Mörderisch-Skurrile Weihnachtsgeschichten rund ums Mittelrheintal
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-7519-4083-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephanie Zibell, Jahrgang 1966, Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und Publizistik; 1992 Magister Artium, 1999 Promotion, 2003 Habilitation. Bis 2020 Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seither freie Autorin, aber weiterhin natürlich mit ganzem Herzen Wissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Zeit- und Regionalgeschichte.
Autoren/Hrsg.
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Der Weihnachtsüberfall
Schauplätze: Wiesbaden und Eltville Wiesbaden-Innenstadt, 24. Dezember (Abend) Sie hatte sich extra schick gemacht für diesen Weihnachtsgottesdienst: den besten Mantel angezogen (Loden; vom Stoff her weitgehend zeitlos, bezüglich des Schnitts leider nicht mehr der neueste Schrei; sie hoffte aber, dass es ihr der liebe Gott nachsehen würde, wenn sie nicht aussah, wie aus einem aktuellen Modekatalog entstiegen…), den eleganten Seidenschal umgelegt (der wirklich schick war, aber leider nicht besonders wärmte, was ihr in der eher kühlen Kirche ziemlich schnell bewusst wurde), das flotte graue Velours-Hütchen aufgesetzt (das sie, wie sie fand, ziemlich verwegen trug) und die gefütterten Lederhandschuhe übergezogen (die nicht nur wärmten, sondern auch die Gichtknoten an ihren Fingern verbargen). Sie war die letzte gewesen, die die Kirche verlassen hatte. Ganz langsam war sie in Richtung Ausgang geschlurft; immer fest auf ihren Rollator gestützt. Kaum, dass sie das Kirchenportal durchschritten hatte, war die Tür vom Küster auch schon zugeschlagen und sorgfältig verriegelt worden. Wie alle anderen wollte auch er jetzt möglichst schnell nach Hause, um den Heiligen Abend – im Kreise seiner Familie – gebührend zu feiern. Sie selbst hatte es nicht eilig. Niemand wartete auf sie. Schon lange nicht mehr. Seit ihr Mann nach fast fünfzigjähriger Ehe verstorben war, hatte sie ihre Wohnung aufgeben und in ein Heim gehen müssen. Sie konnte sich allein einfach nicht mehr versorgen. Natürlich hatte sie Kontakt zu ihrem Sohn, der mit seiner Familie in Eltville lebte, also ganz in der Nähe Wiesbadens. Aber die Verbindung war nicht übermäßig eng. Sie telefonierten hin und wieder, und ab und zu kam er mit seiner Frau und den Enkeln für ein paar Stunden zu Besuch. Nur an Weihnachten gestaltete sich die Situation ein bisschen anders. Vom schlechten Gewissen geplagt und mehr als halbherzig bot ihr Sohn ihr regelmäßig an, sie über die Feiertage zu sich zu holen. Aber darauf konnte sie nun wirklich verzichten. Das wäre nichts weiter als Heuchelei und Krampf gewesen. Nein, da erschien es ihr schon besser, gleich im Heim zu bleiben. Auch dort wurde Weihnachten gefeiert. Die Mitarbeiter gaben sich stets große Mühe, die Festlichkeit ansprechend zu gestalten. Der Speisesaal war weihnachtlich dekoriert; es wurde gesungen, die Pfarrer der beiden großen christlichen Kirchen kamen zu Wort – und dann war Schluss! Um spätestens 15.00 Uhr sollten alle auf ihren Zimmern sein, weil das Personal nach Hause wollte. Nur eine meist schlechtgelaunte Notbesetzung verblieb im Heim. So war es auch heute gewesen. Erst hatten diejenigen, die noch einigermaßen wegefähig waren, den Saal verlassen. Dann kümmerte sich das Personal um diejenigen, die irgendwie gestützt, geführt oder gefahren werden mussten. Sie hatte sich die Parade der Maroden, Halbdebilen und Totaldementen genau angesehen und gedacht, dass sie die Mitarbeiter nur zu gut verstehen konnte: Wenigstens an diesem Tag mal weg von diesen Gestalten! Deshalb hatte sie sich am späten Nachmittag aufgerafft und war mit einem der letzten Busse – der Linienverkehr wurde am 24. Dezember von 17.00 bis 22.00 Uhr eingestellt – in die Stadt gefahren und sich auf den Weg zur Marktkirche begeben; einer wunderbaren, aus Ziegelsteinen erbauten evangelischen Kirche im Herzen der Wiesbadener Innenstadt. Niemand hatte bemerkt, dass sie das Heim verlassen hatte. Selbstverständlich bestand für die Heimbewohner, sofern sie noch mobil und rüstig genug waren, kein Ausgehverbot. Aber die Leute sollten sich bei der diensthabenden Pflegekraft abmelden, um unnötige Aufregung zu vermeiden. Sie hatte aber keine Lust gehabt, der Pflegerin Bescheid zu sagen, zumal die nicht im Schwesternzimmer gesessen hatte, sondern irgendwo auf der Station unterwegs gewesen war. Sie wollte weder warten, bis die Frau wieder zurück war, noch sie suchen. Außerdem hätte sie sonst ihren Bus verpasst. Deshalb war sie einfach so gegangen, ohne sich abzumelden. Jetzt, nach dem Ende des Weihnachtsgottesdienstes, musste sie sich, wegen des eingestellten