engste verbunden. »Meine ganze Produktion ist Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung, im Lichte zurechtgerückt«, schreibt er zu »Irrungen, Wirrungen«. Fügt man dem seine Deutung der eigenen Kindheitsgeschichte als Lebensgeschichte hinzu und sieht das Erinnern der Kindheit in eins mit der Entstehung von »Effi Briest«, so zeigt sich etwas vom inneren Zusammenhang zwischen Biographie und literarischem Werk. »Psychographie und Kritik«, Unbewußtes, geformt mit den Kräften des beobachtenden, ordnenden und wertenden Intellekts: so sieht Fontane, in einem für das Ende des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich modernen Verständnis des Schreibens, das Wesen seines Schriftstellertums, ja allen zeitgemäßen Erzählens. Der Zusammenhang mit der eigenen Biographie ist allerdings im Gefüge der Wörter, in geheimnisvollen Andeutungen und falschen Fährten, in Sackgassen und Irrwegen so gut verborgen wie das Kind im Dachgebälk des Elternhauses. Dort, wo es gelingt, ihn aufzudecken, wird sichtbar, daß, wie Franz Fühmann über Trakl sagt, »ein...