Busverkehrs, ein Taxi nehmen, um nach Hause zu kommen. Aber irgendwie hatte sie noch keine Lust. Leider hatte der Weihnachtsmarkt längst geschlossen, weil auch die Marktbeschicker in Ruhe ihren Heiligabend begehen wollten. Deshalb gab es nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu essen und nichts mehr zu trinken. Keinen Glühwein, keinen heißen Apfelwein, keine gebrannten Mandeln und kein Magenbrot. Nichts. Allein die Krippe mit den lebensgroßen Figuren direkt am Rathaus konnte noch ungehindert bestaunt werden. Also ging sie dort hin und bewunderte in Ruhe und Ausgiebigkeit – Zeit und Muße hatte sie schließlich mehr als genug – das Christuskind, Maria und Josef, die Hirten und die Tiere, die eigentlich in dem Stall lebten, den sie jetzt mit diesem Jesus und seinen diversen Gästen teilen mussten; ob sie nun wollten oder nicht. „Na, Oma, wie wär’s mit ein bisschen Weihnachtsgeld für die drei Weisen aus Wiesbaden?“ Eine schwere Hand krachte auf ihre Schulter. Entsetzt und zugleich voller Schrecken blickte sie auf. Großer Gott! Dem Kerl hätte sie nicht einmal am helllichten Tag auf einem Polizeirevier begegnen mögen, so furchteinflößend sah der aus. Er trug eine grüne Bomberjacke, darunter einen Kapuzenpulli und auf dem Kopf eine Kappe, deren Schirm in seinem Nacken hing. Sein Gesicht war das eines brutalen, rücksichtslosen und ordinären Schlägers, der vor nichts zurückschreckte. Flankiert wurde er von einer jungen Frau, die keinen Deut vertrauenerweckender aussah. Gleiches galt für den dritten im Bunde, einen Burschen, der garantiert noch ein Teenager war und an einem solchen Tag wie heute, also am Weihnachtsabend, eigentlich mit Mama und Papa vor dem Tannenbaum sitzen und Geschenke auspacken sollte. „Ich habe nicht viel,“ krächzte sie, „höchstens 50 Euro.“ „Dann lass mal rüberwachsen, Oma,“ forderte der Schläger. „Und guck‘ nach, ob du nicht doch noch mehr in der Tasche hast. Wär‘ nicht gut für dich, wenn ich herausfinde, dass du uns bescheißen willst, Alte.“ Vor lauter Angst und Aufregung zitterten ihre Finger so sehr, dass sie ihre Handtasche nicht aufbekam. „Gib her, Oma,“ sagte die Frau, „die Tasche brauchst du sowieso nicht mehr.“ Die junge Frau zerrte ihr die Tasche vom Arm. Dadurch geriet sie ins Wanken und wäre beinahe gefallen. Lieber Gott, dachte sie, nun habt ihr doch, was ihr wolltet. Jetzt verschwindet doch einfach! Haut um Gottes Willen endlich ab, und lasst mich in Ruhe! Doch den Gefallen taten ihr die drei nicht. Stattdessen durchforsteten sie in aller Ruhe ihre Handtasche, leerten das Portemonnaie aus, in dem sich tatsächlich nicht mehr als 50 Euro und ein wenig Kleingeld befanden, und inspizierten schließlich ihre Brieftasche, in der sie ihren Personalausweis, ihre Gesundheitskarte, die Terminliste für die nächsten Behandlungen beim Physiotherapeuten, ein paar Familienfotos, ein kleines Adressbuch und einige Karten aufbewahrte, die sie im Heim für dies und das benötigte. „Komm, Oma, mach‘ nicht einen auf arm und doof. Wo ist deine Kreditkarte? Wenigstens eine EC-Karte wirst du doch haben, hä?“ Sie schüttelte den Kopf. „Habe ich nicht, wirklich. Ich lüge nicht.“ „Die Oma hat aber Verwandtschaft. Guck mal hier. Ein Söhnchen und ein paar Enkelchen,“ sagte die junge Frau und wedelte mit den Fotos, die sie in der Brieftasche gefunden hatte. „Die wollen doch bestimmt ihre liebe Oma unversehrt wiederhaben, meint ihr nicht?“ „Voll krasse Idee, echt!“ rief der Teenager und klopfte der jungen Frau bewundernd auf den Rücken. „Wir entführen die Oma und erpressen die Family! Megageil!“ „Das ist wirklich super!“ sagte der Schläger. „Das machen wir!“ Das war zu viel für sie. Sie spürte, wie ihr schwarz vor Augen wurde, und die Beine unter ihr wegsackten. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer Matratze, die zum Gotterbarmen stank und mit einem fleckigen Laken bezogen war. Das ganze Zimmer roch muffig. Die Tapeten waren alt und an den Nähten aufgeplatzt. Mobiliar gab es kaum. Nur die Matratze, auf der sie lag, ein Sofa, einen Stuhl und einen wackeligen Tisch. Und auf dem stand – und darüber staunte sie wirklich und wahrhaftig nicht schlecht! – ein abgrundtief hässlicher, bunt blinkender Plastikweihnachtsbaum, der sich in einer Tour drehte und sowas ähnliches wie „Jingle Bells“ plärrte! Daneben flackerte eine Kerze, die in einem ziemlich kitschig bemalten Glas mit pseudo-weihnachtlichen Motiven stand. Selbst Leute wie ihre Entführer wollten es anscheinend ein wenig weihnachtlich haben. „Na, Oma, wieder da?“ fragte der Schläger, der neben ihrer Matratze hockte und Glühwein Marke „Christkindl“ direkt aus der Flasche trank. „Sag mal, was hast du denn eigentlich für einen Kacksack von Sohn?“ wollte...